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I. Vom Marineoffizier zum Pfarrer in Berlin-Dahlem 1. Kindheit und Jugend in Lippstadt und Wuppertal-Elberfeld (1892–1910)

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Am 14. Januar 1892, einem Donnerstag, wurde Martin Niemöller in Lippstadt/Westfalen geboren. Ein evangelischer Preuße! Geburtsort und Elternhaus machten ihn dazu. Landesherr war Wilhelm II. von Hohenzollern, König von Preußen und deutscher Kaiser, zugleich auch oberster Bischof (summus episcopus) der evangelischen Kirchen der altpreußischen Union, deren Geist Niemöllers Elternhaus erfüllte. Dass der Junge den Vornamen Martin erhielt, war ein Bekenntnis zu Martin Luther und zur Reformation. Lippstadt war die erste Stadt in Westfalen gewesen, die sich der Reformation angeschlossen hatte. Im alten Pfarrhaus in der Brüderstraße 13 verbrachte er die ersten acht Lebensjahre.

Der Vater Heinrich Niemöller (1859–1941) war lutherischer Pfarrer in Lippstadt, seit 1900 in der Arbeitergemeinde Elberfeld. Er war Sohn eines Dorfschullehrers und Organisten. Bauern und Müller gehören zu seinen Vorfahren. Seine politische Haltung war, wie die der meisten evangelischen Pfarrer, kaisertreu und deutschnational. Martins Mutter Paula, geb. Müller (1868–1956), eine Kaufmannstochter, stammte mütterlicherseits aus hugenottischer Familie. Der älteste Sohn Heinrich starb 1894 im Alter von 4 Jahren. Martin (geb. 1892) bekam noch vier Geschwister: Magdalene (geb. 1894), Pauline (geb. 1896), Wilhelm (geb. 1898) und Maria (geb. 1901). Der jüngere Bruder Wilhelm (1898–1983) wurde Pfarrer in Bielefeld und Kirchenhistoriker, der sich vor allem der Erforschung und Darstellung des Kirchenkampfes während der NS-Zeit widmete.

Beide Eltern waren reformiert getauft. Der Vater wurde aber durch seine Schulzeit in Schulpforta sowie durch Amtsverständnis und pastorale Lebensführung zum „Lutheraner“. Sein ökumenisches Interesse und seine diakonische Arbeit bewahrten ihn freilich vor konfessionalistischer Enge.3


Abb. 2: Marienkirche und Geburtshaus in Lippstadt/Westfalen.

Es war ein typisches evangelisches Pfarrhaus, in dem Martin aufwuchs. Die Pfarrersfamilie galt als Vorbild für das Gemeindeleben; mit Hausandachten und Gebeten lebte sie der Gemeinde evangelisches Christsein vor. Martin Luther und seine Frau Katharina von Bora hatten für dieses Lebensmodell Maßstäbe gesetzt, auch für den Kinderreichtum der Pfarrfamilie. Heinrich Niemöller orientierte sich am Vorbild des Hausvaters Luther, „unser lieber ‚Vater Luther‘“, wie er ihn in patriarchaler Herzlichkeit nannte.4 Im 19. Jahrhundert wurde das Pfarrhaus als Inbegriff bürgerlicher Erziehung gerühmt. Musik, Literatur und Philosophie wurden gepflegt. Viele prominente Schriftsteller, Philosophen und Gelehrte kamen aus dem protestantischen Pfarrhaus. Hier wurden soziale Tugenden eines bürgerlich disziplinierten, „ordentlichen“ Lebens eingeübt.

Martin wird ein wilder, eigenwilliger Junge. Vom Vater mögen seine westfälische Zähigkeit und Ausdauer, sein Pflichtbewusstsein und seine Arbeitskraft und sein klarer Blick für die Realitäten des Lebens ererbt sein, von der Mutter hat er das lebhafte Temperament, das starke Reaktionsvermögen, die Fähigkeit, das Wesentliche zu sehen, und die Unbestechlichkeit des Urteils.5 Was ihn besonders charakterisiert: „er will alles genau wissen“.6 Seine Spielsachen nimmt er auseinander, um herauszufinden, wie sie zusammengesetzt sind. Der Junge weiß schon früh, was er will, und erweist sich als begabter Schüler, der zielstrebig seinen Weg geht. Wie es scheint, trägt Martin bereits im Umgang mit den Geschwistern und Schulkameraden Züge einer Führungspersönlichkeit. Später wird er die Schülerkapelle des Gymnasiums leiten, bei der er sich allerdings, anders als bei den Geschwistern, erst Respekt erwerben muss.

