Читать книгу Die hypnotisierte Gesellschaft - Miryam Muhm - Страница 26

Die Radikalisierung der Cancel Culture

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Alternative Meinungen, Ideen und Standpunkte abzuwürgen, selbst wenn sie auf wissenschaftlichen oder nicht mehr wegzudiskutierenden Fakten beruhen, war und ist einer der schlimmsten und folgenreichsten Fehler, die im Laufe der Jahrzehnte von Akademikern und Universitäten begangen wurden, denn oftmals hatte diese Marginalisierung von Studien und deren Verfassern spürbar negative Folgen für die Gesellschaft.175 Und: Die Menschen werden anhand falscher oder lückenhafter Informationen in einem Zustand gehalten, in dem sie hypnotisch an eine Realität glauben, die es in Wirklichkeit so gar nicht gibt.

Hierzu nur ein Beispiel aus dem Medizinbereich (Kapitel 2 »Medizinfakultäten – Absage an die Ethik?« enthält ein ausführliche Darlegung der Probleme, die speziell die Medizinfakultäten betreffen): Der britische Arzt und Physiologieprofessor John Yudkin, der bereits Ende der 1950er-Jahre Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit dem steigenden Zuckerkonsum in Verbindung brachte,176 wurde später von seiner Universität mundtot gemacht und aus dem akademischen Leben verbannt. »Yudkins Karriere wurde von Wissenschaftlern, die der Zuckerindustrie ›nahe standen‹, zerstört. Er durfte auf keinem Kongress mehr auftreten und in keiner Zeitschrift veröffentlichen. Sein abschreckendes Beispiel sorgte dafür, dass das Thema Zucker und Herz-Kreislauf-Risiko über Jahrzehnte von Wissenschaftlern gemieden wurde«177 – so zu lesen auf der Website von »Wissen« (ARD).

Nachdem Yudkin die These aufgestellt hatte, dass der erhöhte Verbrauch von Zucker Herzinfarkte hervorrufen kann, blies die US-Zuckerindustrie zur Gegenoffensive und beauftragte zwei Akademiker der Harvard University mit einer Studie. Einschlägige Dokumente beweisen, dass sie beauftragt wurden, eine Metaanalyse über Fett und Herzkrankheiten zu erstellen, um somit die schädliche Rolle von Zucker zu widerlegen.178 Die beiden Harvard-Wissenschaftler attestierten also brav, dass für den Anstieg der an Herzinfarkt Verstorbenen nicht der Zucker verantwortlich sei, sondern dass es der Konsum von Fett und Cholesterin sei, der Herz-Kreislauf-Probleme verursache. Ihre Studie wurde exakt nach den Vorgaben der US-amerikanischen Sugar Research Foundation (seit 1968 World Sugar Research Foundation) durchgeführt; die Wissenschaftler erhielten dafür 50 000 Dollar.179

Dieser Skandal wurde erst 2016 aufgedeckt und zeigt, dass bereits vor ca. 70 Jahren die Industrie genau wusste, wie man durch Auftragsstudien und die hypnotische Technik »Verwirrung stiften« (Zucker oder Cholesterin – wer ist denn nun der tatsächliche Krankheitsverursacher?) seine eigenen Interessen durchsetzen kann. Mit solch irritierenden Forschungsergebnissen konfrontiert, glaubt bzw. hält sich der Bürger in seiner Verunsicherung an das, was am nachdrücklichsten und anschaulichsten wiederholt wird.180 Und das war das Mantra vom bösen Cholesterin – über ein halbes Jahrhundert lang.

Heute geht man davon aus, dass Professor Yudkin recht hatte181 und die »Cholesterin-Lüge« den Medizinbetrieb und somit auch die Patienten jahrzehntelang bis heute hypnotisch in ihrem Bann gehalten hat182 – zur Freude der Pharmaindustrie.183 (Näheres dazu in meinem Buch Die Blutwert-Lüge)

Ungeachtet dieser Beispiele einer seit Jahrzehnten zensurfreudigen Universitätskultur scheinen die heutigen Verantwortlichen der Lehrinstitutionen eine besondere Form der Cancel Culture weiterhin und gerade in den letzten Jahren auf die Spitze zu treiben. Dabei geht es aktuell zusätzlich um die umstrittenen Forderungen der Identitätspolitik.

