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1. Kapitel

Aufregung im Sekretariat der Bauabteilung

Die stetige Ost-West-Passage des Sonnengottes Re am Himmelsfirmament zeigt an, dass es später Vormittag ist. Es herrscht Windstille. Das Leben in Memphis nimmt seinen gewohnten Lauf. Die aufkommende Mittagshitze beginnt sich in der Hauptstadt durchzusetzen. Traditionell beginnen die Menschen jetzt, ihren Lebensrhythmus runterzufahren. Sie suchen schattige Plätze und bereiten ihr Mittagsschläfchen vor. Das Geschäftsleben kommt zur Ruhe. Nicht so im Sekretariat der Bauabteilung. Hier wird heute aufgeregt und hitzig debattiert. Eine Depesche, mit einem schon lange angekündigten Gutachten zum statischen Zustand der Djoser Pyramide, ist soeben aus Sakkara eingetroffen. Das Gutachten soll Dr. Djosi-Meter erstellt haben, ein gefürchteter, aber dennoch anerkannter Experte für Tragwerkzustände. Die Chefsekretärin der Bauabteilung wirft einen flüchtigen Blick in das Dokument und kann nicht glauben, was da niedergeschrieben steht.

Die Bauabteilung ist untergebracht in einem modernen Geschäftshaus direkt an der Zufahrtsstraße aus Richtung Gizeh. Ein vergoldetes Firmenschild ziert unübersehbar den Gebäudeeingang. Es dient als Wegweiser für die Besucher und informiert über die Sprechzeiten der Baufachleute. Ursprünglich war beabsichtigt, dass der Partnerarchitekt der Bauabteilung sich mit seinen Mitarbeitern im gleichen Geschäftshaus einmietet. Damit wären die Kommunikationswege der Baufachleute auf das geringste Maß verkürzt. Der Architekt hatte aber abgelehnt und es vorgezogen, ein Büro in einem ruhigeren Stadtteil, am Rande der Großstadt gelegen, zu beziehen. Dort ist dem ebenerdigen Büro ein großer Garten zugeordnet. Diese Direktbeziehung zur Natur ist dem Planer wichtig. Er findet im Garten den für Architekten so wichtigen entspannenden Freiraum zum Ordnen seiner Gedanken. Hier entstehen die Skizzen, hier bestimmen Kopf und Hand die tragenden Hauptlinien seiner Bauentwürfe. Blumenrabatte, ob künstlich angelegt oder wild gewachsen, und die wunderschönen Schmetterlinge seines Gartens inspirieren seine Farbkonzepte. Er weiß, dass sich die Natur nicht irrt. Biologischer Obstanbau wurde bereits vom Vormieter angelegt, der das Angebot des in der Nähe befindlichen Kaufmannladens an Qualität bei weitem übertrifft. Die Inanspruchnahme dieses Füllhorns der Natur ist für seine Angestellten sogar dienstrechtlich geregelt, denn der Architekt ist sich sicher, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Flaschengeist gären kann. Von unschätzbarem Wert ist, dass in seinem Garten ideale Auslaufmöglichkeiten für seinen Hund und für seine Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Bewusst wählte er für sein Büro ein Gebäude mit einem begehbaren Flachdach. So kann er mit seinen Mitarbeitern in festgelegten Intervallen Körperertüchtigung mittels Dachterrassensport betreiben.

Diese großartigen Arbeitsbedingungen können die Räume des Baubüros der Bauleitung nicht bieten. Sie liegen an einer lauten staubigen Hauptstraße. Dafür sind sie aber hell, ausreichend in der Fläche geschnitten und großzügig ausgestattet. Moderne Zu- und Abluftöffnungen sind in den Böden und Decken der Büroräume eingelassen. Ein auf dem Dach des Geschäftshauses befindlicher Luftturm bringt die Sogöffnungen in den Räumen klimatechnisch relevant in die Funktion. Raffiniert angeordnete Klappensysteme in den Öffnungen sind über eine zentrale Handsteuerung je nach Bedarf bedienbar. Die Kollegen der Haustechnik bezeichnen derartige Anlagen als Anlagen der Gebäudeleittechnik und versicherten der Bauleitung, dass sie dem neusten Stand der Technik entsprechen. Somit wird ein steter Luftumschlag erzeugt, der die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter in der Hitze des Tages erträglich macht. Ein Grund, den Kollegen der Haustechnik auch einmal dankbar zu sein.

