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3. Auswanderungspläne und Heirat mit Else Bremer (1919)
ОглавлениеNiemöller erlebt „Bitternis, Enttäuschung, Ratlosigkeit“ und spürt einen tiefen Groll gegen sein Volk. „Nur eins war mir damals vom ersten Augenblick an deutlich, daß mich von dieser ‚Revolution‘ und ihren offenen und verdeckten Drahtziehern eine Welt schied und in alle Zukunft scheiden würde.“38 Das Kommando, das man ihm beim Militär der jungen Republik anbot, lehnt er ab. Zum 1. April 1919 quittiert er den aktiven Marinedienst. Am liebsten wäre er nach Argentinien ausgewandert, um dort als Schafzüchter zu leben. Für enttäuschte Monarchisten jener Zeit war eine solche Idee nicht ungewöhnlich. Er fing sogar an, Spanisch zu lernen.39 Die Inflation machte jedoch seine Pläne unmöglich, denn von seiner wertlos gewordenen Offizierspension konnte er nicht mehr ausreisen oder sich gar in Argentinien Land kaufen.
Ohne sichere Berufsaussicht und hinreichende Mittel heiratete er zu Ostern 1919 Else Bremer, die Schwester seines im Krieg gefallenen Freundes Hermann Bremer; sein Vater traute das junge Paar in Elberfeld. Die Arztfamilie Bremer und die Pfarrersfamilie Niemöller waren gut miteinander bekannt, Else hatte den eineinhalb Jahre jüngeren Martin schon als Zehnjährigen gekannt. Doch bis zum Jahr 1917 hatte der Freund ihres Bruders, der immer wieder ins Haus kam, wegen des Altersunterschieds kaum tieferes Interesse bei ihr geweckt. Das änderte sich erst, als Martin, inzwischen Seekadett, für einige Zeit zum Admiralstab nach Berlin abkommandiert wird. Martin und Else sahen sich häufig, dazwischen hielten sie Briefkontakt. Im Sommer 1918 werfen sie „alle Vernunftgründe über Bord“ und verloben sich. Vater Bremer reagiert zunächst, wie Else erzählt, „ganz ablehnend“. Er „machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich mein Studium abgebrochen hatte“.40
Else hatte in Bonn und Berlin studiert, um Studienrätin zu werden. Ihr Tagebuch verrät aber auch, dass sie sich danach sehnte, in der Beziehung mit einem Mann Frau und Mutter zu werden.41 Wie sollte sie den inneren Konflikt lösen, der aus dem Wunsch nach Liebe und eigenständiger Berufstätigkeit entstand? Nur Frauen mussten zu dieser Zeit zwischen Familie und Beruf wählen. Denn für Beamtinnen galt noch bis 1919 die sogenannte Zölibatsklausel: Eine Lehrerin, die heiratete, konnte ihren Beruf nicht weiter ausüben. Else musste sich für das eine oder das andere entscheiden. Sie brach ihr Studium ab und entschied sich für die Ehe. Else Niemöller wird am weiteren beruflichen Weg ihres Mannes Anteil nehmen und als Pfarrfrau und Frau der Bekennenden Kirche eine zentrale Rolle spielen.42
Abb. 9: Else Niemöller, ca. 1934/35.
Auf einem Musterhof im Tecklenburger Land arbeitete Niemöller zwischen Mai und Oktober 1919 als Bauernknecht. Zeitlebens wird er sich seiner Heimat verbunden fühlen. Sein ausgeprägtes Bewusstsein, für sich und für sein Handeln verantwortlich zu sein, war ein Erbteil seiner Väter und Vorväter: „Der westfälische Bauer, der auf seinem Einzelhof lebt, hat das Gefühl: Mir darf keiner das, was ich für richtig halte, irgendwie bestreiten“,43 erklärt er später. Wie seine westfälischen Vorfahren will er Bauer werden. „Es war mir wie ein Traum, als ich so das erstemal hinter dem Pfluge ging und meine Furche über den Acker zog. ‚Wer seine Hand an den Pflug legt und siehet zurück …‘ Nein, ich wollte geradeaus sehen und getrost tun, was mir befohlen war. Noch ahnte ich nicht, daß hier für mich die Heimkehr, die Rückkehr zu Volk und Vaterland begann!“44 Mehr als alles andere ist es diese Wendung: ‚getrost tun, was mir befohlen war‘, in der sich die Persönlichkeit dieses Mannes enthüllt.
