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Vorwort

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Epameroi· ti de tis; ti d’ ou tis; skiâs onar anthrōpos, Pindar, Ode VIII, 95.

... ipse autem homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum – nullo modo perfectus, sed quaedam particula perfecti, Cicero, ND II, 37.

Die Stoa war eine der bedeutendsten philosophischen Schulen der Antike. Sie übte vom dritten vorchristlichen bis zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert einen überragenden geistigen Einfluss auf die Welt des Hellenismus, der späten römischen Republik und des frühen Kaisertums aus. Auch die ersten christlichen Autoren konnten sich ihm in der Formulierung ihrer Botschaft und im Für und Wider des philosophischen und religiös-theologischen Diskurses nicht entziehen. Sie wirkte über das Mittelalter, verstärkt über Renaissance, Frühe Neuzeit und Aufklärung bis in die Moderne weiter, und dies, obwohl so gut wie alle Originalschriften der ersten drei Jahrhunderte verlorengegangen waren,1 und nur wenige stoische Texte eher popularphilosophischen Inhalts aus der späteren Phase der Schule den Zerfall des Imperium Romanum überdauert hatten. Sie entfaltete auf verzweigten, zum Teil recht unübersichtlichen Wegen, in mannigfachen Brechungen und Transformationen nicht nur auf den zentralen Gebieten der Sprachphilosophie und Logik, der Naturphilosophie und Theologie, der Ethik und Politik ihre Wirkung. Sie drückte namentlich seit der Wiedererweckung der antiken Kultur in Renaissance, Humanismus und Aufklärung ihre Spuren in die Werke der Literatur und Kunst, aber auch in die Projekte, Überlegungen und Entscheidungen der praktischen Politik. Wie neuere Publikationen eindrucksvoll belegen, ist das Interesse an der durchdringenden Wirkung der stoischen Philosophie in der abendländischen Geistesgeschichte ungebrochen.2

Mit dem Wort „stoisch“ verbinden wir heute Vorstellungen von Seelenstärke, Gefühlskontrolle und Schicksalsergebenheit. In der philosophischen und theologischen Ethik ebenso wie in der (kognitiven) Psychologie der Gegenwart finden Versuche Verbreitung und Zuspruch, die Philosophie der Stoa für die Anweisung und Einübung in eine aktuelle Lebenskunst fruchtbar zu machen.3 Dies hat insofern seine plausible Erklärung und Berechtigung, als die Stoiker selbst in ihrer Philosophie eine Kunst zu leben begründet sahen, und ohnehin aller Beschäftigung mit philosophischen Entwürfen der Vergangenheit auch ein Interesse daran innewohnt bzw. innewohnen sollte, was diese uns heute noch zu sagen haben. Dabei verwundert es nicht, dass die antike Vorstellung von Philosophie als Lebensform, die sich in Theorie und Praxis ausdrückt, in Zeiten wie unseren, die verstärkt nach Orientierung und Lebenshilfe verlangen, wieder an Attraktivität gewinnt.

Eine direkte Umsetzung der stoischen Philosophie in unsere Alltagspraxis dürfte allerdings aus verschiedenen Gründen schwierig sein. Setzt die Praxis stoischer Lebenskunst doch einerseits ein Weltbild und Selbstverständnis voraus, das den meisten von uns etwas fremd erscheinen mag. Und fordert sie doch andererseits eine Einstellung zu den verlierbaren Gütern des Lebens, die so gut wie all dem widerspricht, was der globale Markt der vorherrschenden Gegenwartskultur an vermeintlich Notwendigem, Befriedigendem und Beglückendem anbietet. Zudem lastet auf ihr seit den Anfängen des Christentums die Diagnose, dass ihr praktisches Ideal der Weisheit den Menschen überfordert bzw. Ausdruck eines Stolzes ist, der in den Augen Gottes als überhebliche Torheit zu gelten hat.4 Jedenfalls dürfte auch vielen Heutigen, die zwar der christlich-eschatologischen Gnaden- und Erlösungsbotschaft fernstehen, den armen, leidenden und irrenden Menschen in diesem Leben aber in vielfacher Hinsicht als hilfs-, stützungs- und betreuungsbedürftig betrachten, die stoische Anforderung an geistig-charakterliche Selbstbildung als zu hart und abwegig, wenn nicht gar an die Grenze des Inhumanen rührend erscheinen.

