Читать книгу Die hypnotisierte Gesellschaft - Miryam Muhm - Страница 10
Die Hypnose in der modernen Schulmedizin
ОглавлениеDie Hypnotisierbarkeit unseres Gehirns ist eine unumstößliche Tatsache. Worte und Bilder in unserem Kopf können sogar Schmerzen beseitigen, die sich nicht einmal mit Morphium oder starken Opioiden bekämpfen lassen – wie im Fall von Louis Derungs. Der 19-jährige Franzose hatte 2013 einen schweren Stromunfall mit 15 000 Volt überlebt; leider mussten ihm aber beide Arme amputiert werden.23 Danach litt er an schier unerträglichen Phantomschmerzen, denen trotz Morphiumgaben nicht beizukommen war – bis ihm sein Arzt eine Hypnose vorschlug. Die Hypnotiseurin sagte ihm, er solle sich bildlich vorstellen, seine Phantomarme in zwei Kübel voller Eis zu tauchen. Louis war skeptisch und empfand den Vorschlag als lächerlich. Doch die Hypnotiseurin insistierte, denn nur so könne er die in seinem Gehirn immer wieder aufflammenden brennenden Schmerzen ausschalten, die er in der Nacht seines Unfalls erfahren hatte. Die Hypnose war erfolgreich, und Louis lernte es, diese bildhafte Vorstellung jedes Mal anzuwenden, wenn die höllischen Schmerzen wieder auftauchten. Auf diese Weise konnte er die Erinnerungen daran in den Griff bekommen und abblocken.24 (Die Videos, in denen er seine Geschichte erzählt, sind ein Paradebeispiel für die menschliche Resilienz und absolut sehenswert.)
Louis Derungs ist leider kein Einzelfall: 80 Prozent der Menschen, die eine Amputation erleiden, verspüren danach Phantomschmerzen. Inzwischen ist bekannt, dass bei vielen dieser Patienten Medikamente kaum wirken, weswegen die Hypnose unbedingt in die Behandlung miteinbezogen werden sollte – wie Forscher vom Universitätsklinikum Oslo nachdrücklich betonen.25
Wie gut die Hypnose in der Medizin funktioniert, ist auch schon daraus ersichtlich, dass in staatlichen wie privaten Kliniken Narkose und Sedierung seit einigen Jahren vermehrt durch Hypnose ersetzt werden, und zwar selbst bei invasiven Operationen wie z. B. der Entfernung einer Schilddrüse26 oder eines Hautkrebses.27
In Europa wurden bereits über 9000 chirurgische Eingriffe mithilfe von Hypnose durchgeführt (Stand 2017).28 Insbesondere in Belgien, Frankreich und Italien greift man in Krankenhäusern auf diese Methode zurück, also auf die gezielte Beeinflussung unseres Gehirns durch Worte. Auch viele Zahnarztpraxen in der BRD verwenden vermehrt Hypnosetechniken bei ihren Patienten – so berichtet z. B. die Deutsche Zeitschrift für zahnärztliche Hypnose bereits seit Jahren über deren erfolgreichen Einsatz.29
Angesichts der Fülle von Nachweisen über die Wirkung von Hypnose in der Medizin lässt sich wissenschaftlich nicht mehr abstreiten, dass sie unsere Wahrnehmung eindeutig beeinflusst. Diverse Beispiele aus dem medizinischen Bereich sollen dies veranschaulichen.
