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4. Die Bekennende Kirche formiert sich: die Gründung des Pfarrernotbundes

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In dieser ersten Phase des Kirchenkampfes hält Niemöller es noch für bedeutsam, die verfassungsrechtlichen und kirchenpolitischen Verhältnisse mitzugestalten, während nach Karl Barth allein die theologische Besinnung für eine kirchliche Erneuerung maßgebend zu sein hat. Für Barth war klar, dass die Kirche nicht dem deutschen Volk, sondern allein dem Wort Gottes zu dienen habe. Niemöller hingegen fühlt sich noch immer verpflichtet, als Prediger und Seelsorger der Erneuerung des deutschen Volkes durch Verkündigung des Evangeliums zu dienen. Erst 1934 kommt es zwischen beiden zu einer Verständigung, als Niemöller sich der von Karl Barth vertretenen ‚Theologie des Wortes‘ annähert und Barth das kirchlich-praktische Wirken Niemöllers für die Bildung der Bekennenden Kirche anerkennt.143

Karl Barth, der 1930 bis 1934 als systematischer Theologe in Bonn lehrte, wurde zum Mitgründer und Mentor der Bekennenden Kirche. Er hatte in seiner Schrift „Theologische Existenz heute“ vom Juni 1933 die Jungreformatorische Bewegung kritisiert, weil sie nur „die Vorstellung von der formalen Selbständigkeit der Kirche gegenüber dem Staat“ verteidigt hätte. Die kirchliche Opposition, so lautete sein Votum, müsse zu einer ‚theologischen Existenz‘ kommen, indem sie „die Freiheit, das heißt aber die Herrschaft des Wortes Gottes in Verkündigung und Theologie“ wahre und begreife, „daß Jesus Christus und zwar er allein Führer ist“. Die DC wurde von Barth dezidiert als häretische Bewegung abgelehnt, ihre Anhänger als Verführte oder Verführer beurteilt: „Ich halte dafür, daß diese Lehre in der evangelischen Kirche kein Heimatrecht hat. Ich halte dafür, daß das Ende der evangelischen Kirche gekommen wäre, wenn diese Lehre, wie es der Wille der ‚Deutschen Christen‘ ist, in ihr zur Alleinherrschaft kommen würde …“144 Barth zeigte, wo die Kirche zur kirchlichen Opposition werden müsse: beim ‚Arierparagraphen‘, beim Führerprinzip und angesichts der Vergötzung von Rasse, Blut und Boden zu göttlichen Ordnungen.

Es ist ein bemerkenswerter Persönlichkeitszug und eine besondere Gabe von Niemöller, dass er in dieser Zeit bereit war, auf kritische Stimmen wie die von Barth zu hören und von ihnen zu lernen. Karl Barth und der erst 27-jährige Berliner Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) wurden für ihn zu wichtigen Lehrern, Barth im Hinblick auf die theologische Begründung oppositioneller kirchlicher Aktivitäten, Bonhoeffer hinsichtlich der Bedeutung der Judenfrage. Niemöller, der in seinen theologischen Ansichten von Münster her noch durch die Lehre der ‚Schöpfungsordnungen‘ und geschichtsphilosophische Betrachtungen bestimmt war, tat sich freilich gerade hinsichtlich der Juden mit dem Umdenken schwer. Davon wird an anderer Stelle noch die Rede sein.

Ein Gremium unter der Leitung von Friedrich von Bodelschwingh, dem Bonhoeffer angehörte, arbeitete im Sommer 1933 ein theologisches Gutachten aus, das mit Belegen aus der Bibel, Luther und hauptsächlich den lutherischen Bekenntnisschriften die Kritik an den Irrlehren der DC fundierte. Obwohl es nicht gelang, ein verbindliches evangelisches Bekenntnis zu formulieren, und Bonhoeffer sich schließlich gegen die Veröffentlichung des veränderten Textes aussprach, handelte es sich doch bei dem wesentlich von ihm stammenden Entwurf um einen beachtlichen Versuch, den DC theologisch entgegenzutreten.145

Im November 1933 gab Martin Niemöller die Endfassung dieses sogenannten Betheler Bekenntnisses anonym unter dem Titel „Das Bekenntnis der Väter und die Bekennende Kirche“ heraus. Es enthält im Unterschied zu den späteren Erklärungen der Bekennenden Kirche auch einen Abschnitt über „Die Kirche und die Juden“. Erst 2003 wurde bekannt, wer die Urfassung dieses Kapitels geschrieben hat. Es war der damals in Bethel lehrende Schweizer Alttestamentler Wilhelm Vischer (1895–1988), der in Deutschland Berufsverbot erhielt und 1934 in die Schweiz zurückkehren musste. Für die Publikation wurde jedoch nicht der von Barth und Bonhoeffer bejahte Vischer-Text, sondern eine in den Abschnitten über das Verhältnis der Kirche zur Obrigkeit und zu den Juden erheblich abgeschwächte Version verwendet.146