In der neueren Stoaforschung findet allmählich die Einsicht allgemeine Zustimmung, dass die Philosophie der Stoa in der (naturphilosophisch-pantheistischen) Theologie ihre geistige Mitte hat.5 Der Antike war dies, wie Plutarch es für Chrysipp nolens volens bezeugt,6 noch selbstverständlich. Die Theologie stützt ihren Gedanken einer kausal vollkommen vernetzten und teleologisch durchgeordneten Welt. Sie stützt das Vertrauen des Stoikers, als kleiner und doch privilegierter Teil des der Welt immanenten göttlichen Geistes durch dessen umfassende Vorsehung gefordert und geborgen zu sein. Sie stützt sein Vertrauen, dass alles Schlechte von der göttlichen Weltverwaltung letztlich in ein sinnvolles Gesamtgeschehen integriert ist oder wird. Dieses fundamentale Vertrauen setzt seine zuversichtliche Aktivität in der Welt frei und gibt ihm zugleich die völlige Gelassenheit gegenüber dem Erfolg oder Misserfolg seines Bemühens. Es motiviert seinen Versuch, über Sprachphilosophie, Logik und Erkenntnistheorie die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes zu ergründen, die göttlichen Ordnungsmuster und Zeichen der Natur zu erforschen, und in Theorie und Praxis die Wirksamkeit des göttlichen Geistes in seiner Person und ihrem Leben darzustellen.

Die stoische Philosophie als aktuelle Lebenskunst direkt fruchtbar zu machen, setzte voraus, dass die Grundzüge einer pantheistischen Weltsicht mit dem entsprechenden anthropologischen Selbstverständnis revitalisierbar sind. Die stoische Theologie war Teil einer weitgehend spekulativen Naturphilosophie, die freilich den Kontakt zur Naturwissenschaft ihrer Zeit nicht scheute, ja, in der Person des Poseidonios selbst auf breiter Ebene empirisch wissenschaftlich tätig war. Eine Wiederbelebung stoischer Philosophie und Lebensweise müsste jedenfalls der Möglichkeit entsprechen, die gesicherten Erkenntnisse unserer gegenwärtigen Naturwissenschaften mit einer pantheistischen Weltsicht in Einklang zu bringen. Man mag daran zweifeln oder darauf setzen, dass dies der Theorie und dem Lebensgefühl nach (noch oder wieder) möglich ist.

Wie dem auch sei. Die Philosophie der Stoa verdient auch unabhängig davon unsere Aufmerksamkeit. Zunächst sollte ja auch allemal ein rein historisches Interesse für eine Philosophie und geistige Bewegung gerechtfertigt sein, die in der abendländischen Geschichte eine so bedeutende und nachhaltige Rolle gespielt hat. Ferner bieten viele ihrer Lehrstücke noch ganz umstandslos hochaktuelle Grundlagen systematischer philosophischer Diskussion, wie etwa zu Themen über Schicksal und Verantwortung, Determinismus und Willensfreiheit, Glück und menschliches Elend, natürliche und moralische Entwicklung, Emotionalität, Affektkontrolle oder Affektfreiheit, Naturverhältnis und Kulturkritik, Naturgesetz und praktisches Gesetz, Norm- und Situationsgerechtigkeit, Gottesbeweise und Theodizee, und, nicht zuletzt über Sprachphilosophie, Logik und Erkenntnistheorie. Sehr viele Beiträge gegenwärtiger philologisch-philosophischer Stoa-Forschung sind denn auch von systematischen Fragen und Gesichtspunkten und vorherrschender analytischer Methodik geleitet.