Wie Marie-Elisabeth Faymonville, Medizinprofessorin und Leiterin der Schmerzklinik des Universitätskrankenhauses im belgischen Lüttich, berichtet, wurden in ihrem Krankenhaus bereits über 6000 Patienten erfolgreich mit Hypnose (und leichten lokalen Anästhetika) operiert, sogar bei invasiven chirurgischen Interventionen (z. B. Schilddrüsenoperationen).30
Die Resultate sind erstaunlich: Der Patient verspürt unter Hypnose keine oder kaum Schmerzen und blutet weniger, sodass der Chirurg den Eingriff besser und rascher ausführen kann. Schwedische Wissenschaftler verzeichneten ähnliche Erfahrungen bereits vor über 25 Jahren.31
Während und unmittelbar nach einer chirurgischen Operation oder einem zahnärztlichen Eingriff ist der hypnotisierte Patient wohlauf, und selbst die Genesung verläuft schneller als üblich, wie Studien aus dem Jahr 2000 bestätigt haben. Zudem verspüren diese Patienten weniger Angst.32
In Frankreich wird die Hypnose sogar bei Hirntumoroperationen eingesetzt, um den Patienten Angst und Unbehagen während des Eingriffs zu nehmen. Sie müssen dabei nämlich wach bleiben, damit der Chirurg mittels gezielter Fragen die wichtigen, sogenannten »eloquenten« Zonen (z. B. die Sprachareale) von »weniger bedeutsamen« Gehirnarealen unterscheiden kann, um spätere Ausfallserscheinungen zu vermeiden. Einige Wochen vor einer Wachkraniotomie (vorübergehendes Aufwecken während einer Gehirnoperation) bereitet man die Patienten auf die Hypnose vor. Im OP-Saal werden sie von einem Spezialisten in Trance versetzt, wobei ihnen wortreich bestimmte Bilder vermittelt werden, die innere Ruhe suggerieren. Wie die Studien beweisen, sind die meisten Patienten, die auf diese Weise behandelt wurden, mit der Hypnosedierung sehr zufrieden.33
In Belgien wendet man Hypnose seit Jahren bei Brustkrebsoperationen an. Eine Studie des Krebszentrums der Universität Saint-Luc in Brüssel (2017) berichtet über 300 Operationen – die Hälfte davon mit der üblichen Narkose, die andere Hälfte mit Hypnosedierung.
Resultat: Bei den hypnotisierten Patientinnen war dank des Nichteinsatzes von Narkosemitteln u. a. eine sofortige Erholung möglich.34 In Aix-en-Provence (Frankreich) wurde die gleiche Hypnosetechnik ab 2018 bei Brustkrebspatientinnen angewandt, und die von den beteiligten Ärzten gesammelten Erfahrungen bestätigten die Resultate der belgischen Studie.35
Auch bei Brustkrebs-Chemo- und Radiotherapien wirkt sich Hypnose offenbar positiv aus, da sie nicht nur die Heilung beschleunigt, sondern auch einen kürzeren Krankenhausaufenthalt erlaubt; zudem scheinen die Patientinnen die Chemo- und Radiotherapie unter Hypnose insgesamt besser zu verkraften.36
Wie der New Scientist 2019 berichtete, weist die Hypnosedierung noch weitere Vorteile auf: »Guy Montgomery von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai, New York, fand heraus, dass Frauen, die vor einer Brustkrebsoperation eine Hypnose erhielten, danach über geringere Schmerzen, Angst, Übelkeit und Müdigkeit berichteten. Und die Vorteile waren nicht nur physischer Natur. Sein Team rechnete vor, dass das Land [USA] mehr als 135 Millionen Dollar pro Jahr einsparen würde, wenn 90 Prozent der Menschen, die eine Brustkrebsbiopsie benötigen, eine Hypnosedierung erhielten.«37
Das Ergebnis dieser vielversprechenden Erfahrungen ist eine Veränderung der Art und Weise, wie die Schulmedizin »Hypnose« definiert; außerdem nimmt ihre Anwendung zu – wie im New Scientist weiter dargelegt ist: »Das Royal College of Midwives in Großbritannien akkreditiert jetzt Hypnobirthing-Kurse [Kurse zur Anwendung der Hypnose während der Geburt] und finanziert die Ausbildung in dieser Technik. Einige Anästhesisten bieten die Hypnosetechnik inzwischen an, und sie wird sogar als Lösung für die Opioid-Suchtkrise angepriesen. Hypnose ist sicherlich kein Allheilmittel; aber zu lernen, was funktioniert, warum es funktioniert und wie wir es selbst anwenden können, kann uns dabei helfen, die Kraft des Mentalen zur Bewältigung einiger der härtesten Kämpfe des Lebens zu nutzen.«38
Dass man mit nur wenigen hypnotischen Worten die Abhängigkeit von opioidhaltigen Schmerzmitteln erfolgreich verringern kann, bestätigte 2019 eine Metaanalyse im US-amerikanischen Ärzteblatt JAMA.39
Die vielen Studien und die Erfahrungen mit klinischer Hypnose haben also in den letzten Jahren immer mehr Ärzte und medizinische Institutionen dazu bewegt, auf die manipulative Kraft suggestiver Worte zu setzen.