Zwei Monate zuvor, im September 1933, gründet Martin Niemöller zusammen mit anderen den sogenannten Pfarrernotbund. Zum Auslöser dafür wurde die nach den Kirchenwahlen von den DC erhobene Forderung, den für Beamte seit April 1933 geltenden ‚Arierparagraphen‘ nun auch im Raum der Kirche anzuwenden. Gegen einen entsprechenden Antrag protestierten die Gegner der DC auf der altpreußischen Generalsynode am 5. September 1933, die später als ‚Braune Synode‘ bezeichnet wurde, weil dort alle Deutschen Christen in Parteiuniform erschienen waren. Niemöller und Bonhoeffer nahmen in grauen Straßenanzügen teil. Die von dem westfälischen Präses Karl Koch geleitete Fraktion ‚Evangelium und Kirche‘ verlas eine von Niemöller und seinem westfälischen Amtsbruder Karl Lücking entworfene Protesterklärung. Darin kritisierte die Fraktion den „rücksichtslosen Gebrauch der Macht“ und die geplante Anwendung von „Methoden der Welt im Raum der Kirche“, was sich auf die Einführung des ‚Arierparagraphen‘ bezog. Es kam zu Tumulten. Die Synodalen um Niemöller verließen die Versammlung, begleitet vom „stürmischen Beifall der Deutschen Christen“.147

Niemöller beriet sich daraufhin mit Hildebrandt und Bonhoeffer und einem Kreis weiterer Berliner Theologen. Sie verfassten eine Erklärung bekenntnistreuer Pfarrer zum ‚Arierparagraphen‘ des neuen Kirchenbeamtengesetzes. Niemöller und Bonhoeffer hatten die Absicht, die Pfarrerschaft zu einem gemeinsamen Bekenntnisakt aufzurufen, da ein ‚status confessionis‘ gegeben sei, d.h. eine Streitfrage, die zu einem Bekenntnis der christlichen Wahrheit herausfordere. Im Hinblick auf die bevorstehende Nationalsynode in Wittenberg richtete Niemöller am 21. September 1933 einen Rundbrief an seine Amtsbrüder, indem er die Maßnahmen der deutschchristlichen Kirchenregierung anprangerte. „Um dieser Not willen haben wir einen ‚Notbund‘ von Pfarrern ins Leben gerufen, die sich gegenseitig durch schriftliche Erklärung ihr Wort gegeben haben, sich für ihre Verkündigung nur an die Heilige Schrift und an die Bekenntnisse der Reformation zu binden und sich der Not derjenigen Brüder, die darunter leiden müssen, nach bestem Vermögen anzunehmen.“148

Bereits während der Nationalsynode schlossen sich 2000 Pfarrer dem Aufruf an. Bis Jahresende stiegen die Zahlen auf über 7000. Als Vorsitzender des Pfarrernotbundes wurde Niemöller zum Sprecher von 40 % der insgesamt 18.000 evangelischen Pfarrer in Deutschland. Er bemühte sich vor allem in den von deutsch-christlichen Kirchenleitungen beherrschten Gebieten um die Bildung regionaler Pfarrerzusammenschlüsse sowie um die Integration bestehender bekenntnistreuer Vereinigungen in den Pfarrernotbund. An dessen konstituierender Versammlung am 20. Oktober 1933, die in Niemöllers Wohnung stattfand, nahmen Vertrauensleute aus neun altpreußischen Kirchenprovinzen und Vertreter aus neun weiteren Landeskirchen teil; hinzu kamen die Vorsitzenden der Sydower Bruderschaft und des Berneuchener Kreises, Georg Schulz und Karl Bernhard Ritter.

Die fortgesetzten Rechtsbrüche und Gewaltakte von Reichsbischof Müller, der vom Frühjahr 1934 an mithilfe seines ‚Rechtswalters‘ August Jäger die Selbständigkeit der 28 evangelischen Landeskirchen aufheben und alle unter sein Kommando in der Reichskirche bringen wollte, riefen neue Proteste hervor. Der Pfarrernotbund und die nicht deutsch-christlichen Bischöfe von Württemberg, Bayern und Hannover schlossen sich wieder enger zur kirchlichen Opposition zusammen.