Mit seinen Geschwistern wächst er relativ frei auf. Was ihm im Pfarrhaus zuteilwird, ist keine enge, falsch verstandene christliche Erziehung. „Meine ganze Moral habe ich aus einem Gespräch als 18-Jähriger mit meinem Vater: ‚Junge, Du darfst alles tun, wofür Du hinterher Gott danken kannst.‘“7 Das erste Buch, an das er sich später erinnern kann, ist eine Bilderbibel. 1898, zum ersten Schulgang, bekommt er von seiner Patentante sein erstes Buch geschenkt: das evangelische Gesangbuch von Westfalen.8


Abb. 3: Die Eltern: Heinrich und Paula Niemöller, geb. Müller, ca. 1937.

Im Elternhaus wird auf ein geordnetes gemeinsames Leben Wert gelegt. Der Vater war überzeugt, es sei „jedes christlichen Hausvaters selbstverständliche Pflicht, ‚Hauspriester‘ zu sein“ und „dem Worte Gottes, dem evangelischen Lied im Hause weiten Raum zu schaffen“.9 Dass er sich danach verhielt, bekräftigt Wilhelm Niemöller in seinem Buch über den „Vater Niemöller“:

„Der Hausvater sorgte für Ordnung und Pünktlichkeit. Es war ihm nicht gleichgültig, was aus den Schularbeiten seiner Kinder wurde. Aber er verlangte zum mindesten saubere Schrift und gute Ordnung, wie er auch von Zeit zu Zeit in den Stuben der Kinder erschien wie ein ‚Unteroffizier vom Dienst‘. (…) Die Morgen- und Abendandacht wurde – oft unter erheblichen Schwierigkeiten – regelmäßig gehalten. Da wurde viel gesungen und aus dem ‚Pilgerstab‘ von Spengler die Andacht gelesen. Der Sonntag fand die Familie im Gotteshaus beisammen. Da der Vater in Elberfeld in verschiedenen Kirchen der großen Gemeinde herumpredigen mußte, kam oft ein ansehnlicher Kirchweg zustande. Die ganze Familie zog dann mit dem Gesangbuch unter dem Arm hinter dem Prediger her.“10

Der Sohn beschreibt die unterschiedlichen Charaktere der Eltern: „Er war die harmonische Ruhe, sie war voller Temperament; er blickte in die Weite, sie sorgte, daß das Nächstliegende recht getan wurde; vielleicht kann man sagen: Er war das Herz und sie die Seele des Hauses.“11 Im Porträt der Mutter Paula hat er die Rolle der Pfarrfrau geradezu klassisch beschrieben. „Der Geist im Pfarrhaus“, so der Landpfarrer Carl Büchsel in seinen Erinnerungen, „hängt davon ab, wes Geistes Kind die Frau Pastorin ist.“12 Wie um dies zu bestätigen, berichtet Wilhelm Niemöller: „Sie hielt ihm den Rücken frei für seine große Arbeitsleistung und seine ausgedehnte Reisetätigkeit. Sie sorgte dafür, daß alle Sorgen des täglichen Lebens von ihm ferngehalten wurden. Sie trug die Hauptlast der Kindererziehung. Sie schrieb seine Manuskripte für die Drucklegung bis in die Nächte hinein. Sie schlug sich mit Kindern und Haushalt durch, wenn er auf lange Reisen ging.“13


Abb. 4: Martin Niemöller (Mitte) mit zwei Geschwistern: Wilhelm und Magdalene. Ausschnitt aus Familienfoto, ca. 1898.

Martin Niemöller schreibt, wie er selbst als Kind den Rhythmus im Pfarrhaus erlebte und was ihm dort mitgegeben wurde:

„Wir sind im Pfarrhaus aufgewachsen; und in Elberfeld wie in Lippstadt stand das Haus im Schutz einer Kirche: Die Kirchenglocken haben jeden unserer Tage eingeläutet und beschlossen, und wir haben die Kirche liebgewonnen als unsere zweite Heimat. Jeder Tag begann mit Gottes Wort, und am Abend war es das letzte, was wir hörten; es war ein starkes und frohes Wort, das uns geleitete, und es war ein starkes und fröhliches Leben, das uns umgab und trug; […] man kann über die Möglichkeiten einer christlichen Erziehung denken, wie man will; aber daß der Geist eines frommen Elternhauses mit zu den entscheidenden Gestaltungskräften eines Menschenlebens gehören kann, duldet für mich nach meinen eigenen Lebenserfahrungen keinen Zweifel; ja, es wird immer deutlicher, wie stark die ersten Eindrücke aus den Kinderjahren im elterlichen Pfarrhaus nicht allein als Erinnerung in mir lebendig geblieben sind, sondern in Jahrzehnten weitergewachsen sind und sich heute noch auswirken.“14

Deutlich wird hier die Atmosphäre des Pfarrhauses erkennbar, in der das biblische Wort das gemeinsame Leben bestimmt – so bildet sich protestantische Mentalität. Der Vater ist und bleibt für Martin eine prägende Gestalt. Heinrich Niemöller hat es lieber mit Menschen als mit Büchern zu tun, was ihn freilich nicht hindert, Bücher zu schreiben. Er konzentriert sich auf Predigt und Seelsorge, macht viele Besuche. Jede seiner Predigten schreibt er mit der Hand, eine Angewohnheit, die der Sohn von ihm übernimmt.15 Wie sein Vater hat Martin Niemöller „zeitlebens vor allem aus dem direkten Umgang mit Menschen gelernt“.16 Der Vater mit seinem ausgeglichenen, harmonischen Wesen ist es auch, der der Vorstellung des Sohnes von Jesus als dem jederzeit ansprechbaren Lehrer, Freund und Beschützer einen stabilen emotionalen Hintergrund gibt.

