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2. Seekadett und U-Boot-Kommandant (1910–1919)

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Die Marine war das Lieblingskind des Kaisers. Im kaisertreuen Elternhaus lag es daher nahe, dass Martin früh den Entschluss fasste, zur Marine zu gehen. Das Deutsche Reich wollte als Kolonialmacht Weltgeltung erlangen. Großadmiral Alfred von Tirpitz trieb den Flottenbau voran. Und seine Propaganda scheint auch den Schüler Martin Niemöller mitgerissen zu haben.23 Schon mit fünf Jahren wollte er Marineoffizier werden. Wie andere Jungen trug er sonntags den „Matrosenanzug“. In seinem Dachzimmer hing unter einer Menge von Bildern auch ein Werbeplakat der Marine, auf dem sämtliche Schiffstypen der deutschen Flotte verzeichnet waren. Martin kennt sie auswendig. Er malt immerzu Schiffe, seine Schwestern müssen ihm Flaggen nähen. Mit Nachhilfestunden verdient er sich das Geld für eine ansehnliche Marine-Bibliothek. Der Sechzehnjährige reist 1908 nach London, erkundet die Stadt mit dem Pferdebus und sucht die Themse mit ihren Docks und den Schiffen auf.

Zielstrebig erfüllte er sich seinen Traum. Er wurde Seekadett, 1912 Leutnant zur See. 1915 meldete er sich freiwillig zur U-Boot-Flottille, im Juni 1918 bekam er sein erstes Kommando auf einem U-Boot. Seine militärischen Erfolge wurden vom Kaiser als „sehr gut“ honoriert. Ein geradliniger Weg, so scheint es im Nachhinein, hatte ihn zum Ziel seiner Wünsche geführt.


Abb. 5: Martin Niemöller und sein Freund Hermann Bremer als Seekadetten, ca. 1910.

Im März 1910 war er als Seekadett in die kaiserliche Marine eingetreten, für einen Pfarrerssohn keineswegs ungewöhnlich, denn der Beruf des Offiziers war in der Kirche geachtet. Zu Beginn des Jahrhunderts teilten Vater und Sohn Niemöller mit vielen Deutschen die Auffassung, dass das Vaterland durch militärische Siege „einig und stark geworden ist“.24 Wie seine Eltern war auch der Sohn von der Richtigkeit des in der evangelischen Kirche allgemein geltenden Grundsatzes überzeugt: „Ein guter Christ ist auch ein guter Staatsbürger, und ein guter Christ ist auch ein guter Soldat“.25 Später erinnerte sich Niemöller:

„Ja, daß man als Christ Soldat sein konnte, war damals überhaupt noch kein Problem. Ich habe während des ganzen Krieges, während meiner ganzen U-Boot-Zeit immer meine Taschenbibel bei mir gehabt und habe auch häufig drin gelesen und daraus zu leben versucht, wie man das damals verstand. Das war eben noch: Man ist Christ und man ist Deutscher.“26

Nach der Grundausbildung an der Marineschule in Flensburg-Mürwik legte er zusammen mit anderen Kadetten am 7. Mai 1910 in der Kieler Garnisonskirche den Treueid auf den Kaiser ab. Den Fahneneid verstand er nicht nur als Treuebindung an das Kaiserhaus. Vor allem fühlte er sich durch ihn verpflichtet, „jeden Schaden von Volk und Vaterland abzuwenden“.27 Niemöller wurde zunächst auf das Schulschiff „Hertha“ abkommandiert, dann kam er auf die „Idiotenschaukel“, wie die alte „Thüringen“ genannt wurde. Seine Vorgesetzten entdeckten bald seine Fähigkeiten und schickten ihn zu einer Sonderausbildung als Torpedooffizier. Anfang 1913 kehrte Niemöller im Rang eines Oberleutnants zur See auf das Schlachtschiff zurück.