So wurde 2020 an der University of Tennessee eine erst wenige Wochen als Lehrkraft angestellte Frau wieder entlassen, da sie als 15-Jährige (!) ein Wort benutzt hatte, das heute (!) als diskriminierend gilt. Kein Scherz. In Hunderten von empörten E-Mails wurden Maßnahmen gefordert. »Allzu vorhersehbar«, so berichtete Forbes, »fiel die Universität zusammen wie ein Kartenhaus.«184

Im selben Jahr gab es weitere solcher Empörungsexzesse, die unverhältnismäßige Sanktionen zur Folge hatten: »Ein Universitätsdozent wurde bestraft, weil er ein chinesisches Wort verwendet hatte, das einige Studenten dem Klang nach für das N-Wort hielten. Ein College-Dozent wurde boykottiert, weil er [im Zusammenhang mit dem Fall George Floyd] an einer Pro-Polizei-Kundgebung teilnahm, wobei er lediglich hören wollte, was sie zu sagen hatten.«185

Niemand streitet ab, dass es in der Gesellschaft nach wie vor schändlichen Rassismus und Sexismus gibt – aber diese Beispiele zeigen, wie weit sich die neuerdings allgegenwärtigen hypnotischen Formen der Meinungsdiktatur bereits etabliert haben.

Auch wenn die britische Regierung als Reaktion auf die wachsende Krise der Campus-Zensur weitreichende Maßnahmen angekündigt hat, leugnen immer noch viele Menschen, dass es an den Universitäten Zensur gibt – und dies, obwohl die Zahl der Mitarbeiter und externen Referenten, die in den letzten Jahren von Universitäten entweder ausgeladen oder mundtot gemacht wurden, nachweislich gestiegen ist.

Auf Druck von Aktivisten der Trans-Minderheit wurde zum Beispiel die Geschichtsprofessorin Selina Todd (Universität Oxford) vom Internationalen Frauenfestival in Oxford ausgeladen. Sie war massiver Kritik und sogar Online-Drohungen ausgesetzt, »weil sie es gewagt hatte, darauf hinzuweisen, dass die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht eine Frage der persönlichen Entscheidung sind«.186

Wie weit das Aufzwingen der eigenen Meinung geht und wie primitiv die Reaktionen der Menschen sind, wenn jemand ihren Standpunkt nicht teilt, lässt sich auch an den Vorfällen um die Juraprofessorin Rosa Freedman ablesen, die an der Universität von Reading lehrt. Sie hatte 2018 ihre (rein juristischen) Bedenken in Bezug auf eine vorgesehene Änderung des Gender Recognition Act zum Ausdruck gebracht – ein britisches Gesetz, das es Menschen mit geschlechtsspezifischer Dysphorie ermöglicht, ihr gesetzliches Geschlecht zu ändern. Freedman war lediglich darüber besorgt, dass die neue Gesetzesänderung die Rechte der Frauen beschneiden könnte. Man beschimpfte sie als »Nazi«, urinierte vor ihre Bürotür und meinte, sie solle »vergewaltigt werden«.187 Hier schloss sich die Leitung der Universität Oxford allerdings nicht den Kritikern an.

Anders erging es dem Medizin-Nobelpreisträger Tim Hunt, der allein wegen eines dummen Witzes über Frauen und Männer seine Stelle an der Universität London und auch im Europäischen Forschungsrat verlor – trotz Appellen von Frauen und Männern der Wissenschaft (darunter acht Nobelpreisträger), die sich gegen solcherart Lynchjustiz verwehrten und öffentlich auf die Seite von Hunt stellten.