Die Philosophie der Stoa lässt sich nur noch umrisshaft und in groben Zügen rekonstruieren. Nach dem Verlust der Originaltexte der frühen und mittleren Schulphase sind wir auf verstreute fragmentarische Zitate und auf doxographische Berichte und Auseinandersetzungen verwiesen. Die heute verfügbaren, durchaus verdienstvollen Fragmentsammlungen (und ihre Übersetzungen) bringen ihre eigenen methodischen Probleme der Identifikation, Selektion, Gewichtung und Anordnung mit sich.7 Den Originalzitaten fehlt allemal der ursprüngliche Textzusammenhang und nicht selten die Gewähr ihrer tatsächlich originalen Form. Die Zuverlässigkeit der doxographischen Berichte hängt ab von der Einstellung, der Intention und sachlichen Kompetenz des Autors. Vieles, was wir von der stoischen Philosophie wissen oder zu wissen meinen, stammt von Autoren, die sich einer konkurrierenden philosophischen Richtung verpflichtet fühlen oder gar gegen stoische Gedanken polemisieren. Man muss damit rechnen, dass ihre Berichte, Zusammenfassungen und Verarbeitungen die stoische Lehre verkürzen, einseitig darstellen und verformen. Das gilt in unterschiedlichem Maß von so gewichtigen Zeugen wie Plutarch, Galen, Sextus Empiricus, Alexander von Aphrodisias oder Clemens von Alexandrien. Ian Kidd hat etwa im Fall der Schrift De stoicorum repugnantiis für einige Stellen beispielhaft nachgewiesen, wie Plutarch hier Zitate aus stoischen Quellen für seine polemischen Zwecke manipuliert.8

Die breit gefächerte und intensive Forschung der letzten Jahrzehnte hat Eminentes zur Klärung und Differenzierung des Bildes der stoischen Philosophie beigetragen. Die vorliegende Abhandlung versucht, auf der Basis einer kritischen Sichtung dieser Forschung die über die ersten Jahrhunderte weitgehend im schulischen Konsens, zum Teil freilich auch kontrovers erarbeitete und vertretene stoische Doktrin in Logik, Physik und Ethik nachzuzeichnen. Dabei leitet mich die Überzeugung, dass, auch wenn das Primärmaterial fragmentarisch ist und die doxographischen Berichte teilweise die authentische stoische Lehre verzerren, gleichwohl die Grenze zwischen sorgfältiger Interpretation und eigenmächtiger Rekonstruktion zu wahren möglich ist. Natürlich bleibt auch meine Darstellung von der gewaltigen Menge des Stoffes und der Begrenztheit der eigenen Perspektive und Kenntnisse nicht unbeeinträchtigt. Zum Ausgleich ist dem Text ein umfassendes und differenziertes Literaturverzeichnis beigefügt, das dem Leser den gegenwärtigen Stand der Stoa-Forschung bibliographisch dokumentiert und ihm anhand der Titel eine Hilfe für weiteres Studium bieten soll. Das einleitende Kapitel über die Geschichte der Schule ist bewusst kurz gehalten. Wer über sie und die noch fassbaren biographischen Details ihrer Vertreter mehr erfahren möchte, sei auf die eingehendere Darstellung von Peter Steinmetz 1994 und die ausführlichen Personenartikel des ‚Alten Pauly‘ verwiesen.

Die Kollegen Christian Thiel und Gerhard Ernst haben Teile, Severin Koster hat das gesamte Manuskript gelesen. Ihnen sei herzlich für ihre wertvollen Hinweise gedankt.

Gewidmet ist das Buch meiner Familie.

Marloffstein/Erlangen im September 2017

1 vgl. dazu Gourinat 2005b, 13–28.

2 vgl. etwa Strange, Zupko (eds.) 2004; Neymeyr, Schmidt, Zimmermann (Hrsg.), 2 Bde. 2008.

3 vgl. etwa Pies 2008, Irvine 2009, Sellars 22009, Robertson 2013, Ernst (Hg.) 2016.

4 vgl. Paulus, 1 Kor. 1, 18–31.

5 vgl. Forschner (1981) 21995, 245–261; D. Frede 2002, 112ff.; Inwood 2002, 120; M. Frede 2005, 213; Dienstbeck 2015.

6 vgl. Stoic. rep. 1035 A F.

7 vgl. dazu Most (ed.) 1997; Burkert, Gemelli, Matelli and Orelli (eds.) 1998.

8 Kidd 1998, 288–302.

Die Philosophie der Stoa

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