Nach Kriegsausbruch wurde die „Thüringen“ zur Enttäuschung ihrer Besatzung nach Wilhelmshaven zurückbeordert. Niemöller, der als zweiter Torpedooffizier vergeblich auf einen Einsatz gewartet hatte, meldete sich zur U-Boot-Flottille. Wie seine Kameraden wollte er dem langweiligen Wachdienst entkommen: „Wir jungen Leutnants träumten von Fliegerei und Unterseebooten, von Torpedobooten und Luftschiffen; denn freilich war es hart, sein Leben nutzlos als Wachhabender, mit der Schärpe um den Leib, an Deck eines zu Anker liegenden 23.000 Tonnen Schiffes zuzubringen, während Kameraden und Freunde den Krieg führten, in dem das ganze junge Deutschland sein Leben einsetzte.“28 Nach einem weiteren mehrmonatigen Ausbildungslehrgang wurde Niemöller im Februar 1916 zweiter Wachoffizier auf einem Minenboot. U 73 galt wegen seines schlechten Zustands als „schwimmender Sarg“. Dennoch gelang es bei zwei Einsätzen hin und wieder, ein feindliches Schiff zu versenken.


Abb. 6: Ein Schlachtschiff (SMS „Thüringen“) beim Torpedosetzen. Postkarte, ca. 1913. Im Vordergrund, Zweiter von rechts: Niemöller.

Als Niemöller erfuhr, dass der Kapitän eines anderen U-Boots einen Offizier mit seinen Qualifikationen suchte, ließ er sich dorthin versetzen und fuhr im Januar 1917 als Steuermann von U 39 im östlichen Mittelmeer. Nach einem kurzen Innendienst beim Admiralstab (Mittelmeerabteilung) in Berlin kam er im Juni 1917 als erster Offizier auf U 151, ein neues Unterseeboot mit 80-köpfiger Besatzung. U 151 stellte mit ihm an Bord einen Rekord auf: Es unternahm die längste Reise eines deutschen U-Boots auf See im Ersten Weltkrieg. Der erste Offizier hielt den Erfolg in seinem Kriegstagebuch fest: „Die längste Kriegsfahrt eines deutschen U-Bootes ist beendet: 114 Seetage; 11.400 Seemeilen Marsch; rund 50.000 Tonnen versenkt, nämlich 9 Dampfer, 5 Segler und 1 Zerstörer mit zusammen 17 Geschützen.“29 Mit derselben Präzision und Knappheit wird der spätere Pfarrer seine Tagebücher und Pfarramtskalender führen.

Im Mai/Juni 1918 war es so weit: Der Oberleutnant zur See Martin Niemöller erhielt sein erstes Kommando auf UC 67. Das Boot legt Minen, weicht feindlichen Flugzeugen und Schiffen aus und versenkt mehrere Schiffe. Noch Jahre später schwärmt er: „UC 67 erwies sich als ein feines Boot: Es lief mit seinen Dieselmaschinen noch immer seine guten 12,5 Seemeilen, tauchte wie eine Ente und hatte hervorragende Seeeigenschaften über und unter Wasser.“30 Kein Zweifel, Niemöller war von der Kriegstechnik jener Zeit fasziniert.


Abb. 7: Zeichnung eines Kriegsschiffs mit Niemöllers Unterschrift, ca. 1917.

In seinem späteren Erinnerungsbuch „Vom U-Boot zur Kanzel“ (1934) griff Niemöller auf seine Kriegstagebücher zurück, um möglichst genau von seinen Erlebnissen als Marineoffizier berichten zu können. Diese Erlebnisberichte bilden den Hauptteil des Buches. Wie andere U-Boot-Kommandanten hatte er die getroffenen und sinkenden Gegner fotografiert und konnte seine Berichte daher mit Bildern der versenkten feindlichen Schiffe illustrieren. Das Buch, geschrieben im Auftrag seines Verlegers, sollte beweisen, „daß ein guter Christ zugleich ein nationaler Mann sein könne“.31