Im Mietbereich der Bauabteilung befinden sich das Arbeitszimmer des Projektleiters, das Arbeitszimmer des Bauleiters, ein Sekretariat mit zwei Arbeitsplätzen, ein größerer Raum mit sechs Arbeitsplätzen für technische Mitarbeiter und Praktikanten, eine Plankammer mit Archiv, eine Besenkammer mit Besen, eine Teeküche für die Zubereitung von Kaffee und ein Besprechungsraum. Im Flur des Geschäftsbereiches ist das Terrarium mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Rauchmeldeleguan in Deckennähe untergebracht. Diese Tiere sind besonders geeignet, für die Zwecke des vorbeugenden Brandschutzes eingesetzt zu werden. Von Natur aus sind sie mit einem hochsensiblen Geruchssinn ausgestattet und sie sind trainiert, schon bei geringster Rauchentwicklung durchdringend quäkende Laute auszustoßen. Die Bauabteilung ist ein Konstrukt des Amtes für Städtebauangelegenheiten, welches im zentralen Pharaopalast der Hauptstadt die Fäden für Regierungs- und Sonderbauten in der Hand hält. Der Amtsleiter, ein erfahrener Wesir am Hofe des Cheops, hat den Architekten und den Projektleiter direkt berufen. Diese wiederum haben sich nach ihren eigenen Vorstellungen eine Mannschaft zusammengestellt, die die großen Projektherausforderungen stemmen kann.

Große Aufregung herrscht also im Sekretariat der Bauabteilung. Die Chefsekretärin Frau Notvertrete mahnt zur Ruhe und Besonnenheit. „Es macht keinen Sinn, sich über das Gutachten von Dr. Djosi-Meter zu echauffieren. Eigentlich kommt es genau zum richtigen Zeitpunkt“, beschwört die Chefin des Büros die verunsicherten Mitarbeiter. „Es ist in der Welt und basta, machen wir das Beste draus. Wir wissen jetzt, wie wir es nicht machen sollen“, so die entschiedene Ansage von Frau Notvertrete. Die Chefsekretärin wurde in einem aufwendigen Bewerbungsverfahren vom Projektleiter persönlich ausgewählt. Die Kriterien, die die Verfahrensteilnehmerinnen zu erfüllen hatten, waren höchst anspruchsvoll. Frau Notvertrete erfüllte diese Kriterien und wurde sofort eingestellt. Zum einen war ihre fachliche Eignung zur Besetzung der Stelle einer Büroleiterin herausragend und zum andern überzeugte sie durch ihre unglaublich feminine Ausstrahlung. Sie ist eine schöne Frau mittleren Alters, mit selbstbewusster Körpersprache und resoluter Stimme. Die Idealbesetzung schlechthin für männliche Führungskader, die Wert auf fachliche Kompetenz, Jovialität und weibliche Sinnlichkeit legen.


