Читать книгу Fernhalten. Ein Neuseeland-Roman - Miriam Rathke - Страница 10

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Auckland, 18. Februar 2010

Guten Morgen mein Liebster,

also … Morgen bei dir, Abend bei mir. Aber ich sage „Guten Morgen“, damit du weißt, dass ich bei dir bin. Jeder meiner Gedanken ist dir treu.

Der Jetlag hat mich weiterhin arg im Griff. Ich bin gestern sehr schnell eingeschlafen, aber nach lächerlichen zwei Stunden wieder aufgewacht. Ich war putzmunter, hatte Hunger, Durst und Langeweile. Dafür durfte ich mich heute durch den Tag quälen. Krampfhaft wach zu bleiben, obwohl der Körper so nach Schlaf verlangt, ist ganz schön anstrengend …

Heut früh haben wir es tatsächlich geschafft, ein Internetcafé ausfindig zu machen. Na ja, eigentlich war es eine muffige, verdreckte Kellerhöhle. Die Tastaturen hätten gut und gerne mal ein entspannendes Bad in Desinfektionsmittel vertragen können und irgendwer schien mit großem Appetit Stücke aus dem mit Kunstleder bezogenen Schaumstoff der Stühle gebissen zu haben. Hm. Na, jeder wie er es mag! ☺ Wen kümmert’s?! Sauerstoff wird vollkommen überbewertet! Und die paar Millionen Keime, die meine Fingerkuppen schmückten, habe ich die nächsten Stunden gerne als Andenken mit mir getragen. Als Andenken an deine lieben Worte, die mich per E-Mail erreicht haben! Dass das mit dem Chat nicht geklappt hat, tat mir schon ein wenig weh. Es hätte so gut getan, dich zu erleben. Wenn auch nur durch ein paar zeitgleiche Worte, die über die üblichen 160 Zeichen, die in eine SMS passen, hinausgehen. Vielleicht schaffen wir es, uns das nächste Mal besser abzusprechen. Wobei … wo ich gerade von „SPRECHEN“ schreibe … wie sieht es mit eurem Festnetztelefon aus? Ist der neue Anschluss in deiner WG endlich freigeschaltet? Ich habe nämlich sehr, sehr gute Nachrichten! (Stell dir nun vor, wie du in mein freudig begeistertes Gesicht blickst!) Mit meiner SIM-Card, die ich mir vorhin gekauft habe, kann ich für 2 NZ$ die Stunde mit dir telefonieren!!! Ist das nicht ein großartiger Tarif für sich sehnsuchtsvoll Liebende? ☺ Es kann also alles nur besser werden! Hören wir einander erst einmal wieder regelmäßig, so nehmen wir der Entfernung etwas an Macht. Deine Stimme fehlt mir sehr, aber ich habe sie dennoch permanent im Ohr. Das gibt mir Kraft, Energie und ich höre nicht nur Dinge nachhallen, die du mal zu mir gesagt hast, sondern ich höre dich auch jetzt immer und immer mit mir reden. Ich stelle mir vor, was du sagen würdest, wenn du nun bei mir sein könntest. Und schließlich simuliert mein Hirn deine Stimme und täuscht auf charmante Weise meine Ohren. Wie klug der eigene Körper ist, wenn es darum geht, Schmerz zu lindern! Wir haben oft telefoniert in den letzten Wochen, obwohl wir uns beinah täglich gesehen haben. Sobald ich zu Hause war, klingelte mein Telefon. Dein „Hallo“ … seufz … dein „Hallo“ ist der Wahnsinn!! Und allein der Gedanke daran macht mir wohlige Gänsehaut! Du bist schon mit dem Hallo so voll und ganz bei mir! Bist so präsent und aufmerksam. Ich kann mich nicht erinnern, mit auch nur irgendeinem Menschen jemals so wechselseitig spannende und emotionale Telefonate geführt zu haben, wie wir es tun! Und da ich mich unweigerlich daran erinnern könnte, weiß ich mit Sicherheit zu sagen, dass ich so etwas noch nie erlebt habe … bis zu der Begegnung mit dir.