So empfiehlt u. a. das britische National Institute for Health and Care Excellence Hypnose bei Reizdarmsyndrom – einer Krankheit, die durch Krämpfe, Blähungen, Durchfall und Verstopfung gekennzeichnet ist: »[…] für das behandlungsresistente Reizdarmsyndrom gibt es überwältigende Beweise, dass Hypnose die Symptome und die Lebensqualität verbessern kann. […] In den USA fördern sowohl die American Psychological Association als auch die National Institutes of Health inzwischen die Hypnose als Teil der Standardbehandlung von Schmerzen. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass sie eine Vielzahl chronischer Probleme verbessern kann, wie z. B. Schmerzen im unteren Rückenbereich und Nebenwirkungen von Krebsbehandlungen − oft bietet sie mehr Linderung als Physiotherapie und kognitive Verhaltenstherapien allein.«40
Wie sehr suggestive Worte uns in einen Zustand versetzen, der medizinisch von größter Bedeutung sein kann (weil weniger Medikamente verabreicht werden müssen und eine schnellere Heilung erzielt wird), zeigen auch einige in Italien durchgeführte Operationen. Im Mailänder Niguarda-Krankenhaus musste einer 82-Jährigen eine Aortenklappe substituiert werden. Da die Frau an mehreren schweren Vorerkrankungen litt, verzichteten die Ärzte auf die übliche Sedierung und nahmen nur eine kleine örtliche Betäubung am Bein vor, um den Katheter einzuführen. Allerdings musste die absolute Bewegungslosigkeit der Patientin während des Eingriffs gewährleistet werden – und dies ließ sich mithilfe der Hypnose erzielen.41
Im Krankenhaus San Paolo in Savona wurde 2020 sogar eine Pulmonalvenenisolation mittels Hypnose durchgeführt. Hierbei handelt es sich um einen minimalinvasiven elektrochirurgischen Herzkathetereingriff zur Behandlung von Vorhofflimmern, der bis zu drei Stunden dauern kann und eine systemische Sedierung unter Verwendung mehrerer Mittel erfordert. Dank der Hypnose, so der Arzt Luca Bacino, konnte der Einsatz dieser Medikamente drastisch verringert werden.42
Im Krankenhaus Cardinal Massaia in Asti (der Stadt der Piemonteser Weine und der Trüffel) wurden bereits über 80 Eingriffe am Herzen mithilfe von Hypnose durchgeführt. »Mit dieser Methode ist es auch möglich, eine Analgesie zu erreichen, die in 20 % der Fälle so hoch sein kann, dass der Verzicht auf Anästhetika oder in jedem Fall eine wahrgenommene Schmerzreduktion gewährleistet ist.«43 Das Alter der hypnotisierten Patienten lag zwischen 12 und 76 Jahren, und die Palette der Eingriffe umfasste u. a. die Einpflanzung permanenter Herzschrittmacher bis hin zu Pulmonalvenenisolationen.44
In Deutschland setzt sich die Hypnose in der Anästhesie allerdings nur sehr zögernd durch. Als einen der Gründe dafür nennt der Hypnotherapeut Olf Stoiber Zeitmangel: »Eine Narkose kann der Anästhesist relativ leicht und geübt durchführen. Bei einer Hypnose hingegen ist sehr schlecht prognostizierbar, wo der Zeitrahmen liegt, bis eine Wirkung da ist.«45 Um den erwünschten Hypnosezustand zu erreichen, kann eine halbe bis zu einer Stunde vergehen.