Frau Notvertrete ist verheiratet. Ihren Mann hat sie schon früh während ihrer Ausbildung an der Fachschule für gute Büroorganisation kennengelernt und lebt mit ihm kinderlos und bescheiden in einem kleinen Häuschen am Stadtrand. In ihrer knapp bemessenen Freizeit widmet sie sich der Beschaffung modischer Kleidung, dazu passendem Schmuck und angesagter Kosmetik. Ganz besonders liebt sie das Backen. Auch für diese Fähigkeit genießt sie in der gesamten Bauabteilung höchste Anerkennung. Kostproben ihres Backschaffens bringt sie in regelmäßigen Abständen mit ins Büro und stellt diese den Mitarbeitern zum Verzehr zur Verfügung. Besonders ihre Plätzchen sind von herausragender Qualität und verhelfen so, wenn sie den Geschäftspartnern angeboten werden, mancher Geschäftsbesprechung zum Erfolg. Die Mitarbeiter haben sich etwas beruhigt. Frau Notvertrete nimmt sich nun den Punkt der Zusammenfassung des Gutachtens vor und resümiert vor den Kollegen der Bauabteilung: „Die Kalksteinstruktur des Tragwerks der Djoser Pyramide ist miserabel, schlecht gebaut und schlampig überwacht“. Frau Notvertrete schaut vom Text auf und betont mit ihrer Mimik das ungeheuerlich Geschriebene. „Das ist dort tatsächlich formuliert. Den Baumeister Imhotep nennt der Gutachter in seinem Text sogar einen Imho-Depp!“ Wieder lässt sie den Text sinken. Betroffenheit macht sich breit. „Dieser Wortwitz sollte besser nicht an die Öffentlichkeit, denn das ägyptische Volk verehrt den Baumeister als Nationalhelden“, fügt die Chefsekretärin belehrend ein. Sie führt weiter aus, dass es lächerlich wäre, eine so kleine Pyramide, mit einer so läppischen Höhe von nur 118 und einer Grundfläche von 231 mal 208 Königsellen (2), als Stufenbauwerk auszubilden. Es wäre besser gewesen, eine scharfzügige, klar strukturierte Pyramide zu errichten. Erst dann wäre der Anspruch des Bauherrn berechtigt, ein Bauwerk erschaffen zu haben, welches nicht von dieser Welt ist. „Und was ist daraus geworden?“, fragt der Gutachter provozierend. Er antwortet im Gutachten: ein hässlicher abgestufter Steinhaufen, der mit Sicherheit spätestens in 4500 Jahren zu erodieren beginnen wird. Bei Weglassen des ganzen Firlefanzes mit den Basisbauten der Tempel, der Gräber für hohe Beamte und der Umfriedungsmauer wären die Mittel vorhanden gewesen, die Stabilität einer so kleinen Pyramide auch ohne Abstufung abzusichern. „Und dann unterschreibt Dr. Djosi-Meter noch mit freundlichen Grüßen!“ Entsetzt lässt Frau Notvertrete den Schmäh-Papyrus sinken, schaut in die Runde und ist sich sicher, dass dieses Gutachten in Fachkreisen hohe Wellen schlagen wird. Sie geht in das Dienstzimmer des Projektleiters und legt das Gutachten auf seinen Schreibtisch. Er ist derzeit unterwegs und sie kann sich in Ruhe der Überprüfung des Zustandes von Ordnung und Sauberkeit des Arbeitsbereiches ihres Chefs widmen und penibel kleinere Mängel korrigieren. Sie macht es gern, denn sie weiß, dass ihr Chef nicht die Zeit hat, auf den Tischen und in den Regalen Ordnung zu halten. Es ist gut, dass mit der Einstellung von Frau Notvertrete als Chefsekretärin eine Person in der Bauabteilung vorhanden ist, die trotz hoher und strenger Arbeitsanforderungen an die Belegschaft eine wohltuende Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt. Sie ist beliebt und wird von allen Mitarbeitern verehrt. Das Wohlwollen ihres Chefs besitzt sie im besonderen Maße, denn es kommt schon mal vor, dass üppige Blumensträuße ihren Schreibtisch zieren, die ihr der Chef persönlich arrangiert hat. Meist ist im Strauß ein kleines Kärtchen mit sympathischen Widmungen an seine Sekretärin platziert. Sie dirigiert geschickt die alltäglichen Aufgeregtheiten, besänftigt und stachelt an, je nach Bedarf und Charakter des betreffenden Mitarbeiters. Besonders in resignativen Phasen des Büropersonals ist diese Frau unersetzlich. Ein Beispiel: Wenn es nicht mehr anders geht, dann nimmt sie eine große Kamelhaardecke und verdeckt damit die an der Wand befestigten Grundrisse, Ansichten und Schnitte des gigantischen Bauwerks. Es sind die Dimensionen und die beabsichtigte Bauart, die zu akuter Schlaflosigkeit, zu plötzlichen Schwindelgefühlen und Angstzuständen bei den Mitarbeitern führen. Frau Notvertrete weiß das. Sie nimmt dann die Decke und schon ist das bedrohlich Unvorstellbare für die ängstlichen Augen nicht mehr präsent.

Die Bauabteilung mit dem Kerngeschäft der Baustellenorganisation ist vom Bauherrn zum Zwecke der Umsetzung eines in der Menschheitsgeschichte einmaligen und unvorstellbaren Bauwerks installiert worden. Sie ist direkt dem Wesir für Städtebauangelegenheiten am Hofe des großen Pharaos unterstellt. Pharao Cheops will einen Riesenquader mit quadratischer Grundfläche in den Dimensionen 440 x 440 Königsellen (2) und einer Höhe von 280 Königsellen aus gebrochenem Kalkstein und zum Teil aus Granit in hochfeinem Zustand auf einem Hochplateau am Nilufer in der Umgebung von Gizeh errichten lassen. Wozu das Ganze? Das sagt er nicht. Es lässt sich nur ahnen, dass mit der gewaltigen Größe des Bauvorhabens eine Symbolik zur Größe des Pharaos manifestiert werden soll. Welche Funktion haben die Hohlräume und Gänge im Quader? Auch das sagt er nicht. Hierzu behält er sich noch Angaben vor. Das Bauvorhaben hat etwas Bedrohliches und es darf nicht scheitern.

Das große Hochstapeln

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