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5. Geschäftsführer und Pfarrer der Inneren Mission in Münster (1924–1931)

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Die westfälische Kirchenleitung war schon während seines Vikariats auf Niemöller aufmerksam geworden und stellte ihn als Vikar einem nebenamtlichen Konsistorialrat, dem schon erwähnten Pfarrer Kähler, zur Seite. Zum 1. Dezember 1923 bestellte ihn der westfälische Generalsuperintendent D. Wilhelm Zöllner im Einvernehmen mit dem Leiter der von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Pastor D. Friedrich von Bodelschwingh, als zweiten Geschäftsführer der Inneren Mission für die westfälische Kirchenprovinz.63 Obwohl Niemöller auf eine ländliche Pfarrstelle gehofft hatte, sagte er zu. Der Rest des Vikariats wurde ihm kurzerhand erlassen. Er hielt gerade noch am Silvesterabend in der Apostelkirche in Münster seine Examenspredigt und widmete sich danach sofort seinem neuen Amt. Die organisatorischen Fertigkeiten, die er als Geschäftsführer der Mission und als Stadtparlamentarier in Münster erwarb, wurden ihm für die spätere Zeit wichtig.

Im Kaiserreich hatte die kirchlich-diakonische Arbeit nahezu das Monopol für karitative Hilfen. Durch den neuen Staat, der säkulare Wohlfahrtspflege zum Verfassungsziel erklärt hatte, erhielt sie nun Konkurrenz. Die Innere Mission, Vorläufer des Diakonischen Werkes, sah sich in den zwanziger Jahren vor neue Aufgaben gestellt. Viele Menschen waren arbeitslos, es herrschte Wohnungsnot, und breite Bevölkerungsschichten waren verarmt.

Für Niemöller stellte sich in dieser Situation eine doppelte Aufgabe. Zum einen hatte er „die freie evangelische Liebestätigkeit in den einzelnen Städten und Kreisen zusammenzufassen und so zu gestalten, daß sie nicht von der öffentlichen Wohlfahrtspflege des Staates und der kommunalen Selbstverwaltung ausgesaugt und um ihre lebendige Kraft gebracht würde. Zu diesem Zweck war ich wochenlang unterwegs und sprach auf Synoden und Pfarrkonferenzen; zugleich hatte ich die Verhandlungen mit den staatlichen Stellen und mit der Provinzialverwaltung zu führen.“64 Das bedeutete, dass Niemöller mit seiner diakonischen Arbeit die Kirche dem als schädlich empfundenen Einfluss des Staates entziehen wollte. Dahinter stand das kirchliche Interesse, weiterhin auf die sittliche Erziehung des Volkes einzuwirken und diese nicht widerstandslos einer Behörde zu überlassen.

Niemöllers ablehnende Haltung gegenüber der Weimarer Demokratie ist typisch für den Protestantismus jener Zeit, der immer noch der Monarchie verhaftet war und nicht wahrnahm, dass der demokratische Staat ein Partner im Kampf gegen Armut und Elend war oder hätte sein können. 1983 sprach er offen von der antidemokratischen Einstellung, die ihn in den 1920er Jahren mit seinem Bruder verband: „Was wir uns vorstellten von einem zukünftigen Deutschland, das war nicht die Weimarer Republik, sondern das …, als was sich der Nationalsozialismus gab. Mein Bruder, der wurde im Jahr 1923 Mitglied der NSDAP …“65 Später war Niemöller froh, anders als sein Bruder Wilhelm sich im Pfarramt nicht an eine politische Partei gebunden zu haben.

Neben dem Bemühen um Unabhängigkeit gegenüber der Republik stand aus Niemöllers Sicht die andere Aufgabe, „daß die gesamte ‚Innere Mission‘ der Provinz mit ihren mehreren hundert Anstalten und Einrichtungen zusammengefaßt und zu einer einheitlich kirchlichen Haltung und zu einem gemeinsamen Wollen und Handeln gebracht werden mußte“.66 Niemöller erkannte, dass er die soziale Tätigkeit der Kirche und die Mission im eigenen Volk, für die Johann Hinrich Wichern den Begriff der Inneren Mission geprägt hatte, enger mit der Organisation der amtlichen Kirche und der einzelnen Gemeinden verknüpfen musste, ohne die Selbständigkeit der Inneren Mission anzutasten.

Ging es ihm darum, die verschiedenen Vereine durch Sammlung für den Kulturkampf zu stärken und die Innere Mission „zur antidemokratischen Waffe zu schmieden“?67 Niemöllers Bestreben, die Unabhängigkeit von Einrichtungen der Inneren Mission wie etwa der Krankenanstalten von Bethel zu wahren, muss im Rahmen der damaligen politischen Vorgaben sozialer Arbeit als ein Bemühen um deren christliches Profil wahrgenommen werden. Die Weimarer Behörden waren „nicht bereit …, die Einrichtungen der Inneren Mission als qualifiziert für die Betreuung von Waisen und Behinderten anzuerkennen“.68 Daraus erklärt sich, dass Niemöller und seine Mitarbeiter alles taten, um die Innere Mission von staatlichen Zuschüssen und behördlicher Einmischung unabhängig zu halten und auf eine solide finanzielle Basis zu stellen.