Einen Höhepunkt erreichte der Kirchenstreit bereits mit dem sog. Sportpalastskandal am 13. November 1933. Bei dieser Kundgebung der DC im Berliner Sportpalast, die ganz im Stil nationalsozialistischer Massenveranstaltungen abgehalten wurde, hielt ein führendes Mitglied der Glaubensbewegung, Dr. Reinhold Krause, anlässlich von Martin Luthers 450. Geburtstag eine Rede zum Thema ‚Luthers völkische Sendung‘, die das Programm einer Umgestaltung der evangelischen Kirche in eine ‚deutsche Volkskirche‘ enthielt. Mit teils wörtlichen Anleihen aus der antikirchlichen Polemik in Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“ forderte Krause vor 20.000 Deutschen Christen die „Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen“, die „Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten“ und den „grundsätzlichen Verzicht auf die ganze Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus“. Krause wandte sich allgemein gegen „Menschen judenblütiger Art“ in der Kirche: Sie „gehören nicht in die deutsche Volkskirche, weder auf die Kanzel, noch unter die Kanzel“.149

Niemöller, der am folgenden Morgen durch Dibelius über die Vorgänge im Sportpalast informiert wurde, bewertete die Äußerungen Krauses und die Entschließung, mit der die Anwesenden zentralen Punkten der Rede zugestimmt hatten, als ‚Demaskierung‘ der radikalen Tendenzen der Deutschen Christen, die bisher stets behauptet hatten, auf dem Boden der reformatorischen Bekenntnisse zu stehen. Er rief Pfarrer und Gemeinden zum öffentlichen Widerstand auf. Beim Reichsbischof forderte er den sofortigen Rücktritt Joachim Hossenfelders, des Führers der DC, den er für Krauses Ausführungen verantwortlich machte. Vielen evangelischen Christen gingen über die wahren Ziele der DC die Augen auf. Es kam zu Massenaustritten aus der DC; die bisher einheitliche ‚Glaubensbewegung‘ zerfiel in verschiedene Gruppen.

Reichsbischof Müller, der sein Geschick mit den DC verbunden hat, kämpfte nun um sein Amt. Am 15. November suspendierte er Reinhold Krause von seinen kirchlichen Ämtern und distanziert sich in einer Presseerklärung vom Hauptreferat und der Entschließung der Sportpalastkundgebung. Die Schirmherrschaft über die DC muss er niederlegen. Um Rückhalt bei den politischen Machthabern zu finden, verhandelt er mit dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach und gliedert die evangelische Jugend in die Hitlerjugend (HJ) ein. Für Niemöller hatte die Kirche damit ihren Anspruch auf die Erziehung der evangelischen Jugend preisgegeben.

In den ersten Monaten des Kirchenkampfes „teilte Niemöller … noch die traditionell lutherische Auffassung von der wechselseitigen Unabhängigkeit der beiden ‚Ämter‘, des staatlichen Richteramtes und des kirchlichen Predigtamtes“.150 Er meinte, die Kirche habe dem Staat nicht in seine Gewalt ‚hineinzupredigen‘, sondern den Menschen in der Gemeinde Gottes Willen zu verkündigen. Deswegen äußerte er sich nicht zur Judenpolitik des NS-Staates. Angesichts der zunehmenden Anfeindungen, polizeilichen Zwangsmaßnahmen und kirchenregimentlichen Maßregelungen, denen sich die führenden Mitglieder des Pfarrernotbundes ausgesetzt sahen, wurde es jedoch immer schwieriger, eine unpolitische Haltung einzunehmen. So sehr Niemöller sich auch bemühte, den Pfarrernotbund nach außen hin als innerkirchliche Opposition darzustellen und seinen Mitgliedern ein staatstreues Ansehen zu geben: Viele glaubten der nationalsozialistischen Propaganda, die den ehemaligen Offizier und Dahlemer Pfarrer als ‚Staatsfeind‘ und ‚Volksverräter‘ erscheinen ließ.

Spätestens im Januar 1934 muss Niemöller erkannt haben, „daß die Verbreitung völkischer und antichristlicher Ideen nicht von relativ begrenzten deutschgläubigen Gruppen ausging, sondern von den Organen der Partei getragen war und von Mitgliedern der Regierung propagiert wurde“.151 Er scheute sich noch, anders als Bonhoeffer, die traditionelle Lehre von der Unterordnung der Kirche unter die Obrigkeit, die auf den Apostel Paulus zurückgeht (Röm 13), gegenüber der nationalsozialistischen Tyrannei zu hinterfragen. In Predigten und Vorträgen wandte er sich aber gegen eine völkische Religiosität und damit auch gegen weltanschauliche Tendenzen des Nationalsozialismus.

Martin Niemöller

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