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6. Kapitel

Lagebesprechung in der Bauabteilung

Wir trauen unseren Augen nicht. Ist das wirklich wahr? Der Besprechungsraumtisch ist geschmückt mit frischen Plätzchen, diesmal aber gebacken in der Form lauter unterschiedlich großer Würfel. Einmal sind die Würfel mit Zuckerguss, andere wiederum mit bunten Streuseln bedeckt. Stolz lächeln Frau Notvertrete und Ihre Cousine in den Besprechungsraum. Dabei tänzeln sie noch im Wiegeschritt der vorabendlichen Tanzdarbietungen. Die beiden haben echt gute Laune.

Meine Sorge ist sofort, dass jetzt Echt-Natron nicht das macht, was sein Name verheißt. Ich beschwichtige ihn mit oft erprobter Körpersprache. Er solle bitte nicht aufbrausen. Die Frauen haben es lieb gemeint und wollten offensichtlich den Schwung von gestern Abend mitnehmen. Echt-Natron lässt sich beruhigen und würdigt grummelnd die Backperformance. Allerdings, so mahnt er an, sollten die Würfel vor dem Erscheinen des Architekten vom Tisch verschwunden sein. In Erinnerung an seine merkwürdigen Auftritte während und nach der Party gestern Abend denken wir, dass der Anblick einer geometrischen Würfelfigur beim Architekten derzeit traumatische Reaktionen auslösen wird.

Die Beratungen werden nach der überaus weinselig fröhlichen Unterbrechung von gestern Abend fortgesetzt. Zunächst intern zwischen Architekt, Bodengutachter und Bauleitung. Später soll die Projektsteuerung hinzukommen, heute unterbrechen sie wohl ihre religiöse Litanei. San-Rah betritt stolzen Schrittes den Raum. Er sieht irgendwie verändert aus. Nach einer kurzen Begrüßung macht er die Arme breit, hebt den Kopf erhaben in Richtung Raumdecke und ruft mit theatralischer Stimme: „Schminken wir uns den Cheopswürfel ab“. Er macht eine dramaturgisch beabsichtigte Pause und fährt bedeutungsvoll fort: „Die Budgetvorgabe von Cheops und den Hohen Priestern reicht nicht. Alle meine Mitarbeiter habe ich nochmals nachrechnen lassen, alle nur denkbaren Modelle bis ins Detail nachgeprüft. Was bleibt, ist die Gewissheit einer Katastrophe“. San-Rah beschwört nochmal das intensive Studium des Vertrages unter dem Punkt Kosteneinhaltung des Budgets. „Aus meinem Verständnis ist da sinngemäß vereinbart, dass bei Kostenüberschreitung das Richtfest einen unangenehmen Ausführungsmodus erhalten kann. Statt Freibier, Lammhaxen und Tanz in allen Räumen obliegt es dem Auftraggeber, mit einem Richtschwert die Schuldigen der Kostenüberschreitung zu bestrafen. Dadurch wird der Name „Richtfest“ in einem neuen grausigen Licht interpretierbar. Makaber formuliert können wir davon ausgehen, dass es in jedem Fall zum Richtfest eine Kapelle geben wird. Je nach Stand der Kostenentwicklung entweder für den Tanz oder für unsere Totenmesse. Also, nach Vertragslage sind wir eigentlich schon tot.“ Der Architekt sackt in sich zusammen und nimmt Platz. Die Stimmung ist natürlich im Keller. Ich versuche einen aufmunternden Scherz und rufe pathetisch in den Raum: „Dann Freunde, schreiben wir die Partitur zum eigenen Requiem oder unternehmen wir eine Party-Tour in das Lokal mit den Musikern um Aladin“. Keiner lacht. Es herrscht bedrückende Stille, sozusagen Totenstille. Wir seufzen uns an und sehen die Hohen Priester kommen. Sie kommen, um das Projekt zu steuern. Der Bodengutachter flüstert: „Die Rampensau mit Frischlingen ist da.“ Frau Notvertrete fragt schweigend mit einem Blick auf Echt-Natron, ob denn die hohe Priesterschaft den Tischschmuck aus Gebäckwürfeln eventuell hübsch finden würde. Das kategorische Nein findet sie im finster schweigenden Antwortblick von Echt-Natron.

