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6. Nicht-einfache Aussagen

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Diogenes Laertius präsentiert eine stoische Liste nicht-einfacher Aussagen (tôn ouch haplôn), die sieben Arten enthält:197 die implikative bzw. konditionale Aussage (to synēmmenon), die subimplikative bzw. subkonditionale (to parasynēmmenon), die konjunktive (to sympeplegmenon), die disjunktive (to diezeugmenon), die kausale (to aitiôdes), schließlich die ein Mehr (to diasaphoûn to mâllon) und die ein Weniger aufweisende (to diasaphoûn to hêtton).

Die implikative bzw. konditionale Aussage sei nach Chrysipp und Diogenes von Babylon mit der verbindenden Partikel „Wenn (ei)“ gebildet, und diese zeige an, dass das Zweite aus dem Ersten folge (ako-loutheîn), wie z.B. „Wenn es Tag ist, ist es hell“. Die subimplikative bzw. subkonditionale Aussage sei nach Krinis mit der Partikel „Da (epei)“ gebildet, verkünde, dass das Zweite aus dem Ersten folge (akoloutheîn) und dass das Erste bestehe (hyphestanai), wie z.B. „Da es Tag ist, ist es hell“. Die konjunktive sei mit „Und“ bzw. „Sowohl als auch (kai-kai)“ verbunden („Und es ist Tag, und es ist hell“), die disjunktive mit „Entweder-Oder (ētoi-ē)“ („Entweder es ist Tag oder es ist Nacht“), die kausale mit „Weil“ bzw. „Deshalb-weil (dihoti)“ („Weil es Tag ist, ist es hell“), und die verknüpfenden Partikel der ein Mehr oder Weniger aufweisenden (der sog. dissertiven) Aussagen seien „Mehr-als (mâllon-ē)“ („Es ist mehr Tag als es Nacht ist“) und „Weniger-als (hêtton-ē)“ („Es ist weniger Nacht als es Tag ist“). Die Verbindungspratikel (aus einem oder mehreren Teilen bestehend), der „Junktor“ ist ein undeklinierbares Teil des Satzes, der seine Teile verbindet.198 Bei allen Aussagenarten ist, wie die Beispiele belegen, die regierende Verbindungspartikel an den Anfang des Satzes gestellt, um sprachlich-syntaktisch die spezifische logische Form der Aussage anzuzeigen und zu signalisieren, dass die Reichweite des logischen Operators sich auf die gesamte nicht-einfache Aussage bezieht. Damit werden Mehrdeutigkeiten vermieden.199 Auf Chrysipp geht, soweit dies erkennbar ist, die Bestimmung von nur drei der nicht-einfachen Aussagen (der konditionalen, konjunktiven und disjunktiven) zurück.

Nicht-einfache Aussagen können aus mehr als aus zwei einfachen Teilaussagen zusammengesetzt sein.200 Zum einen können die konstitutiven Teilaussagen einer nicht-einfachen Aussage ihrerseits komplex sein, wie z.B. „Wenn es Tag ist und die Sonne über der Erde steht, dann ist es hell.“ Zum anderen können Konjunktionen und Disjunktionen aus mehr als zwei Gliedern bestehen: „Entweder Reichtum ist gut oder Reichtum ist schlecht oder Reichtum ist indifferent“.201

Die Implikation (die Konditionalaussage „Wenn-dann“) war zur Zeit der Alten Stoa unter ‚Logikern‘ ein vieldiskutiertes Thema.202 Umstritten war, wie die Folgebeziehung (das akoloutheîn) zwischen den konstitutiven Teilsätzen der Implikation zu interpretieren ist. Nach einem Epigramm des Kallimachos konnten die Raben auf den Dächern das Kriterium Diodors für eine gültige Implikation rezitieren.203 Uns sind drei verschiedene Kriterien aus dieser Diskussion überliefert; zwei sind mit den Namen der Dialektiker Diodor und Philon verknüpft, das dritte ist mit den Stoikern verbunden. Zenon von Kition hat mit Philon bei Diodor studiert; die stoische Auffassung lässt sich als (eigenständige) Antwort auf die Diskussion unter den Dialektikern verstehen. Philons These laute, dass die Konditionalaussage „gesund (hygies)“ bzw. „wahr (alēthes)“ sei, „wenn sie nicht mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet“.204 Diodors Auffassung laute, eine Implikation sei wahr, wenn „es weder möglich war noch möglich ist, dass sie mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet“.205 Eine dritte Position verträten jene, „die die Verbindung (synartēsis) einführen“. Nach ihrer Auffassung ist eine Konditionalaussage wahr, „wenn der kontradiktorische Gegensatz (to antikeimenon) des Succedens (lêgon) mit dem Antecedens (hēgoumenon) unverträglich ist (machetai)“.206 Genau diese Formel wird bei Diogenes Laertius (VII, 73) im Kontext der Auffassung der Stoiker (Chrysipp und Diogenes von Babylon) referiert. Philon und Diodor vertreten eine wahrheitsfunktionale Deutung der Implikation: Der Wahrheitswert der Implikation ist eine Funktion der Wahrheitswerte der einfachen Aussagen, die die Implikation bilden. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass Philon bei wahren Implikationen eine Veränderung des Wahrheitswerts (in der Zeit bei gleichbleibendem Wortlaut der Implikation) akzeptiert und Diodor dies ablehnt. Die diodorisch wahre Implikation ist demnach eine zu jeder Zeit philonisch wahre Implikation.207