Problematisch sind in den USA teilweise auch Forderungen an Universitäten, keine Klassiker mehr zu lehren, weil die Werke der Griechen und Römer den Weg zum Rassismus vorbereitet hätten und somit eine Mitschuld am Faschismus tragen würden. Der Vordenker dieser Sorte von Löschkultur ist Dan-el Padilla Peralta, Professor für Klassische Philologie in Princeton. Während einer Konferenz Anfang 2021 gab er seiner Hoffnung Ausdruck, dass dieser Fachbereich so bald wie möglich aussterben möge.188

Bei uns sind ähnliche, wenngleich nicht ganz so radikale Tendenzen zu beobachten: Im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte der Kabarettist Dieter Nuhr in einem Online-Beitrag seine Gedanken zum Thema Wissenschaft dargelegt, worin er u. a. meinte, dass Wissenschaft sich auch irren könne (eine unbestreitbare Tatsache, wenn man bedenkt, dass zwischen Oktober 2018 und März 2020 über 6500 Studien aus dem naturwissenschaftlichen Bereich, insbesondere der Medizin, zurückgezogen wurden).189 Nachdem daraufhin einige Wissenschaftler auf Twitter ihren Protest kundtaten, wurde Nuhrs Online-Beitrag von der DFG vorübergehend entfernt.190

Ist der Druck der politischen Korrektheit inzwischen in reinste Meinungsdiktatur ausgeartet? Viele sind bereits davon überzeugt. Einige vertreten auch die Auffassung, dass die Menschen, die sich als »Woke« bezeichnen, also als »erwacht« ansehen und jedes Wort und jede Handlung anprangern, die nicht in ihr Political-Correctness-Konzept passt,191 inzwischen zu einer Art religiöser Gemeinschaft mutiert sind, die ihre Wachtposten-Ziele wie hypnotisiert verfolgt.

In einem Artikel, den ich jedem, der des Englischen mächtig ist, nur wärmstens empfehlen kann, beschreibt Alexander Beiner (u. a. als Autor für The Guardian tätig) diese neue Community als die »Sleeping Woke« (»schlafende Erwachte«).192 Diese Menschen lassen sich von Themen hypnotisieren, die ihre Aufmerksamkeit voll und ganz in Anspruch nehmen, sodass kaum mehr Zeit für eigentlich wichtigere Probleme bleibt. Sie vergeuden ihre Energie auf Nebenschauplätzen.

Wäre es, anstatt sich – zumeist fachfremd – über den theoretischen Standpunkt eines Gelehrten oder über die Hautfarbe einer Übersetzerin auszulassen,193 nicht sehr viel sinnvoller, auf die Straße zu gehen und dafür zu demonstrieren, dass Männer und Frauen endlich den gleichen Lohn für gleiche Arbeit bekommen? Oder sich darüber Gedanken zu machen, dass – und warum – die heutige Jugend kaum noch lesen möchte?194 Haben wir nicht viel gewichtigere, längst überfällige Probleme, die es zu lösen oder gegen die es anzugehen gilt – wie z. B. die beschämende Schere zwischen Reich und Arm?

Es ist wahrlich faszinierend, wie die Marionettenspieler es schaffen, das Volk so zu manipulieren, zu beschäftigen und abzulenken, dass es sich auf Nebenschauplätze fixiert und wie hypnotisiert die Probleme ausblendet, die gesellschaftlich eigentlich Priorität haben sollten.195 Nicht von ungefähr halten uns die Medien im Moment mit spektakulären Cancel-Culture-Eklats, Genderismus-Debatten etc. in Bann.

In der Flut von verwirrenden Nachrichten bekommen es die meisten von uns gar nicht mit, in welchem Maße die Freiheit der Wissenschaft bereits gefährdet ist – und damit auch die Freiheit der Gesellschaft insgesamt.

Wie oben schon erwähnt, wurde im Februar 2021 das Manifest des »Netzwerks Wissenschaftsfreiheit« veröffentlicht, in dem das Problem der Zensur an den Universitäten sehr deutlich angesprochen wird.