Der knapp Neunjährige begleitete in Elberfeld seinen Vater bei Hausbesuchen. Einmal saß er in der Stube eines frommen Webers, während der Vater mit dem Sterbenden betete. Ein Wandspruch im Rahmen, mit Glasperlen auf schwarzen Samt gestickt, fiel ihm an der weiß gekalkten Wand ins Auge: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Der Satz wurde zum vielzitierten Leitmotiv seiner Frömmigkeit. In seinen letzten Lebensjahren resümierte Niemöller: „Ich bin in punkto christlicher Ethik heute nicht schlauer als damals …“17

Der deutsche Protestantismus jener Zeit zeigte sich vaterländisch und kaisertreu. Die Atmosphäre im Pfarrhaus ist weltoffen, aber „Kaisertreue und ‚vaterländische Gesinnung‘ werden als notwendige Attribute christlicher Existenz empfunden“.18 Für Heinrich Niemöller hat die Verbindung von Thron und Altar nichts Fragwürdiges. Als Wilhelm II. 1892 unter Glockengeläut in die Wittenberger Schlosskirche einzog, stand der Pastor aus Lippstadt in Talar, Beffchen und Barett am Straßenrand. Im Hochgefühl deutsch-protestantischer Begeisterung wirft er sein Barett hoch in die Luft, als Fanfaren das Nahen des Kaiserpaars ankündigen.

Im Herbst 1898 darf er bei einer Fahrt nach Palästina dabei sein, als Kaiser Wilhelm II. in Jerusalem eine deutsche Kirche einweiht. Bei der Überfahrt bewegt er sich im Kreis höherer Geistlicher, die das Kaiserpaar umgeben. Der Kaiser hat das Deutsche Reich zu einem Weltreich erklärt. Beim Festakt in Jerusalem hat der Kaiser als oberster Bischof der preußischen Kirchen einen imposanten Auftritt. Er fühlt sich als Schutzherr der christlichen Völker Europas. Vor dem Altar der Erlöserkirche ruft er die Versammlung auf, der „reinen Lehre des Evangeliums und unserer teuren evangelischen Kirche“ die Treue zu halten.19

So konservativ sein Verhältnis zu Kaiser und Vaterland ist, so aufgeschlossen steht Heinrich Niemöller einem Mann wie Johann Hinrich Wichern und Pastoren wie Stoecker und Naumann gegenüber, die sich für soziale Reformen einsetzten.20 Ein Pfarrer hatte sich zwar nach seiner Ansicht vor allem um Predigt und Seelsorge zu kümmern. Aber das schloss nicht aus, nach neuen Wegen zu suchen, wie man die ‚soziale Frage‘ lösen konnte. Er war beeindruckt von Adolf Stoecker, der zeitweise Hofprediger Kaiser Wilhelms II. war und sich politisch für einen christlichen Sozialismus engagierte. Der Hofprediger kam einmal sogar nach Lippstadt, um die Pfarrei zu besuchen. Stoecker fiel 1896 wegen seines politischen Amtsverständnisses beim Kaiser in Ungnade. Für Wilhelm II. waren politische Pastoren „ein Unding“. Ein Christ, so dekretierte Seine Majestät, sei „auch sozial, christlichsozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit, beides dem Christentum schnurstracks zuwiderlaufend. Die Herren Pastoren sollen sich um die Seelen ihrer Gemeinden kümmern, die Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiele lassen, dieweil sie das gar nichts angeht.“21

Das Interesse an der ‚sozialen Frage‘ dürfte Heinrich Niemöller nach 16 Jahren Pfarramt in Lippstadt zum Stellenwechsel veranlasst haben. Mit den Eltern zog Martin 1900 nach Wuppertal-Elberfeld, wo der Vater Pfarrer in einer Arbeitergemeinde wurde.

Am Gymnasium interessiert sich Martin für Mathematik und Physik. Dankbar erinnert er sich später an seine Lehrer. Nur der Religionsunterricht sei schlecht gewesen, weil er am Leben vorbeiging.22 Im Frühjahr 1910 legte er als Jahrgangsbester das Abitur ab.

Martin Niemöller

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