Was die Stoiker motivierte, ein eigenes Verständnis der Implikation zu entwickeln, machen die bei Diogenes Laertius (VII, 73) referierten Beispiele klar. Das positive Beispiel lautet: „Wenn es Tag ist, ist es hell.“ Der kontradiktorische Gegensatz des Succedens (ouchi phôs) wäre mit dem Antecedes (hēmera estin) unverträglich; die Konditionalaussage ist wahr. Das negative Beispiel lautet: „Wenn es Tag ist, geht Dion umher“. Hier ist der kontradiktorische Gegensatz des Succedens sehr wohl mit dem Antecedens verträglich; die Konditionalaussage ist demnach falsch. Was die Stoiker also für eine wahre Implikation verlangen, ist ein logischer bzw. sachlicher (oder auch ein manifester empirischer)208 Zusammenhang (synartēsis) zwischen Antecedens und Succedens, der bei einer bloß wahrheitsfunktionalen Interpretation der Implikation nicht bestehen muss. Sie wollten offensichtlich die Paradoxien des bloß wahrheitsfunktionalen Verständnisses vermeiden.209

Nach Philon (und dem heute üblichen Verständnis der materialen Implikation) sind drei der möglichen Wahrheitswertkombinationen wahr (WW, FF, FW) und nur eine falsch (WF). Nach alltäglichem Verständnis paradox erscheint dabei zum einen, dass ein falscher Antecedens einen beliebigen Succedens implizieren und zum anderen, dass eine wahre Aussage in einem beliebigen Antecedens impliziert sein soll. Dem stoischen Konzept der Konditionalaussage entsprechend „folgt das Wahre aus dem Wahren, wie z.B. aus „Es ist Tag“ das „Es ist hell“, das Falsche aus dem Falschen, wie z.B. aus „Es ist Nacht“ das „Es ist dunkel“ und das Wahre aus dem Falschen, wie z.B. aus „Die Erde fliegt“ das „Die Erde existiert“, während aus Wahrem nicht Falsches folgt; denn aus „Die Erde existiert“ folgt nicht „Die Erde fliegt“.210 Wenn hier davon die Rede ist, dass das Falsche aus dem Falschen folgt, so ist damit nicht gemeint, dass aus einer beliebigen falschen Aussage etwas beliebig Falsches folge. Vorausgesetzt ist vielmehr dies, dass der (bei Tag geäußerte) Satz „Es ist Nacht“ falsch ist. Aus dem falschen Satz folgt (korrekterweise) der Satz „Es ist dunkel“; entsprechend falsch ist er unter den Umständen seiner Äußerung.

Die subimplikative Aussage (to parasynēmmenon) geht auf Krinis zurück. Dieser (sonst nicht weiter bekannte stoische Logiker) schrieb ein Buch über die Kunst der Dialektik.211 Nach seiner Bestimmung wird sie mit dem Junktor „Da (epei)“ gebildet und ist genau dann wahr, wenn „Wenn p, dann q“ wahr ist und wenn „p“ wahr ist.212 Beansprucht ist hier ein Zweifaches: dass q aus p folgt (akoloutheîn) und dass p vorliegt (hyphestanai). Die Bestimmung der subimplikativen Aussage setzt die der implikativen voraus.

