Читать книгу Fernhalten. Ein Neuseeland-Roman - Miriam Rathke - Страница 21

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Taupo, 26. Februar 2010

Liebster Gabriel,

reisen bildet, sagt man. Reisen erweitert den Horizont, sagt man. Reisen bringt einem fremde Kulturen näher, sagt man auch. Ist wohl an allem etwas dran … und eine Reise – so weiß ich seit gestern – kann ein Emotionssimulator sein, der einem die Möglichkeit bietet, in die Erfahrungswelt fremder Personen einzutauchen, die vor 2010 Jahren gelebt haben: Ich habe nun eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie sich Maria und Josef wohl gefühlt haben müssen, als sie in dunkler, kalter Nacht umherirrten und keinen Schlafplatz fanden!

Ich gebe zu, das mit der bevorstehenden Niederkunft war sicherlich noch das i-Tüpfelchen, aber ich bin ja ein fantasievoller Mensch.

Ich fang mal vorne an …

Der Nachmittag am See wurde langsam zum Abend und Luise und ich machten uns auf den Weg zum Maori-Village. Die bunt gemischten Nationen – Engländer und Amerikaner in der Überzahl – versammelten sich voller Erwartung im Speisesaal, in dem uns am Ende das Buffet serviert wurde, um Näheres zum Ablauf der Show zu erfahren. Es begann mir alles etwas zu touristisch. Der Typ, der uns durch den Abend begleitete, hatte ein ausgeprägtes Animateurverhalten, was mich grundsätzlich nur bedingt begeistern kann. Aber der breiten Masse gefiel es (hatte ich schon erwähnt, dass viele Amerikaner da waren?!)

Nachdem wir unser Hangi bewundern durften – eine im traditionellen Erdofen zubereitete Mahlzeit, meist bestehend aus verschiedenen Sorten Fleisch (laaaangweilig) und (Süß)kartoffeln (weniger langweilig), die durch die Kombination von heißen Steinen und nassen Lappen in einer Erdgrube dampfgart – platzierten wir uns vor einer Art Bühne und wurden durch Gesänge und Tänze der Maori unterhalten. Bis dato dachte ich ja, dass in erster Linie die Krieger den Haka beherrschten, aber es waren auch Frauen verschiedenen Alters dabei, die durch das Aufreißen ihrer Augen und Herausstrecken der Zunge nicht minder einschüchternd wirkten!! Luise und ich haben natürlich versucht es nachzustellen – vergeblich! Unsere Gesichter hätten den Feind zweifelsohne amüsiert, aber sicher nicht verängstigt oder gar vertrieben! Aber wer weiß – vielleicht hätte er sich totgelacht! ☺

Im Anschluss wurde die versammelte Touristenmeute über die Pflanzen- und Tierwelt des im Village liegenden Stückchen Regenwalds aufgeklärt und in die Jagdgepflogenheiten der Maori eingeführt. Es war kalt und dunkel, feucht und ungemütlich, aber wir haben Glühwürmchen gesehen! Das erste Mal in meinem Leben habe ich Glühwürmchen gesehen! Was für abgefahrene Viecher!! Die neuseeländischen Glühwürmchen sind im Übrigen anders als die der restlichen Welt: Sie leuchten nicht, weil sie sich paaren wollen … sie leuchten, weil sie Hunger haben. Irgendwie … bodenständig.

Dafür, dass das Essen nur okay war, habe ich viel, viel zu viel gegessen und dieser überfüllte Magen sorgte für eine enorme Bettschwere. Die Vorstellung, einfach in ein schönes, warmes Hotel zu fahren, ließ sich kaum noch abschütteln. Aber … du kennst ja meine momentane Realität … natürlich juckelten wir mit unserem Dreckscamper über die Landstraßen und suchten einen der Campingplätze, die auf unserer Karte eingezeichnet waren. Wir fuhren und fuhren und fanden nichts. Verfuhren uns und fuhren weiter. Bogen links ab und wieder rechts … klapperten diverse Kilometer geradeaus. Kein Campingplatz. 23:45 Uhr. Wohin? Und an dieser Stelle, wie du sicherlich zu Recht vermutest, kommen Maria und Josef ins Spiel. Es war so deprimierend! Die Zeit im Nacken, die Dunkelheit vor Augen, die Müdigkeit über einem schwebend!

Und dann … irgendwann gegen 00:15 Uhr – ein Campingplatz. Stockdunkel. Natürlich kein Mensch mehr im Office. Also parkten wir einfach irgendwo und nutzten „schwarz“ die Sanitärzonen. Warum nur gibt es dumme Menschen? Man kann doch nicht Licht im Waschraum anlassen und die Tür nicht schließen! Es wimmelte von Faltern und Motten, die natürlich nichts Besseres vorhatten, als sich in meinem Haar zu verfangen! Und kalt war es!!

Ich will gar nicht sagen, dass dieser späte Abend einen weiteren Tiefpunkt schuf. So war es nicht. Aber es fühlte sich auch nicht gerade nach einem Hoch an. Ich will auch nicht sagen, dass ich in diesem Moment wieder mal ohne zu zögern in ein Flugzeug gestiegen wäre, hätte mir eine gute Fee eines hergezaubert. Aber doch – wär ich! Ich wäre eingestiegen und flugs in deine Arme geflogen!