Bei der theologischen Konzeption für seine Arbeit ließ er sich weitgehend von Gedanken Johann Hinrich Wicherns leiten: Ein glaubender Christ, meinte er im Anschluss an Wichern, nehme am Schicksal des Nächsten teil und übe in der Nachfolge Jesu das Amt des guten Hirten aus. Die Kirche habe die Aufgabe, sich „in tätiger Liebe als die Gemeinschaft des Glaubens“69 zu erweisen. Sie müsse sich öffentlich als Volkskirche entfalten. Der Begriff ‚Volkskirche‘ war für Niemöller nicht gleichbedeutend mit „Angleichung der christlichen Botschaft an eine völkische Ideologie, sondern konkrete Erfüllung des göttlichen Missionsbefehls im deutschen Volk, allerdings mit dem besonderen Ziel, die Grundlagen für eine religiös-sittliche ‚Volksgemeinschaft‘ zu schaffen“.70

Sein erstes Büro ist ein kleines Zimmer im Diakonissenhaus von Münster. Die neue Arbeit erfordert Lust am Organisieren, diplomatisches Geschick, Freude am Reisen, lauter Eigenschaften, die wir heute als Managerqualitäten bezeichnen würden. Niemöller muss Aufgaben bewältigen, die für einen Pfarrer ungewöhnlich sind. Er modernisiert die Ausbildung der Diakonissen, Pfleger und Fürsorgerinnen, und er wird zum Bankier und Finanzmann, indem er eine eigene kirchliche Kreditbank gründet, die „Evangelische Darlehensgenossenschaft“. Sie sollte zur unabhängigen Finanzierung eigener Projekte dienen, dokumentierte aber auch Misstrauen gegenüber der Reichsbank und den Landesbanken. Mehr und mehr führt Niemöller das Leben eines Geschäftsreisenden; den größten Teil des Jahres ist er mit seinem Dienstwagen unterwegs.

Als zweiter und ab 1926 als erster Geschäftsführer hat Niemöller die Arbeitsfelder des Westfälischen Provinzialverbandes stetig erweitert und ausgebaut. Mit den zunehmenden Aufgaben vergrößerte sich auch sein Büro. Zu seiner Entlastung werden zwei weitere Pfarrer eingestellt. Wohnung und Büro liegen jetzt in einem zweistöckigen Haus aus rotem Klinkerstein, das die Innere Mission noch 1924 für den neuen Geschäftsführer bauen ließ. 1925 zogen die Niemöllers in die geräumige Wohnung im Erdgeschoss ein. In Münster wurden ihre nächsten drei Kinder geboren: Jan Heinrich (∗1925), Hertha (∗1927) und Jutta (∗1928). Erst beim jüngsten Sohn Martin Friedrich Eberhard (∗1935), der während des Kirchenkampfes zur Welt kommt, wird Niemöller von der Familientradition der Namengebung abweichen: Er erhält die Vornamen der drei Pfarrer, die damals in Dahlem gut zusammenarbeiteten.

Nebenbei beendete Niemöller sein Studium und absolvierte Anfang Mai 1924 seine Abschlussprüfung.71 Am 29. Juni 1924 wurde er mit zwei weiteren Pfarrern in der Erlöserkirche zu Münster von Oberkonsistorialrat Simon ordiniert; der Vater Heinrich Niemöller war als Assistent beteiligt. Als dem Ältesten der drei fiel Niemöller die Predigt zu. Er wählte dafür das Pauluswort: „Nicht, daß ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin!“ (Phil 3,12) Bezeichnend ist, wie er dieses Wort auslegt: „Wer in seinen eigenen Augen fertig ist, ist vor Gott nicht vollkommen; wer aber in Gottes Augen vollkommen ist, ist vor sich selber niemals fertig!“72 Am Nachmittag desselben Tages taufte Niemöller in der Wohnung seinen Sohn Heinz Hermann (∗1924). Der Schreibtisch diente als Taufaltar, das Fenster war verhängt mit der letzten Flagge von UC 67, der Reichskriegsflagge, unter der der U-Boot-Kommandant mit seinem Boot am 29. November 1918 in Kiel eingelaufen war.


Abb. 10: Martin und Else Niemöller mit 2 Kindern (Jochen und Martin), ca. 1936.