Liest man heute seine Selbstbiographie, so ist deutlich zu spüren, mit welchem Stolz Niemöller auf die Jahre des U-Boot-Krieges zurückblickte und wie sehr ihn die Niederlage des kaiserlichen Deutschland, das Ende der Hohenzollernherrschaft in der Novemberrevolution von 1918, getroffen hatte – nicht nur in seinen persönlichen Lebensplänen, sondern auch in seiner gesamten inneren Haltung. Er trauerte der vergangenen „deutschen Herrlichkeit“ nach, stand der bürgerlichen Republik von Weimar ausgesprochen ablehnend gegenüber und hoffte darauf, dass sein Vaterland – sprich: das imperiale Deutschland – seine vormalige Weltgeltung gegenüber den anderen Mächten wiedererlangen würde.32

Jahre später zeichnete Niemöller Kriegsschiffe in seinen Amtskalender. Noch im Alter erzählte er am liebsten von den Abenteuern, die er als Marineoffizier im Ersten Weltkrieg erlebt hatte.33 In seinem Arbeitszimmer bewahrte er Bildreihen sinkender Schiffe von Kriegsgegnern bis zu seinem Tode sorgfältig auf.

Nach dem Ersten Weltkrieg ist Niemöllers nationalkonservative Weltsicht tief erschüttert („Damals versank in mir eine Welt“). Mit der neuen demokratischen Staatsform kann er sich nicht abfinden. Der Weimarer Republik steht er ablehnend gegenüber, wie sein Erinnerungsbuch deutlich erkennen lässt: „Es kam mir zum Bewußtsein, […] daß ich es einfach nicht fertigbringen würde, dem neuen Staat, dessen Grundlinien schon erkennbar wurden, als Soldat zu dienen“.34 In seinem Gewissen fühlt er sich noch immer dem Kaiser zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Deswegen ist es für ihn völlig ausgeschlossen, dem Befehl zu folgen, U-Boote gemäß den Friedensverträgen an England auszuliefern. Niemöller verlangt einen Gesprächstermin beim Generalinspekteur. Als dieser ihn fragt, warum er sich dem Befehl widersetze, antwortet er: „Herr Kommodore, ich bin drei Jahre auf U-Booten gegen England gefahren; ich habe diesen Waffenstillstand nicht gewollt und nicht geschlossen. Meinetwegen können die Leute unsere U-Boote nach England bringen, die das versprochen haben. Ich tue es nicht!“35


Abb. 8: Niemöller als Marineoffizier.

Das klang respektlos, war aber für Niemöller keine Befehlsverweigerung. Die Weisungen der Verwalter der Revolution erkannte er nicht an. Er handelte im Gehorsam gegen den Kaiser, der, obschon bereits im Exil, für ihn noch immer die höchste politische Autorität war. „Ich habe Wilhelm II. einen Eid geschworen. Und der Eid hat mich nach 1918 belastet und mich eigentlich erst freigegeben, als ich 1941 im KZ die Nachricht bekam, daß der Kaiser gestorben war.“36

Genauso wie Niemöller dachten seine Offizierskollegen in der Marine. In ihren Augen waren die von den Politikern ausgehandelten Bedingungen des Waffenstillstands eine tiefe Demütigung. Wie Niemöller waren viele deutsche Offiziere enttäuscht über die Kapitulation der Regierung, die ihren tapferen vierjährigen Kampf völlig entwertete. Jahre später gestand ihm der ehemalige Kommodore Heinrich im vertraulichen Gespräch, dass er innerlich auf der Seite des aufsässigen Offiziers gestanden hatte.

Niemöller zweifelte nicht, wer die Schuld an der Niederlage trug: „Auf die Bundesgenossen war kein Verlaß mehr; aber, daß gerade in diesem Augenblick im deutschen Volk die selbstmörderische Zwietracht geschürt wurde, das war das Verbrechen von 1918.“37 Mit Recht sieht Matthias Schreiber in diesen Sätzen die ‚Dolchstoßlegende‘ in Reinform ausgedrückt. Niemöller habe, wie viele Deutschnationale, die Niederlage der unbezwingbaren deutschen Armee nicht als durch den äußeren Feind herbeigeführt gesehen, sondern durch den inneren, die ‚rote Revolution‘. Dass sich mit der Legende vom Vaterlandsverrat durch die Arbeiterschaft, noch vor der Konstitution der Weimarer Republik, bereits ihr Ende abzeichnete, konnte damals noch niemand wissen.

Martin Niemöller

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