Evangelische Frömmigkeit, Familie, Volk, Vaterland gehören nach seinem Verständnis fest zusammen. Die Familie ist eine der Ordnungen, die Gott geschaffen hat. Hier wird christliche Gemeinschaft gelebt, hier empfängt die Volksgemeinschaft ihre Kraft. Die Tochter Brigitte (∗1920) beschreibt Niemöller nach ihrer Geburt als „blond und blauäugig“, Hans Joachim, genannt „Jochen“ (∗1922), der älteste Sohn, erhält den Namen von Niemöllers gefallenem Freund Emsmann: „und wir Eltern gaben ihm den Wunsch und das Gebet mit auf den Weg, er möchte ein ebenso gerader und ganzer deutscher Mann werden, wie dieser letzte U-Boots-Kommandant des großen Krieges“. Sohn Hans Jochen fiel im Februar 1945 als Soldat. Heinz Hermann (∗1924) wurde nach seinem Großvater väterlicherseits und „nach dem auf UB 104 gefallenen Freund und Schwager“ Hermann Bremer benannt. Johann („Jan“) Heinrichs (∗1925) zweiter Vorname erinnerte daran, dass die deutschen U-Boot-Offiziere sich alle ohne Rücksicht auf Rang und Vornamen mit „Heinrich“ anredeten. Die zweite Tochter Hertha (∗1928) wurde auf den Namen des alten Schulschiffs getauft, auf dem Niemöller 1910 als Seekadett gefahren war.
Bald stellte sich heraus, dass das Ehepaar keine selbständige Existenz in der Landwirtschaft realisieren konnte. Die Ersparnisse waren durch die Dauerinflation zusammengeschmolzen und reichten für einen eigenen Hof nicht aus. Bei Niemöller reift der Entschluss, in Münster Theologie zu studieren. Else hat ihn dabei nicht unmittelbar beeinflusst. Ihr erscheint seine Entscheidung stimmig. Wie er selbst im Rückblick zugibt, wuchs dieser Gedanke in ihm auf der Linie konservativ nationalistischer Überlegungen: „Das künftige Schicksal des Volkes lag bei der Familie, bei Schule und Kirche als den Quellorten schöpferischer Lebenskräfte eines Volkes.“45 Niemöller schwebte ein Beruf vor, in dem er an der Erneuerung seines Volkes mitwirken konnte. Dass diese Überlegungen auf eine antidemokratische, antiliberale Erneuerung der Gesellschaft abzielten, also auf das, was man später ‚konservative Revolution‘ nannte, lässt sich aus einer Passage seines autobiographischen Berichts von 1934 entnehmen, in der Niemöller die Stimmung unter den Landarbeitern schildert, mit denen er bei der Feldarbeit zusammentraf:
„Der Versailler ‚Frieden‘ war inzwischen bedingungslos angenommen und unterzeichnet worden, und langsam fingen auch die ‚kleinen‘ Leute, die irgendwie mit der Umwälzung sympathisierten, an zu begreifen, daß die Sache nicht gut enden konnte und daß von den Versprechungen, die ihnen fortgesetzt von den sozialistischen Agitatoren gemacht wurden, doch nichts in Erfüllung gehen würde. Es gab bei solchen Aussprachen wohl auch regelrechte Zusammenstöße; aber sie wurden schnell wieder verwunden, weil eine persönliche Beziehung blieb und immer neu zur Brücke wurde, die den aufgerissenen Spalt überwand. Dieser Umgang mit den Heuerleuten, die eigentlich kleine Pächter, aber nebenbei noch Lohnarbeiter waren, und die sich damals als ‚Proletarier‘ fühlten, im Grunde jedoch bodenständige Leute geblieben waren, öffnete mir die Augen dafür, daß jedenfalls ein großer Teil unseres Volkes die ‚neue‘ Zeit nur auf Grund einer Selbsttäuschung und ohne wahre innere Beteiligtheit als Fortschritt wertete. Das hatte sich gefährlich angehört, als es im Januar 1919 in Westerkappeln bei