Die Haustaufe, damals noch üblich, ist bezeichnend dafür, wie sich bei Niemöller familiäre und deutschnationale Bindungen mit evangelischer Frömmigkeit verbanden. Damit stimmte die Rolle der Ehefrau und Mutter überein. Kindererziehung war ihre Sache, das entsprach der traditionellen Rollenzuschreibung. Der Vater hat für die Familie wenig Zeit. Gelegentlich übernimmt er im Studierzimmer die Beaufsichtigung eines Kindes, unterbricht aber seine Arbeit nicht: „Dazu rauchte ich eine lange Pfeife und hüllte mich in eine dicke Qualmwolke, während ich zugleich meinen Sohn Hans Jochen zu beaufsichtigen hatte, der in seiner Wiege neben meinem Schreibtisch stand und sich frühzeitig und gründlich an ein verräuchertes Studierzimmer gewöhnte. Er hatte es darin nicht besser, als es sein Vater als kleines Kind gehabt hatte. Und auf diese Weise wurde eine Tradition weitergegeben.“73

Irgendwann zwischen 1925 und 1927 kam es im Haus des Kirchenhistorikers Georg Wehrung zur ersten Begegnung Niemöllers mit seinem späteren Freund Karl Barth, der viele Jahre danach von diesem Treffen erzählte: „Ich erinnere mich sehr deutlich, wie die Tür sich öffnete und wie dann in der Ecke hinter der Türe ein schlank aufgeschossener junger, nicht mehr ganz junger Mann dastand und mich scharf fixierte, und mein Eindruck war, daß ich ihm nicht eben sympathisch war, und mir meinerseits hat er eher eine gewisse Furcht eingeflößt durch sein stramm militärisches Wesen. Martin Niemöller und ich waren wohl … – und sind’s wohl bis heute – zwei sehr verschiedene Geschöpfe Gottes: er … ein westfälischer Preuße oder ein preußischer Westfale und ich ein Schweizer.“74

Im katholischen Münster bildeten die Evangelischen eine Minderheit. Niemöller stellte fest, dass sie im Stadtparlament nicht repräsentiert waren. Er ergriff die Initiative, um eine evangelische Fraktion aufzustellen. Im November 1929 zog sie ins Parlament ein, bestehend aus sieben Abgeordneten und Niemöller als Fraktionsführer. Keiner von ihnen gehörte einer politischen Partei an. Daran wird Niemöller sich auch später halten. „Ich bin kein Politiker“, antwortet er, wenn Freunde oder Gegner ihn nach parteipolitischen Gesichtspunkten beurteilen.75

Obwohl Niemöller in Münster eine erfolgreiche Arbeit leistete, die ihm vielseitig und interessant erschien, befriedigten ihn seine Aufgaben auf die Dauer nicht. Seine Frau Else und er hofften noch immer, „nach den Jahren der fortgesetzten Unruhe und Sorge … würde einmal eine Zeit kommen, in der wir uns einer stillen und ganz auf das Wesentliche gerichteten Gemeindearbeit würden widmen können. Jetzt kam das gerade Gegenteil: Besprechungen und Sitzungen, Reisen und Vorträge, Umgang mit Pfarrern und Behörden, Organisation und Finanzfragen.“76 Niemöller fand sich in diese Aufgaben hinein. Er lernte die Kunst der Gremienarbeit, hielt aber auch Kontakt zu westfälischen Gemeinden, für deren Kollekten er im Auftrag der Kirchenregierung zuständig war. Aus den Erfahrungen mit ihnen nimmt er die Erkenntnis mit, „daß eine Gemeinde mehr ist als das Objekt kirchenregimentlicher Aktivität oder gar Willkür. Umgekehrt: daß die Gesamtkirche nur dann von wirklichem Leben erfüllt ist, wenn sie das Entstehen starker und selbständiger Gemeinden duldet und fördert.“77

Im siebenten Jahr seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Inneren Mission sehnte Niemöller sich nach neuen Aufgaben. Seine Ziele, der einheitliche Aufbau von Jugend- und Wohlfahrtsämtern in der Kirchenprovinz und die Sicherstellung missionarischer und karitativer Arbeit, waren erreicht.78 Als ihm die vorgesetzte Behörde die Anstellung eines neuen Mitarbeiters verweigert, kündigt er zum nächstmöglichen Termin. Proteste seines Vaters schlägt er in den Wind. Niemöller beginnt, sich nach einer Pfarrstelle umzusehen. Schließlich erhält er im Frühling 1931 ein überraschendes Angebot aus Berlin, wo der Vater im Hintergrund Fäden geknüpft hatte: Er soll dritter Pfarrer im Gemeindebezirk Dahlem werden. In der preußischen Landeskirche galt diese Stelle in der Reichshauptstadt als eine der begehrtesten Pfarreien. Niemöller reist nach Berlin. Die Kollegen gefallen ihm. Er vereinbart mit ihnen, seine neue Stelle am 1. Juli 1931 anzutreten. In der letzten Juniwoche ziehen Martin und Else Niemöller mit ihren sechs Kindern in eine 7-Zimmer-Pfarrwohnung in der Podbielskiallee 20 ein.

Martin Niemöller

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