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4. Theologiestudium und Weg ins Pfarramt (1920–1924)

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Im Januar 1920, kurz nach seinem Bruder Wilhelm, begann der gerade 28-jährige Kapitänleutnant a. D. in Münster mit dem Theologiestudium. Schon kurz danach schließt sich der Theologiestudent mit anderen ehemaligen Offizieren einer deutschnationalen Studentengruppe an. Der Kapp-Putsch war durch den Generalstreik im rheinisch-westfälischen Industriegebiet und durch andere Kampfmaßnahmen der Arbeiter beantwortet worden. Die Regierung mobilisierte die Reichswehr dagegen. Niemöller sympathisiert mit dem Kapp-Putsch. Er führt gegen die „Roten“ ein Bataillon der westfälischen Reichsbrigade und beteiligt sich als Kommandeur an der Niederschlagung der Arbeiterrevolte.54 Nach dreißig Tagen ist der blutige Kampf zu Ende. Niemöller lässt sich als „Befreier aus der Hölle des Bolschewismus“55 feiern, die Ordnung ist wiederhergestellt. Er kehrt ins theologische Seminar zurück.

Sein Studium scheint Niemöller nüchtern pragmatisch und zielbewusst absolviert zu haben. Zusammen mit Kommilitonen störte er demokratisch ausgerichtete Hochschulversammlungen oder organisierte Vorträge nationalgesinnter rechter Professoren und Politiker. Abends führte er theologische Gespräche mit seinem Bruder Wilhelm, um die morgens gehörten Vorlesungen zu verarbeiten. Seine Frau Else leistet ihm trotz wachsender Kinderschar Gesellschaft beim Studium theologischer Literatur und beim Anfertigen seiner Hausarbeiten.

Die erst 1914 gegründete Evangelisch-Theologische Fakultät Münster56 ist noch vom Geist der alten Zeit bestimmt. Von der ‚dialektischen Theologie‘ des Schweizers Karl Barth (1886–1968) ist dort 1920 noch nichts zu hören. Sie wird in Münster erst ab 1925 in der wissenschaftlichen Diskussion die Gemüter erregen. Später gestand Niemöller: „Ich hatte keine Ahnung, wer Karl Barth war!“57 Barths epochales Buch über den ‚Römerbrief‘ las er erst nach Abschluss des Studiums, brach die Lektüre aber nach den ersten Kapiteln ab, da es ihm, wie er bekannte, nicht gegeben sei, „in so viel Spiralen zu denken“.58

Die Münsteraner Professoren gehörten überwiegend der kirchlichen Rechten an und vertraten die modern-positive Richtung der Theologie, die die Ergebnisse der historischen Bibelkritik akzeptiert, allerdings in der Dogmatik konservativer denkt. In Münster gehörten zu ihnen die systematischen Theologen Karl Heim (1874–1958) und Georg Wehrung (1880–1959), die Kirchenhistoriker Georg Grützmacher (1866–1939) und Hugo Rothert (1846–1936), der Alttestamentler Wilhelm Rothstein (1853–1925), der Neutestamentler Otto Schmitz (1883–1957) sowie der praktische Theologe Julius Smend (1857–1930). Durch Lehrer wie Wehrung und Paul Althaus, von dem er 1922 in Bethel Vorträge hörte, scheint Niemöller von der Theologie der „Lutherrenaissance“ beeinflusst worden zu sein.59 Er nahm jedenfalls die von Wehrung vertretene Lehre der „Ordnungen“ auf, in der Staat, Nation, Ehe und Familie als von Gott geschaffene Lebensordnungen begriffen werden. Die „weltoffene und doch nicht weltgebundene Christlichkeit“ seines Elternhauses schien ihm darin bestätigt; zudem sah er in dieser Lehre die theologische Legitimation, politisches Engagement mit den Aufgaben des Predigers und Seelsorgers zu verbinden.60 Grützmacher vermittelte ihm Reformationsgeschichte, Rothert kirchliche Heimatkunde, d.h. westfälische Kirchengeschichte.

Einen Wechsel zu einer anderen Hochschule, etwa nach Bonn, hätte Niemöller sich zwar gewünscht, aber die bescheidenen Verhältnisse sprachen dagegen: Die kümmerliche Pension reichte nicht; die Familie musste versorgt werden, was nur mit regelmäßigen ‚Hamsterkäufen‘ auf dem Land möglich war; Stipendien banden ihn an die Heimat-Universität. Die Nachkriegsjahre seien die härtesten seines Lebens gewesen, meint er später. Ständig musste er zusehen, wie er sich und seine Familie ernährte. Da kam ihm die politische Lage überraschend zu Hilfe. Die Regierung hatte für Krisenzeiten eine Technische Nothilfe eingerichtet. Ende Juli 1922 begann er, als Rottenarbeiter, d.h. als Bahnunterhaltungsarbeiter, bei der Reichsbahn zu arbeiten. Bis zum Ende seines Vikariats verrichtete er dort verschiedene Arbeiten in Tag- und Nachtschichten.

Es scheint, als ob Niemöller sich in der konservativen Atmosphäre der Münsteraner Universität wohlfühlte. Die theologischen Lehrer waren kirchlich eingestellt, es gab enge Bindungen zur Gemeinde. Niemöller kam diese Art von Theologen entgegen: „Es war ja nicht meine Absicht, als ‚Fachmann‘ das Rad der theologischen Wissenschaft ein Stückchen weiterdrehen zu helfen, sondern eine ordentliche und ausreichende Grundlage für den Beruf des Pfarrers und für das Amt der Verkündigung zu bekommen. Und das hat mir Münster gegeben, nicht nur durch die akademischen Lehrer, die mir dort begegneten, sondern ebenso sehr durch die Prediger, die auf den evangelischen Kanzeln Münsters standen, und durch den persönlichen Umgang, den ich mit Kirchenmännern meiner westfälischen Heimat dort fand (…). Die unmittelbare Beschäftigung mit der Bibel aber wurde mir vom ersten Tage an das eigentliche Zentrum meines ganzen Studiums …“61

Auch Jahre danach ist das Verhältnis zu Münster von Dankbarkeit bestimmt, obwohl Niemöller 1940 aus dem KZ in einem Brief an den Vater schreibt, die theologische Fakultät von Münster erscheine ihm „mehr und mehr als eine klappernde, leerlaufende Mühle. (…) Jedenfalls gab es dort von dem, worauf es eigentlich für den Theologen und Pfarrer ankommt, beschämend wenig zu hören und zu lernen.“62

Im Januar 1923, während die französische Armee in die westdeutschen Industriezentren einmarschierte, lieferte Niemöller beim Konsistorium in Münster seine wissenschaftlichen Arbeiten für das theologische Examen ab. Sowohl im Fakultätsrat wie im westfälischen Konsistorium wurde der Theologiestudent nicht nur wegen seiner Leistungen, sondern auch aufgrund seines völkisch-nationalistischen Engagements wohlwollend beurteilt. Sein erstes Examen bestand er mit „vorzüglich“. Am 1. Mai 1923 begann sein Lehrvikariat bei Pfarrer Walter Kähler, das er nach dessen Weggang aus Münster bei Pfarrer Ewald Dicke fortsetzte.

Martin Niemöller

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