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Einführung

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Der Name Martin Niemöllers ist heute – neben dem von Dietrich Bonhoeffer – im angelsächsischen Sprachraum mehr als im deutschen präsent: Jedes Schulkind in den USA weiß, dass Niemöller ein mutiger Mann des Widerstands gegen die Nazis war, und lernt seinen Ausspruch: „First they came for the Socialists, and I did not speak out …“ (die deutsche Originalversion des häufig abgewandelten Zitats lautet: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte“).

Das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D. C. erinnert an ihn als „einen hervorragenden protestantischen Pfarrer, der als ausgesprochener öffentlicher Gegner Adolf Hitlers hervortrat und trotz seines glühenden Nationalismus die letzten sieben Jahre der NS-Regierung in Konzentrationslagern verbrachte“.1 Auch wenn diese US-amerikanische Sicht die historische Wirklichkeit verzerrt und Niemöllers Kampf gegen die Kirchenpolitik des NS-Staates überhöht: Niemöller gilt weltweit als einer der bekanntesten Deutschen des 20. Jahrhunderts, ein Vertreter des „guten“ Deutschland.

Von seiner Herkunft und Prägung durch ein Pfarrhaus deutsch-nationaler Lutheraner, wurde er zu einer führenden Gestalt des Kirchenkampfes, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Ökumene. Schon früh nahm er im Münsteraner Stadtparlament politische Verantwortung wahr. Bis ins hohe Alter mischte er sich immer wieder in die Politik ein, wenn er vitale Interessen der Kirche und der Menschen verletzt sah. In seinem Lebensweg spiegeln sich die großen Themen des Jahrhunderts: zwei Weltkriege, der Zusammenbruch des wilhelminischen Kaiserreichs, Aufstieg und Fall des totalitären NS-Staates, der Holocaust, die Teilung Deutschlands in zwei deutsche Staaten, die Stellung der Kirchen zum Weltgeschehen, die fortschreitende Globalisierung und die Verantwortung für das Leben in der einen Welt, für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Dieses Buch zeichnet aus theologischer und zeitgeschichtlicher Perspektive Niemöllers Leben mit seinen Spannungen, Auseinandersetzungen, Umbrüchen und Krisen nach. Es stellt seinen Weg vom kaiserlichen U-Boot-Kommandanten zum streitbaren Protestanten und Friedenskämpfer dar. Das Bild von Niemöller im westlichen und östlichen Ausland soll dem Bild gegenübergestellt werden, das die deutsche Öffentlichkeit von ihm hatte und teilweise immer noch hat. In den Jahren seit 1945 konfrontierte Niemöller die Deutschen mit ihrer Schuld; das Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945, das er mit unterzeichnete, war wesentlich von ihm bestimmt. Im Ausland trat er dagegen als Fürsprecher seines Volkes auf. Mit seinem Mut und seiner Zivilcourage, die sich aus Charakterfestigkeit und Glaube speisen, mit seinem wachen Verantwortungsbewusstsein und seiner bis ins hohe Alter unverminderten Lernbereitschaft kann Niemöller heute für viele Menschen ein Vorbild sein.

Von welchem Standort aus lässt sich das Leben dieses Mannes erzählen? Die Biographien von Dietmar Schmidt und James Bentley wurden zu Lebzeiten Niemöllers geschrieben. Es fehlt die historische Distanz. Das Buch des evangelischen Journalisten Schmidt, der sich zeitweise in die NS-Ideologie verstrickt und nach Kriegsende zum Radikaldemokraten gewandelt hatte,2 erschien zuerst 1959 (auch in engl. Übersetzung), dann wesentlich erweitert 1983. Es will vor allem die Entwicklung der Persönlichkeit Niemöllers schildern. Der britische Historiker und frühere anglikanische Pfarrer Bentley konnte wie Schmidt noch auf Interviews mit Niemöller zurückgreifen. Seine Biographie kam 1984 im englischen Original, 1985 auf Deutsch heraus. Beide Autoren gehen auf wichtige Aspekte des Kirchenkampfes ein, beide schildern in Ausschnitten die Nachkriegsjahre. Eine ausführliche Darstellung von Niemöllers Wirken im Kirchenkampf hat 1971 der Kirchenhistoriker Jürgen Schmidt vorgelegt. Die jüngste Biographie des westfälischen Pfarrers Matthias Schreiber, zuerst 1997 erschienen, nimmt distanzierter und kritischer als ihre Vorgänger das politische und gesellschaftliche Wirken Niemöllers in den Blick. Das entspricht dem Interesse an den politischen Stellungnahmen, die vor allem in Niemöllers letzten 30 Lebensjahren die Öffentlichkeit beschäftigten und sein öffentliches Bild zumal in Deutschland bestimmten.