Todmüde und doch zu unentspannt, um zu schlafen. Was, wenn hier ein Wächter seine Runden dreht? Der Campingplatz war ziemlich groß. Was, wenn ein Wächter die Wohnmobile kontrolliert und plötzlich mitten in der Nacht an eines unserer Fenster klopft, weil wir nicht bezahlt hatten? Die Wahrscheinlichkeit ging natürlich gegen Null. Aber dieser Gedanke reichte völlig aus, um mich nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Eine so mäßige Nacht! Und dann, um 6:00 Uhr morgens überkam es mich! War es Trotz oder kleinkriminelle Energie? Man weiß es nicht genau … Ich weckte Luise und bat sie, sich nach vorn auf den Beifahrersitz zu setzen! Ich sah es einfach nicht ein, für diese schlaflose Nacht und ein Zähneputzen mit penetranter Motten- und Faltergesellschaft 30 NZ$ zu zahlen! Ich flüchtete! Und Luise wehrte sich nicht! Es war ein herrliches Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung, ja – irgendwie sogar von Gerechtigkeit –, als wir in Schlafanzügen bekleidet von dannen ratterten! Maria und Josef waren auf der Flucht und freuten sich wie kleine Kinder an Weihnachten. Hm … na ja … der Vergleich hinkt vielleicht ein wenig.

Tief in mir bin ich natürlich ein gewissenhafter Mensch. Gern zu Schandtaten bereit, aber sehr wohl darum wissend, was gut und was böse ist. Und somit überkamen mich prompt, nach wenigen Kilometern, irrationale Ängste. Es könnte eine Kameraüberwachung auf dem Campingplatz gegeben haben! Wer weiß, wie deutlich man unser Nummernschild erkennt? Vielleicht wurde unsere Flucht schon Happy Campers gemeldet?? Für derartige Gedanken war ich um 6:00 Uhr viel zu müde. Um 06:20 Uhr hatten Adrenalin und eine kleine Portion Endorphine für einen wachen Geist gesorgt! Zu spät! Nun gab es kein Zurück mehr. Und das war gut so …

Wir haben Lake Taupo erreicht. Liebster … es spielen sich hier so göttliche Szenen ab! Wir sind verändert … irgendwie! Luise hat es ohnegleichen geschafft, sich der entspannten neuseeländischen Mentalität anzupassen: Sie ist im Schlafanzug, mit rosafarbenen Plüschsocken und ungekämmtem Haar in das Office unseres aktuellen Campingplatzes spaziert und hat uns eingecheckt! Was war noch Eitelkeit? Wie … man guckt in den Spiegel, bevor man sich unter Menschen begibt?? Anziehen? So richtig mit Hose und T-Shirt? Wer hat denn das erfunden?! Dass in „schmerzfrei“ das Wort „frei“ steckt, kommt nicht von ungefähr … Einfach mal anders sein, einfach mal nicht denken … ein sehr gutes Gefühl! (Ich hab meine Plüschsocken aus-und eine Fleecejacke über mein Pyjamaoberteil gezogen … Luise ist mir also einiges voraus!)

Es regnet. Es regnet wie verrückt! Das ist, wie man sich vorstellen kann, wenn man unsere Situation kennt, das mit Abstand Schlimmste, das passieren kann. Was um alles in der Welt sollen wir hier machen, wenn wir nicht raus in die Natur können?! Es gibt kein Drinnen und das Draußen will uns nicht! Wir haben gute Regenjacken, natürlich haben wir die. Aber bei diesen Bindfäden, die der Himmel uns entgegenschleudert, bräuchten wir Regenhosen, Gummistiefel und einen Südwester. Und selbst dann … wäre da immer noch der Regen. Man will doch gar nicht raus bei diesem Ekelwetter! Alles, wonach man sich sehnt, ist ein warmes Zimmer, vielleicht ein bequemes Sofa und eine kuschelige Decke. Ein Drinnen eben …

Wir haben das Innenleben unseres fahrbaren Schrotthaufens nun zu einem „Wohnzimmer“ umfunktioniert. D.h. wir haben unser „Bett“ eingeklappt und es zu einem kleinen Tisch mit schmalen Sitzbänken verwandelt. Menschen über 1,50 Meter Körpergröße haben arge Schwierigkeiten, ihre Beine zu platzieren. Menschen über 1,75 Meter fühlen sich wie Gandalf in Bilbos Heim. Aber wäre ich Gandalf, so hätte ich uns natürlich die Sonne herbeizaubern können …

Nutze ich die Zeit also, wie du siehst, indem ich dir schreibe. Das ist ja fast so schön wie Sonnenschein!

Und jetzt gerade erhalte ich eine SMS von dir – ob wir nicht telefonieren können. Ja, mein Wunderwesen!! JA! Ich werde mich nun in die Waschküche begeben. Da hab ich einen Stuhl gesehen. Luises Ohren kann ja auch nicht zu viel zugemutet werden … Deine jedenfalls werden gleich ein „Ich liebe dich“ hören … und andere Dinge.

Deine Clara

Fernhalten. Ein Neuseeland-Roman

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