Die stoische Interpretation der Implikation ist eng mit einer Theorie des Zeichens (sēmeîon) verbunden, versteht sie doch das Zeichen als den Antecedens einer gültigen Implikation.213 Der Antecedens, das Zeichen „enthülle“ den Succedens (es sei ekkalyptikon ebd.) bzw. weise ihn auf (es sei endeiktikon).214 Dass eine Frau Milch hat, ist ein Zeichen dafür, dass sie empfangen hat;215 dass Schweiß durch die Haut dringt, ist ein Zeichen dafür, dass die Haut Poren hat;216 dass Rauch zu sehen ist, ist ein Zeichen dafür, dass etwas brennt.217 Eine Mehrzahl der stoischen Beispiele ist dem medizinisch-biologischen Bereich entnommen. Dies spricht dafür, dass die stoische Identifikation des Zeichens mit dem Antecedens einer gültigen Implikation in der medizinischen Diagnostik (und dem Zusammenhang von Symptom und Krankheit) eine ihrer wichtigen Quellen hat.218 Was durch ein Zeichen aufgedeckt wird, sind Sachverhalte, die von Natur oder der Umstände wegen verborgen (adēla) sind.219 Das erinnert an Anaxagoras220 und Epikur.221 Doch Epikur versteht das Zeichen als etwas sinnlich Wahrnehmbares, während für die Stoiker das Zeichen der Antecedens einer implikativen Aussage ist, also etwas, was gedanklich erfasst werden muss, um als Zeichen für etwas gelten zu können.222 Die Poren der Haut sind von Natur nicht wahrnehmbar; wir müssen (sc. damals mangels eines Mikroskops) sie denken. Das Feuer kann ich nicht sehen, weil ich zu weit vom Ort des Geschehens entfernt bin. Im einen Fall spricht die Stoa vom aufweisenden (endeiktikon), im anderen Fall vom erinnernden (hypomnēstikon) Zeichen.223 Im einen Fall ist Nichtbeobachtbares als Voraussetzung hinzugedacht bzw. erschlossen, im anderen Fall verdankt sich das Wissen vom Zusammenhang von Beobachtbarem der Erfahrung. Aristoteles unterscheidet im Kontext rhetorischer Schlüsse (von sog. Enthymemen) zwei Arten von Prämissen, die Plausibilitäten (eikota) und die Zeichen.224 Das Zeichen ist nach ihm eine beweisende Aussage, die als solche entweder notwendig oder plausibel ist.225 Beweisend im eigentlichen Sinn sind nur notwendige Zeichen. So ist etwa der Sachverhalt, dass jemand Fieber hat, ein sicheres Indiz für das Vorliegen einer Krankheit.226 Bei einem Enthymem nennt man nicht alle (beim Adressaten als selbstverständlich unterstellten) Prämissen eines Schlusses; man kann sie jedoch explizieren. Für Aristoteles ist das Zeichen der minor eines Syllogismus; für die Stoiker ist das Zeichen der Antecedens der Implikation, die die erste Prämisse eines Syllogismus ausmacht: (a) Wenn der Schweiß durch die Oberfläche der Haut dringt, gibt es nichtwahrnehmbare Poren. (b) Nun dringt der Schweiß durch die Oberfläche der Haut. (c) Also gibt es nichtwahrnehmbare Poren.227 Manche stoischen Beispiele finden sich auch bei Aristoteles; sein Einfluss auf die stoische Theorie des Zeichens liegt nahe.

Die konjunktive Aussage (to sympeplegmenon) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Teilaussagen, aus denen sie besteht, durch den Junktor „Und (kai)“ verbunden sind.228 Sie ist wahr genau dann, wenn alle mit „und“ verbundenen Teilaussagen wahr sind, und falsch, wenn auch nur eine von ihnen falsch ist.229 Die konjunktive Aussage wird also von der Stoa im Unterschied zur implikativen ausschließlich wahrheitsfunktional bestimmt. Diese Bestimmung erscheint uns selbstverständlich; sie wurde allerdings von der antiken Skepsis in Zweifel gezogen; ihr Argument: Eine konjunktive Aussage aus zwei Gliedern, deren eines wahr und das andere falsch ist, könne nicht mehr als falsch denn als wahr gelten; und eine Konjunktion aus vielen Teilsätzen, von denen nur einer falsch ist, müsste doch eher als wahr, und nicht als falsch anzusehen sein.230 Die Stoa berief sich für ihre Bestimmung auf alltägliche Praxis und Sprache (tê koinê synētheia): Ein Kleid gelte auch als gebraucht und abgenutzt, wenn es nur einen Fleck oder nur ein Loch aufweist. Die logische Festlegung besitzt ihr moralisches Pendant und ihre moralische Stütze: In einem Handlungszusammenhang zieht etwas partiell Schlechtes das Schlechtsein des Ganzen nach sich.231