Sie kommen zu Fünft. Das ist viel, für das was sie tun müssen. Das Gebäck hätte also sowieso nicht gereicht. Hoch-Hart-Muth, der Anführer der ehrwürdigen Abordnung von Projektsteuerern, formuliert eine lieblose Begrüßungsformel und ergreift das Wort: „Ich fordere lückenlose Aufklärung aller aktuellen planerischen und baustellentechnischen Vorkommnisse.“

Wir schlucken und müssen verdauen, dass unsere Arbeit als Vorkommnis bezeichnet wird. Hoch-Hart-Muth ist der Höchste der Hohen Priester der Projektsteuerung. Sie haben alle vor ihrem Namen den Titel „Hoch“ stehen. Das definiert schon mal ihren besonderen Rang. Hoch-Hart-Muth ist klein, füllig und mit einem imposanten Doppelkinn im insgesamt weichen Gesicht ausgestattet. Das „Hart“ in seinem Namen ist völlig deplatziert. Was bleibt also übrig? Richtig, die beiden Silben „Hoch-Muth“. Diese treffen nun genau seinen Charakter.


Dieser höchste Priester unter den Hohen Priestern wurde als Kind von seinen Eltern auf eine gute Eliteschule nach Uruk, einer altehrwürdigen Universitätsstadt im fernen Mesopotamien geschickt und in einem Internat streng erzogen. Dort unterrichteten ihn die besten Professoren des assyrischen Reiches im Fach Gutes Internationales Wirtschaftsmanagement. Hier lernte er von der Pike auf, was es heißt, die strengen Regeln eines erfolgreichen Business durchzusetzen. Schon in frühster Jugend entwickelte sich bei ihm die Überzeugung, dass eine gesunde Wirtschaft am besten mit krankhaft strebsamen und gehorsamen Mitarbeitern zu erreichen wäre. Das Anreiz- und Belohnungssystem sei so zu steuern, dass die Produktivkräfte wie in einem Hamsterrad nach imaginären und fiktiven Belohnungen hecheln. Die Mechanismen dazu beherrschen die Absolventen derartiger Elitehochburgen aus dem Effeff. Hoch-Hart-Muth hat früh verstanden, dass das Instrument der Glaubensorientierung in den Landesgemeinden ein grandioser Wegbereiter seiner weltlichen Ziele sein kann. Über ein Zusatzstudium an der guten theologischen Fakultät für ägyptische Glaubensangelegenheiten ist er als ausgebildeter Manager ein Hoher Priester geworden. Seine Diplomarbeit mit dem Titel „Fragen zur Mumifizierung führender Leitkader schon vor dem Tod“ verteidigte er mit Auszeichnung. Eine geniale Idee, seine Karriere in der altägyptischen Kurie zu den Gipfeln der Macht zu führen. Nun ist er ganz oben und wurde mit dem Titel „Königlicher Hofprojektsteuerer“ belohnt.

Hoch-Hart-Muth grinst in die Runde und fragt: „Die Damen und Herren, wieder nüchtern? Eure wüste Party von gestern hat sich bis zum Hofe Cheops herumgesprochen. Solche peinlichen Auftritte ließen vermuten, dass die Bauabteilung nicht ausgelastet ist. Meine Wahrnehmung zum Stand des Projektes ist aber eine völlig andere. Wie ist es mit der Verpflichtung, ein vorbildliches Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit abzugeben?“ „Trinkorgien würden diese Verpflichtung konterkarieren“, meint er süffisant. „Nur in Demut und Würde können wir das Projekt stemmen“, klärt er uns weiter auf. „Das Ansehen des Projektes vor dem Steuerzahler dürfe nicht beschädigt werden. Dass die Presse noch keinen Wind davon bekommen hat, grenzt an ein Wunder“, beendet Hoch-Hart-Muth mit zufriedener Mine sein Statement. Seine vier mitgebrachten Kollegen nicken anerkennend und trauen sich nun, Kaffee einzugießen.

Wir spielen ein bisschen Betroffenheit und geloben die Einzigartigkeit des Vorfalls. Jeder macht sich seinen Reim auf den Auftritt des Projektsteuerers und möchte umgehend das weite Feld der Sprechblasen so schnell wie möglich verlassen. San-Rah beginnt den Stand der Projektvorbereitung vorzutragen. Wir tauchen ein in die Welt der Vorkommnisse.

