Читать книгу Die Philosophie der Stoa - Maximilian Forschner - Страница 18
4. Die Aussage (axiōma)
ОглавлениеWas die Stoiker unter einer Aussage (axiōma) verstanden, galt vielen in der Antike als dunkel.136 Eine mehrfach belegte Standarddefinition lautet: Eine Aussage sei „ein vollständiges lekton/prâgma, das, soweit es an ihm liegt, eine Behauptung zulässt (lekton autoteles apophanton hoson eph’ heautô)“.137 Diogenes Laertius erwähnt auch eine zweite, kürzere Formel: „Ein axiōma ist das, was, soweit es an ihm liegt, verneint oder bejaht werden kann (axiōma esti to apophanton ē kataphanton hoson eph’ heautô)“.138 In der Suda sind beide Formeln zu einer zusammengefügt: Ein axiōma sei „eine vollständige Sache, die, soweit es an ihr liegt, verneint oder bejaht werden kann (prâgma autoteles apophanton hoson eph’ heautô ē kataphanton)“.139 Die erste Formel hebt auf die Unterscheidung von vollständigem und unvollständigem lekton ab und betont seine Behauptbarkeit. Die zweite Formel löst die Behauptbarkeit in die Arten der Verneinung und Bejahung auf und scheint zu insinuieren, dass sich das Merkmal der Vollständigkeit bei dem, was bejaht oder verneint werden kann, von selbst versteht, sodass es nicht mehr explizit angeführt zu werden braucht. In allen drei Formeln taucht die Wendung „soweit es an ihm liegt“ (hoson eph’ heautô) auf. Ihre Bedeutung mag dunkel erscheinen; doch sie liegt bei adäquatem Verständnis dessen nahe, was ein lekton ist. Dieses ist etwas vom Verstand Erfassbares, Denkbares und Sagbares, ohne jedoch von einem Subjekt erfasst, gedacht oder gesagt werden zu müssen, um zu sein, was es ist.140 Ob man so weit gehen kann, das lekton „als etwas Nicht-Körperliches, das an verschiedenen Körpern besteht“ zu bestimmen,141 scheint fraglich, dürften die Stoiker doch rein logische oder mathematische Sachverhalte auch zu den lekta gezählt haben. Doch vielleicht haben auch sie für die Stoiker nur an Körperlichem ihren Anhalt. Ein lekton qua Aussage kann behauptet werden; es ist selbst keine Behauptung.142 Es ist etwas, was seiner objektiven Möglichkeit nach vorliegt und einem Subjekt zum Behauptetwerden zur Verfügung steht, falls dieses sich in den Umständen befindet, die Voraussetzungen erfüllt und die Leistungen erbringt, um es zu erfassen, zu denken und zu behaupten.143
Am Aspekt der subjektiven Leistung, am mentalen Akt richtet sich der Name für die Sache aus: ‚Axiōma‘ meint (positive) Schätzung; Aussagen werden positiv geschätzt (axioûsthai), d.h. bejaht, oder negativ geschätzt (atheteîsthai), d.h. verneint.144 Der Name könnte zum Missverständnis der Sache führen. Die Theorie unterscheidet präzise zwischen fünf verschiedenen Faktoren dessen, was eine Behauptung ausmacht: (a) die denk-, sag- und behauptbare Sache (axiōma, lekton, prâgma), die (b) einer verstandesmäßigen Vorstellung entsprechend vorliegt (kata phantasian logikēn hyphhistamenon)145 und sich (c) auf Dinge in der Welt (tyngchanonta, ta ektos hypokeimena)146 bezieht, die (d) den Gegenstand der Behauptung (des axioûn ē atheteîn) bildet, der Behauptung, die (e) vom Verstand in einem vernehmbaren, bedeutungsvollen (assertorischen) Satz geäußert wird (logos de esti phōnē sēmantikē apo dianoias ekpempomenē).147
Nicht leicht verständlich dürfte auch folgende, von Sextus referierte Kennzeichnung (gewesen) sein: „Sie sagen, ein wahres axiōma sei das, was vorliegt (hyparchei) und im Gegensatz zu etwas steht (antikeîtai tini), während ein falsches nicht vorliegt und im Gegensatz zu etwas steht“.148 Nun ist klar: Jeder Satz, der wahr ist, steht im Gegensatz zu einem anderen, nämlich demjenigen, der falsch ist, wenn er wahr ist; und jeder Satz, der falsch ist, steht im Gegensatz zu einem anderen, nämlich demjenigen, der wahr ist, wenn er falsch ist.149 Was aber besagt das ‚hyparchein‘? Ist mit ‚hyparchein‘ nur das Wahr-sein gemeint (der ‚veritative‘ Sinn von ‚sein‘)? Oder dies, dass im wahren Satz das Prädikat dem Subjekt zukommt (der ‚prädikative‘ bzw. kopulative Sinn von ‚sein‘)? Oder dies, dass wahre Sätze real Existentes darstellen, während falsche Sätze von nichts reden? (der Existenzsinn von ‚sein‘)? Nun ist in stoischen Texten hyparchein im Sinn von „existieren“ eigentlich dem Materiellen bzw. materiell Zugrundeliegenden (to hyparchon)150 vorbehalten, während Unkörperliches als ein Bereich von Entitäten eigener Art anzusehen ist, deren „Sein“ in der Regel mit hyphhistasthai beschrieben wird;151 doch kommt hyparchein auch im prädikativen Sinn von „zukommen“152 ebenso wie im veritativen Sinn von „der Fall sein“ vor.153 Ferner wird hyphhistasthai gelegentlich auch auf Materielles bezogen.154 Nun meint das obige Zitat, dass eine Aussage „vorliegt“ bzw. „existiert“, wenn das Prädikat (das katēgorēma) dem Träger „zukommt“, das Prädikat mag eine (episodische) Handlung, einen Vorgang, einen Zustand oder eine (relativ konstante) Qualität beinhalten. Doch während für Aristoteles das „Zukommen“ besagt, dass etwas unter einen Begriff fällt bzw. dass ein Begriff auf etwas zutrifft, ist das „Zukommen“ bzw. „Zutreffen“ von etwas für den Stoiker realistisch zu verstehen. Aristoteles spricht (zumeist) von Begriffsverhältnissen, die Stoa (immer) von Existenzverhältnissen. Eine Aussage „existiert“, wenn sie wahr ist, das heißt für die Stoa: Sie trifft Wirkliches, sie stellt etwas Reales in der Welt dar, während eine falsche Aussage „nicht existiert“, weil sie nichts sagt, was in der Welt da ist bzw. der Fall ist.
So erklärt sich, was die Stoa meint, wenn sie sagt, Aussagen seien teils vergänglich, teils unvergänglich (phtharta kai aphtharta)155 und, es gebe Aussagen, die ihren Wahrheitswert ändern (metapiptonta).156 Wahrsein und Falschsein sind in stoischem Verständnis also zeitliche (permanente oder vergängliche) Eigenschaften von Aussagen.157
Wie ist das zu verstehen? Nun: Aussagen sollen etwas sein, „was man meint, wenn man einen entsprechenden Satz verwendet, um eine Behauptung aufzustellen“.158 Und „eine Aussage ist das, was entweder wahr oder falsch ist“.159 Man kann nur etwas behaupten, was entweder wahr oder falsch ist. Aussagen können ihren Wahrheitswert ändern besagt dann: Die Aussage „es ist Tag“ ist wahr, wenn es Tag ist; sie ist falsch (geworden), wenn es Nacht ist.160 Die Aussage „Dion wird leben“ geht vom Wahr-sein ins Falsch-sein über, wenn Dion dabei ist, zu sterben.
Die Veränderung des Wahrheitswerts einer Aussage ist das eine, der Untergang einer Aussage ist etwas anderes. Eine (deiktische) Aussage ist untergegangen, ist zerstört, wenn der (einzelne und einzige) Gegenstand, von dem in ihr die Rede ist, vernichtet ist bzw. sich aufgelöst hat. Deiktische Aussagen sind nach stoischem Verständnis als solche an die Existenz des Gegenstandes gebunden, auf den sie verweisen. Die Stoa scheint die Veränderung des Wahrheitswerts einer Aussage deshalb vom Zerstörtsein einer Aussage unterschieden zu haben. Die Aussage „dieser ist tot“, von Dion gesagt, solange er lebt, ist falsch; von ihm nach seinem Tod gesagt, ist zerstört, da der so Bezeichnete nicht mehr existiert.161 Deiktische Aussagen sind als wahre, als „existente“ daran gebunden, dass der Gegenstand, von dem die Rede ist, dem, der sie denkt und äußert (und vernimmt), im Wahrnehmungsfeld präsent ist und gezeigt werden kann. Sie sind als solche, als Gegenstände einer möglichen Behauptung daran gebunden, dass das Objekt als Zeigbares existiert; sie sind zerstört, wenn der Gegenstand als solcher nicht mehr existiert. Aussagen mit Eigennamen dagegen sind, als solche, nicht an die deiktische Gebrauchssituation gebunden; sie können ihren Wahrheitswert ändern, insofern sie von Veränderlichem handeln. So ändert die Aussage „Dion lebt“ ihren Wahrheitswert, wenn Dion tot ist, doch sie bleibt, wenngleich als falsche und „inexistente“, als Gegenstand einer möglichen Behauptung, bestehen.162 Jemand, der vom Tod Dions noch nicht weiß, kann im Gespräch sinnvoll, wenngleich fälschlich behaupten, dass Dion noch lebt.