Doch Zeit dürfte eigentlich keine Rolle spielen, wenn es um das Wohl der Patienten geht – denn medikamentös induzierte Narkosen können zuweilen mit Nebenwirkungen (bis hin zum Tod) verbunden sein, insbesondere bei über 65-Jährigen.
Die Ärztin Simone Gurlit vom Kompetenzzentrum Demenzsensibles Krankenhaus am Universitätsklinikum Münster hat auf der Website des MDR erklärt, dass zu den häufigsten dieser Nebenwirkungen Gedächtnisprobleme zählen, vor allem bei älteren Patienten: »Wenn die Beweglichkeit mit einem neuen Gelenk wiederhergestellt ist, der Patient aber nicht mehr weiß, wo er wohnt, und sich nicht mehr allein versorgen kann, dann muss man sich kritisch fragen: Ist das eine erfolgreiche Operation, ja oder nein?«46 Dr. Gurlit setzt daher auf Teilnarkose und Gespräche im Vorfeld.
Viele ihrer Kollegen am Kompetenzzentrum wenden zusätzlich Hypnosetechniken an. So bekommen in Münster zahlreiche Frauen, die sich einer Brustkrebsoperation unterziehen müssen, nur eine Lokalnarkose. Um ihnen Angst und Schmerzen gänzlich zu nehmen, werden sie während des Eingriffs hypnotisiert, denn damit habe man »sehr gute Erfahrungen gemacht«, so Dr. Gurlit.47 Und das gilt nicht nur für Brust-OPs – in Jena wurde einem Patienten mit Parkinson 2017 ein Hirnschrittmacher unter Hypnose implantiert.48
Zu den deutschen Pionieren auf dem Gebiet »Hypnose in der Medizin« zählt der Internist Prof. Dr. Winfried Häuser, der die chronischen Schmerzen seiner Darmpatienten am Klinikum Saarbrücken seit Jahrzehnten (!) mittels Hypnose lindert.49
Obwohl die Mehrheit der deutschen Ärzte Hypnosetechniken eher skeptisch gegenübersteht, ist bei den Chirurgen und Anästhesisten eine gewisse wissenschaftliche Neugier entstanden, die allmählich Früchte trägt. So wollten Ärzte der Universitätskrankenhäuser in Bochum, Kassel, Regensburg, München und Köln u. a. prüfen, ob hypnotische Suggestionen während klassischer chirurgischer Narkoseeingriffe helfen könnten, die Menge der Schmerzmittel nach der Operation zu reduzieren (da diese bekanntlich Nebenwirkungen verursachen können).
Hierzu wurde eine Tonaufnahme mit hypnotischen Wörtern und Musik erstellt. Die ca. 400 Patienten dieser Studie wurden in zwei Gruppen aufgeteilt (eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe). Alle erhielten einen Kopfhörer, wobei weder Ärzte noch Anästhesisten wussten, welche Patienten während der Narkose die hypnotische Aufnahme und welche ein Leerband zu hören bekamen. Die Studienergebnisse zeigten, dass sich nach der OP bei Ersteren das Verlangen nach starken Schmerzmitteln eindeutig reduziert hatte. Aus dieser deutschen Forschungsarbeit wird einmal mehr ersichtlich, dass Hypnose in der Medizin auf mehrfache Weise von Vorteil ist: Den Patienten erspart sie am Tag nach der OP die üblichen starken Schmerzen, und die dadurch geringeren Aufwendungen für Schmerzmittel senken die Gesundheitskosten – also eigentlich eine Win-win-Situation für alle.50
Worte können unser Gehirn also stark beeinflussen, was sich wie dargelegt besonders deutlich in der Medizin zeigt. Hier gilt die Hypnose inzwischen als eine weithin anerkannte Methode, um ganz oder teilweise auf die üblichen Narkose- bzw. Sedierungsmittel zu verzichten.