Zunächst wird der Stand der Bearbeitung der Baugenehmigung beim Bauordnungsamt von Gizeh ein wenig gelobt. „Es läuft ganz gut, die Zusammenarbeit funktioniert. Offen seien noch ein paar Bescheinigungen auf Unbedenklichkeit der Versorgungsträger, hier insbesondere vom Amt der unteren Nilaufsichtsbehörde. Es ist beabsichtigt, große Teile der Materialtransporte über den Nil abzuwickeln. Der Bodengutachter wird für das Tiefbauamt in Gizeh eine Unbedenklichkeitserklärung formulieren. Darin soll nachgewiesen werden, dass im Zusammenhang mit den höchsten Pegelständen des Nils während der Überschwemmungszeit eine Wasserhaltung für die Steinbrüche, für die Stichkanäle der Transportschiffe und für die beabsichtigte Unterkellerung des Würfelbaus nicht erforderlich ist. Derzeit planen wir keine Einleitung von technologischem Wasser in den Nil. Bewusst wird hier ein relevanter Kostenfaktor ausgegrenzt. Die Formblattsammlung als Ergänzung zum Bauantrag wird gewissenhaft ausgefüllt und übergeben. Geklärt werden muss beim Amt, welche Farbe die Unterschriften haben müssen und an welcher Stelle in den Formblättern die Stempel gesetzt werden sollen. Dass das Amt immer noch Fluchtwegepläne und Nachweise zur Entrauchung der Hohlräume einfordert, müssen wir schnell klären. Wir werden als Planer unsere Anstrengungen verstärken, dem Amt nochmals die Funktion des Bauvorhabens zu erläutern.“

An dieser Stelle unterbreche ich den Architekten in seinen Darlegungen und frage höflich nach der Funktion des Bauwerkes, die nämlich auch der Bauleitung gänzlich unbekannt ist. San-Rah zögert kurz und fährt fort: „Dass wir das nicht selbst wissen, muss die Behörde ja nicht zwingend merken. Wir halten uns da man besten bedeckt. Können wir so verfahren?“ wendet sich der Architekt an die Gruppe der Projektsteuerleute, die sich etwas zutuscheln und zögernd nicken. San-Rah erläutert weiter: „Es gibt da so einen kleinen Mitarbeiter bei der Behörde, der einfach nicht kapieren will, dass die schrägen Schächte von den Hohlräumen an der Außenseite des Würfels kultische Funktionen erfüllen sollen. Eine Entrauchung ist auf Grund der Brandklassenzuordnung der Kalksteinblöcke nicht erforderlich und wir werden auch darauf keine Zeit mehr verwenden. Das fehle noch, dass eine ungeklärte Entrauchung ein Großprojekt behindert. Falls es auf dem Weg zur Genehmigung diesbezüglich noch Probleme geben sollte, werden wir über den Wesir für Städtebauangelegenheiten direkt beim Amt intervenieren.“ San-Rah setzt sich wieder und erteilt der Projektsteuerung das Wort.

Hoch-Hart-Muth möchte gern festhalten, dass er nicht versteht, warum die Baugenehmigung immer noch nicht erteilt wurde. „Aber Zeit zum Party machen ist wohl vorhanden“, bemerkt er zynisch. Dabei schaut er bedeutungsschwer zu seinen vier stummen Mitarbeitern, die von ihrem Chef begeistert sind.

„Kommen wir zu den Kosten“, verlangt Hoch-Hart-Muth von San-Rah. „Okay“, sagt San-Rah und ruft im Pathos, einer Exekution entgegensehen zu müssen, feierlich in den Raum: „Dass ein Wüstenwürfel in der vorgegebenen Dimension dreimal so viel kosten würde, wie die Auftraggeber zur Verfügung stellen. Ergo, der Cheopswürfel kann deshalb nicht gebaut werden. Basta.“ Der bedeutungsschwere Satz zu den Kosten ist nun ausgesprochen. Stille.

Der Architekt versucht, sich Kaffee einzugießen. Das gelingt nicht, denn seine Hände zittern. Der Strahl des heißen Getränks gelangt nicht in seine Tasse. Ein Zustand der Lähmung und der Schwerelosigkeit erfasst alle an der Besprechung Teilnehmenden. Selbst Frau Notvertrete hält beim Protokollieren inne. „Soll ich das so schreiben“, flüstert sie Echt-Natron zu. „Moment noch“, sagt er in Richtung seiner Chefsekretärin. Er erlangt als Erster die Fassung, wendet sich an Hoch-Hart-Muth und fragt nach dem Grund, weshalb die Projektsteuerung zu fünft gekommen ist.

Das große Hochstapeln

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