der Wahl zur Nationalversammlung plötzlich fast ein Drittel ‚Marxisten‘ gab; hier gewann ich einen Einblick, wie es um diesen ‚Marxismus‘ in Wahrheit stand. Es steckte nichts dahinter als künstlich aufgepeitschte Selbstsucht, die Vorteile witterte, und eine begreifliche Enttäuschung über die in der Revolution von 1918 offenbar gewordene Schwäche eines Systems, das sich so lange selbst als stark ausgegeben hatte. Und langsam merkte ich, wie verwandt und ähnlich mir diese Menschen waren, wie sie unter der gleichen Enttäuschung und Ratlosigkeit litten, die mich umtrieb und vor der ich mich auf die heimatliche Scholle und die Einsamkeit des bäuerlichen Lebens hatte flüchten wollen. Und unmerklich schlug ich neue Wurzeln in meinem Volkstum, und die Bitternis, die mich vergiftet hatte, wich allmählich wieder einer lebendigen Anteilnahme an dem, was die Menschen um mich bewegte. Es war, als ginge jetzt der Pflug über meinen Lebensacker, um ihn für ein Neues zu bereiten!“46
Manches deutet darauf hin, dass eine abendliche Begegnung im September 1919 mit Pfarrer Ernst Johann to Settel, der seit 1910 Pfarrer in Westerkappeln war, bei Niemöller zur Klärung beitrug; später erklärte er selbst, die Begegnung habe den entscheidenden Anstoß gegeben.47 Der auch schon früher gefasste und mit dem Vater erörterte Plan, ein Theologiestudium zu beginnen, erschien ihm im Dialog mit dem Pfarrer als sinnvolle Möglichkeit. Am selben Tag noch trägt er in sein Tagebuch die Frage ein: „Werde ich Theologe?“48 Anders als der Lehrerberuf schien ihm der Beruf des Pfarrers am ehesten geeignet, um wirklich frei seine Überzeugung äußern zu können. Und die Kirche erschien in seiner Lage als die verlässlichste konservative Macht.
Im Rückblick benennt er den entscheidenden Grund für seinen Weg ins Pfarramt:
„Es war kein eigentlich theologisches Interesse, was dahinter steckte und den Ausschlag gegeben hätte: für Theologie als Wissenschaft, die Probleme lösen will, hatte ich von Hause aus keine Ader. Aber daß das Hören auf die Christusbotschaft und der Glaube an Christus als den Herrn und Heiland neue, freie und starke Menschen macht, dafür hatte ich in meinem Leben Beispiele gesehen, und das hatte ich aus meinem Elternhaus als Erbe mitgenommen und im Auf und Ab, im Hin und Her meines Lebens festgehalten. Damit konnte ich, das war meine Überzeugung, meinem Volk aus ehrlichem und geradem Herzen dienen; und damit konnte ich ihm vielleicht mehr und besser helfen in seiner trostlosen völkischen Lage, als wenn ich still und zurückgezogen nur einen Hof bewirtschaftet hätte, wie ich mir das gedacht hatte.“49
Hinter der Entscheidung für den Pfarrberuf stand die Überzeugung: Wer die Christusbotschaft verkündet, dient seinem Volk. Niemöller wollte „an einer ernsthaften Erneuerung unseres Volkes [mitwirken]“ und dem deutschen Volk „in seiner trostlosen völkischen Lage“ helfen.50 Das „volksmissionarische Ziel, das Christentum als konservative Ordnungsmacht zur Geltung zu bringen“,51 ist ihm später im Beruf des Pfarrers wichtig, sah er sich darin doch „im Dienst für Volk und Vaterland“.52 Beide setzte er als vorgegebene Wirklichkeiten und Werte voraus und war überzeugt, jeder Deutsche habe „dem Vaterland mit ‚Hingabe‘ und ‚Opferbereitschaft‘ zu dienen“.53 Dieser Patriotismus bleibt eine treibende Kraft auch für sein späteres Handeln.