Schon der im Jahr 1992 zum 100. Geburtstag Niemöllers im Auftrag der EKHN herausgegebene Begleitband „Protestant. Das Jahrhundert des Pastors Martin Niemöller“ zur gleichnamigen Ausstellung richtete die Aufmerksamkeit auf Brüche und Widersprüche in Niemöllers Weg und verstand seine Biographie als Spiegelung der Geschichte des deutschen Protestantismus. Dieser historisch-kritische Ansatz verbietet jede Form hagiographischer Biographik. Niemöller eignet sich dafür nicht, wie er auch selbst jeder ‚Heldenverehrung‘ seiner Person entgegentrat.

Wer Niemöller annähernd gerecht werden will, muss ihn als Kind seiner Zeit sehen und ihn im zeitgeschichtlichen Kontext darstellen. Der Horizont seines Wirkens wie auch seiner Wirkungsgeschichte ist die Ökumene. Deshalb ist es unabdingbar, der deutschen Perspektive die Außenperspektive gegenüberzustellen und die öffentliche Wahrnehmung des Kirchenmannes und Friedensaktivisten mit der kirchlichen Sicht und Niemöllers Selbstzeugnissen zu kontrastieren. Neben der vorliegenden Primär- und Sekundärliteratur ist auch Material aus Niemöllers Nachlass heranzuziehen, der im Zentralarchiv der EKHN in Darmstadt aufbewahrt wird. Ein Nachteil aller bisherigen Biographien liegt darin, dass sie seine dokumentierten Predigten, Reden und Vorträge nur unzureichend berücksichtigen und seine weitverzweigten Korrespondenzen kaum auswerten. Dies soll hier zumindest in Ausschnitten nachgeholt werden.

Beim Schreiben einer Biographie will ich mich davor hüten, nur eine „Gescheitheit aus den Akten“ (Th. Heuss) zu erwerben. Gegengewichte können Gespräche mit Zeitzeugen und persönliche Eindrücke aus Begegnungen, Film- und Tondokumenten sein. Man kann Niemöller in Interviews hören und sehen, auch in dem Dokumentarfilm „Rebell wider Willen“, den Hannes Karnick und Wolfgang Richter 1985 produziert haben – einige Jahre früher wäre ein solcher Film als historisches Dokument freilich noch wertvoller gewesen, weil er dann noch mehr von Niemöllers Spontaneität und kämpferischer Energie vermittelt hätte.

Ich schreibe als Privatdozent für Praktische Theologe und als Pfarrer der EKHN über Martin Niemöller. Er hat diese Landeskirche bis 1964 als ihr erster Kirchenpräsident geprägt. 1992 und 2009 wurde kirchenoffiziell an ihn erinnert, wie es auch 2017 wieder geschehen wird. Doch sein Erbe, vor allem seine Orientierung an der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, bereitet der liberalen EKHN zuweilen Verlegenheit. Wozu verpflichtet Niemöllers Erbe? Darüber wäre nachzudenken und auch zu streiten. Seit 2008 hatte ich Gelegenheit, im Zentralarchiv der EKHN am Niemöller-Nachlass zu arbeiten, der etwa 100 laufende Meter umfasst. Ein Produkt dieser Arbeit war die kritische Edition aller Predigten aus Martin Niemöllers Dahlemer Zeit (2011). Ohne diesen Hintergrund wäre es mir kaum möglich gewesen, über sein Leben zu schreiben.


Abb. 1: Eine von Niemöller benutzte Pfeife und zwei Predigtmanuskripte. Links: Maschinenschrift der Predigt vom 21.9.1958 zu Mt 5,7 zum 100-jährigen Bestehen des Elisabethenstifts in Darmstadt. Rechts: Handschrift der Predigt vom Sonntag Estomihi, 12.2.1961, zu Lk 18,31-43 in der Annenkirche Berlin-Dahlem.

Martin Niemöller

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