Wie sehr ich mich gegen diese Begegnung gewehrt habe! Du hast mir damals geschrieben, dass ich nicht real bin, solange du meine Stimme nicht kennst. Dass du aufhörst, mich um ein Treffen zu bitten, bis ich den Mut habe, dich anzurufen. Das wäre die Gelegenheit für mich gewesen, es dabei zu belassen. Ich wollte dich nicht treffen. Ich wollte dich nicht kennenlernen. Mir reichten unsere E-Mails. Mir reichte die Idee, dass du irgendwo da draußen bist und mir Gedanken schenkst. Mir reichte die Fantasie, dass uns irgendetwas verbindet … etwas Besonderes. Viel zu groß war meine Angst, dass der Zauber sich hätte verflüchtigen können, sobald wir die virtuelle Welt verlassen und einander gegenüber stehen würden. Voller Erwartungen, die niemals erfüllt werden könnten, weil all unsere Worte, die ins Herz des anderen trafen, viel zu mächtig waren. Niemals, so war ich mir sicher, könnte die Realität da mithalten. Mein Herz war erschöpft und mit Vorsicht belegt. Und noch größer als die Angst, dass der Zauber verloren gehen könnte, war die Furcht davor, erneut verletzt zu werden. Ich wusste, dass ich für drei Monate ins Ausland gehen würde. Was sind schon drei Monate, mag man denken (und das dachtest auch du). Aber drei Monate sind eine lange Zeit, wenn man sich gerade mal ein paar Wochen kennt, vielmehr (noch) nicht kennt. Und die Gefahr, dass die Schnelllebigkeit dieser Welt wieder zuschlagen könnte, ließ mich verharren und feige sein. Mein Gepäck sollte leicht sein, nicht von Sehnsucht und Kummer beschwert. Ich wollte leicht sein, wollte zurückfinden zur Leichtigkeit. Wollte endlich ganz ausheilen und mich einzig auf mich konzentrieren. Und dann sagtest du: „Will ich mich den Rest meines Lebens fragen müssen, what if? Was sind denn schon 12 Wochen? Zeit, die kommt und geht … Zeit zu reifen und zu freuen, zu hoffen und zu lernen. Du bist da, die ganze Zeit, das spüre ich. Und das ist das, was ich will.“ Du bist einfach so zu mir in meinen Stadtteil gefahren, wohl wissend, dass ich dich nicht sehen wollte, aber voller Hoffnung, dass ich es mir doch anders überlegen würde. Zwei Stunden standest du im Schnee und hast auf meinen Anruf gewartet, darauf, dass ich mutig sein würde … vergebens. Und als du wieder Zuhause warst und mir diese lange Mail geschrieben hast … so voller Gefühl, Weisheit und Ruhe … da haben mir unsere E-Mails mit einem Mal nicht mehr gereicht. Von Angesicht zu Angesicht war plötzlich unumgänglich. Du warst so entschieden! Wie sehr mich das beeindruckt hat! Ich hab dich angerufen und es war, als ob wir nie etwas anderes getan hätten, als miteinander zu reden.

Oh je, schon so spät … da hab ich mich wohl etwas zu sehr in Gedanken an dich verloren. Ach, vergiss das „zu sehr“ … diese Bezeichnung gibt es bei uns ohnehin nicht. ☺

Aber Luise und ich müssen nun los. Wir sind noch zum Essen verabredet, mit einer Bekannten von ihr, einer echten Kiwi! Drück mir die Daumen, dass ich nicht einschlafe. (Wie doof, so was zu schreiben … obwohl ich weiß, dass du den Brief frühestens in einer Woche in deinen Händen halten wirst. Mal wieder ein verzweifelter Versuch meinerseits, Zeit und Raum zu überwinden!)

Ich werde dir nachher noch eine SMS schreiben, damit du zeitnah weißt, dass wir telefonieren können. Ich kann es nicht erwarten!

Herzklopfende Grüße aus Godzone

Deine Clara

Fernhalten. Ein Neuseeland-Roman

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