Neben ihrer allgemeinen Bedeutung gehören für manche Aussagen also die Umstände der Äußerung zu ihrer Identität. Für manche Aussagen unterscheidet sich die Angabe der Wahrheitsbedingungen nicht von der Angabe ihrer allgemeinen Bedeutung. Solche Aussagen sind unvergänglich und immun gegenüber einer Veränderlichkeit des Wahrheitswertes. Nur solche sind einer möglichen Veränderung ihres Wahrheitswertes ausgesetzt, für die die Umstände ihrer Äußerung zu ihrer Identität gehören. Doch wenn eine Aussage ihren Wahrheitswert ändern kann, dann können nicht alle Umstände der Äußerung, die neben ihrer allgemeinen Bedeutung für ihr Wahrsein oder Falschsein relevant sind, zu dem gehören, was sie als diese bestimmte Aussage ist. Alle Aussagen, von denen wir wissen, dass sie nach stoischer Auffassung ihren Wahrheitswert ändern können, sind solche mit „verwendungsreflexiven Zeitangaben“, die mittels der Tempusinflektion oder adverbieller Bestimmungen (wie „früher“, „später“, „morgen“ „gestern“ etc.) gebildet werden.163 Es sind dies Aussagen, die etwas besagen, was man mit einer verwendungsreflexiven Zeitangabe meinen könnte und „was man unter Verwendung desselben Aussagesatzes immer noch meinen könnte, falls man es einmal gemeint haben sollte“.164 So könnte jemand (wahrheitsgemäß) der Meinung sein, dass „in Bälde“ eine Seeschlacht stattfinden werde, und eben dieser Meinung, weil er von dem Ereignis nicht erfuhr, (fälschlicherweise) immer noch sein, auch wenn sie inzwischen bereits stattgefunden hat; es handelte sich um dieselbe Aussage, eine Aussage, die allerdings ihren Wahrheitswert geändert hat.
„Die Aussage ist das, was wahr oder falsch ist“.165 Die Stoa vertritt das Prinzip der Bivalenz der Aussagen: Alle Aussagen sind entweder wahr oder falsch; ein Drittes gibt es nicht.166 Nach Cicero167 ist es für die Stoa ein fundamentum dialecticae. Was ihr ein Fundament war, schien manchen in der Antike durchaus zweifelhaft. Der Skeptiker Cicero liefert (ebd.) eines der Argumente gleich mit, die gegen das Prinzip ins Feld geführt wurden: das Paradox vom Lügner, der sagt, dass er lüge. Auf der anderen Seite stand da das Problem von Aussagen über Künftiges. Wird dieses als durch Gegenwärtiges nicht determiniert verstanden, müssen Aussagen über Künftiges dann nicht als offen, als weder wahr noch falsch erachtet werden? Genau so hat nach Auffassung der Stoiker Aristoteles in De interpretatione 9 die Sache gesehen. Für die Stoa galt das Bivalenzprinzip universell, also auch für Aussagen über Künftiges. Sie verband dies mit einem universellen Determinismus und einem starken Wahrheitsbegriff, nach dem die Wahrheit einer zukunftsbezogenen Aussage an das gegenwärtige Vorliegen zureichender (kausaler) Bedingungen für das Eintreten des prognostizierten Ereignisses gebunden ist.168 Menschliche Freiheit suchte sie gleichwohl über eine differenzierte Modalitätstheorie und Ursachenlehre zu retten.169
Das Lügner-Paradox hat Chrysipp offensichtlich intensiv beschäftigt; er widmete ihm eine Reihe von Abhandlungen.170 Der prägnante Wortlaut des Paradoxes dürfte bei Cicero171 wohl so gelautet haben: Si te mentiri dicis idque verum dicis, mentiris, <et si te mentiri dicis idque mentiris>, verum dicis.172 Man mag entscheiden, so man es könnte, ob der Lügner lügt oder die Wahrheit sagt. In beiden Fällen scheint die vom Lügner gemachte Aussage sowohl wahr als auch falsch zu sein. Dieser Auffassung war wohl Aristoteles.173 Auch gegen sie hat Chrysipp einen Text verfasst.174 Seine Argumentation ging dahin, dass Aussagen dieser Art keiner Erklärung zugänglich seien und für sie kein Kriterium zu finden sei, nach dem man entscheiden könne, ob sie wahr oder falsch seien;175 die Geltung des Bivalenzprinzips könnten sie nicht erschüttern.