Hier einige Auszüge: »Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist ein Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit dem gemeinsamen Anliegen, die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen und zur Stärkung eines freiheitlichen Wissenschaftsklimas beizutragen. […] Hochschulangehörige werden erheblichem Druck ausgesetzt, sich bei der Wahrnehmung ihrer Forschungs- und Lehrfreiheit moralischen, politischen und ideologischen Beschränkungen und Vorgaben zu unterwerfen: Sowohl Hochschulangehörige als auch externe Aktivisten skandalisieren die Einladung missliebiger Gastredner, um Druck auf die einladenden Kolleginnen und Kollegen sowie die Leitungsebenen auszuüben. Zudem wird versucht, Forschungsprojekte, die mit den weltanschaulichen Vorstellungen nicht konform gehen, zu verhindern und die Publikation entsprechend missliebiger Ergebnisse zu unterbinden. Von besonderer Bedeutung sind dabei die mittelbaren Wirkungen dieser Druckmaßnahmen: Sie senden das Signal, dass man auf den ›umstrittenen‹ Gebrauch seiner Forschungs- und Lehrfreiheit künftig besser verzichte. Die Etikettierung als ›umstritten‹ stellt dabei den ersten Schritt der Ausgrenzung dar.«196 (Hervorhebungen durch die Autorin)

Wir sind heute also Zeugen eines neuen Obskurantismus, einer Art mittelalterlicher Ideenzensur. Man müsste aber schon blind (oder geblendet) sein, um nicht zu bemerken, dass an den Universitäten freie Meinung und unabhängige Wissenschaft bereits seit Jahrzehnten teilweise nur noch reinste Utopie sind. Die Schriftstellerin Nele Pollatschek bringt dies in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk klar auf den Punkt: »Früher haben sich da ein paar Professoren beschwert, und dann hat die Uni das gecancelt. Heute geschieht das öffentlich. Früher hätte man davon nichts mitbekommen. Das heißt, wir können nicht wissen, ob es heute öfter passiert als früher, weil wir jetzt etwas sehen, was zuvor nicht sichtbar war.«197

Wie es tatsächlich an einigen Universitäten ausschaut, beschreibt der Theoretische Physiker Lee Smolin im Scientific American: »Die Probleme wurzeln in der Art und Weise, wie die Karriere- und Finanzierungsstrukturen der Universitäten die ›Ich-Ich-Ich‹-Wissenschaft begünstigen: mangelnden Mut, Festhalten an gescheiterten Forschungsprogrammen, post mortem-Imagepflege, eigennütziges Machtstreben, Engstirnigkeit, defensive Strategien und Gruppendenken. Diese Punkte sollten jeden beunruhigen, der in der Position ist, Anreize für Akademiker zu schaffen […]«198

Ist inzwischen wenigstens bekannt, dass die Evolutionstheorie von Darwin missbraucht wurde und den Studenten bis heute teilweise veraltete oder schlichtweg falsche wissenschaftliche Informationen vorgesetzt werden? Wahrscheinlich nicht (mehr dazu im Kapitel 4 »Gesellschaftliche Folgen der Fehlauslegung von Darwins Evolutionstheorie«).

Man vertraut auf das Wissen, das an Universitäten gelehrt wird, und nur die wenigsten von uns erhalten Kenntnis davon, dass und wie sich die Pharmaindustrie in die medizinischen Fakultäten einschleicht und somit die Medizinlehre mitbestimmt (!). (Siehe Kapitel 2 »Medizinfakultäten – Absage an die Ethik?«)

Geblendet von der stets betonten Freiheit der Forschung und Lehre an den Universitäten, den »Horten der Wahrheit«, sehen wir wie in Trance auch hier nur sehr wenig von dem, was sich hinter den Kulissen abspielt. Wir müssen endlich aus dieser Hypnose aufwachen, die uns an inexistente Fakten und falsch ausgelegte Theorien glauben lässt und auf diese Weise zu einer materialistischen Weltanschauung verführt, die nur einer Minderheit zugutekommt.199

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