Die disjunktive Aussage (to diezeugmenon) wird mit dem Junktor „Oder (ētoi)“ gebildet. Diogenes Laertius erklärt,232 die disjunktive Konjunktion zeige an, dass genau eine der beiden Teilaussagen falsch sei. Das ētoi meint also, im Unterschied zum einfachen ē das ausschließende Oder. Nach Sextus Empiricus233 sind in einer wahren Disjunktion die beiden Glieder miteinander unverträglich, und zwar sei bei den Stoikern eine vollständige Unverträglichkeit gemeint (meta machēs teleias), derart, dass sie weder zusammen wahr noch zusammen falsch sein können.234 Eine wahre Disjunktion hat also die Form „Entweder p oder nicht-p“. Oder es handelt sich bei ihr um zwei Teilaussagen, in denen einem Gegenstand zwei miteinander unverträgliche Prädikate zugeschrieben werden, von denen eines zutrifft.235 Disjunktionen mit mehr als zwei Disjunktionsgliedern (dia pleionōn diezeugmenon) gelten den Stoikern nach Sextus als wahr, wenn ein Glied wahr und der Rest falsch ist;236 sie müssen dabei vollständige Disjunktionen im Auge haben.

Die spätere stoische Schullogik führte zur disjunktiven noch die subdisjunktive Aussage (to paradiezeugmenon) ein.237 Sie muss gegenüber der disjunktiven Aussage nicht die Bedingung der vollständigen Unverträglichkeit der Glieder erfüllen, sei es, dass sie nicht zusammen wahr, sehr wohl aber zusammen falsch sein können, sei es, dass sie nicht zusammen falsch, wohl aber zusammen wahr sein können. Schließlich wurde das „Oder“ der subdisjunktiven Aussage im (heute üblichen) nichtausschließenden Sinn verstanden. Als wahre subdisjunktive Aussagen wurden alle Aussagen der Form „p oder q“ betrachtet, in denen wenigstens eine Teilaussage wahr ist, selbst wenn alle wahr sind.238

Die ursächliche Aussage (to aitiôdes) wird durch das „Weil (dihoti)“ gebildet, wie z.B. „Weil es Tag ist, ist es hell“. Mit dieser Konjunktion wird angezeigt, dass „das Erste gewissermaßen ursächlich (hoionei aition) ist für das Zweite“;239 „gewissermaßen“ ursächlich, weil ursächlich im strikten Sinn das Erste für das Zweite nicht sein kann, da es sich um eine Teilaussage, also etwas Unkörperliches handelt, während nach stoischer Auffassung nur Körperliches (im gegebenen Beispiel die Sonne) kausal wirken kann.240 Eine ursächliche Aussage ist wahr, wenn die erste Teilaussage wahr ist und die zweite aus der ersten tatsächlich folgt; sie ist falsch, wenn die erste Teilaussage falsch ist, wenn keine Folgebeziehung zwischen den beiden Teilen besteht oder wenn die Reihung zwischen ihnen vertauscht ist; Kausalaussagen („Weil p, deshalb q“) sind nicht umkehrbar.241

Diogenes Laertius beschließt seine Liste nicht-einfacher Aussagen mit der dissertiven. Sie teilt sich in die ‚Mehr-als‘-Aussage (diasaphoûn to mâllon) („Es ist mehr Tag als es Nacht ist“ und die ‚Weniger-als‘-Aussage (diasaphoûn to hêtton) („Es ist weniger Tag als es Nacht ist“). Die Erläuterung des Diogenes242 enthält keinen Hinweis auf die Wahrheitsbedingungen solcher Aussagen. Sie spielen auch keine Rolle in den überlieferten Syllogismen. Gleichwohl verdienten sie systematisches Interesse. Sie beziehen sich offensichtlich auf inkompatible Prädikate („Tag“, „Nacht“), die in ihrem Realitätsbezug keine strikte Disjunktion des Entweder-Oder zulassen, sondern mögliche Überlappungen bzw. Mischverhältnisse bzw. Übergänge des Sowohl-Als-Auch in graduierbarer Form aufweisen. Unklar bleibt angesichts der Quellenlage, in welcher strategischen Stellung sie zur entgegengesetzten skeptischen Argumentationsfigur der Unentscheidbarkeit angesichts des „Nicht mehr dieses als dieses (ou mâllon tode ē tode)“ stehen.

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