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KAPITEL 3 Gibt es noch Meinungsfreiheit an den Universitäten?

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Die Löschkultur (Cancel Culture) hat an Universitäten eine lange Tradition und zu gravierenden Folgen für die Gesellschaft und für den Einzelnen geführt. Der Begriff »Löschkultur« mag neu sein, nicht aber die damit verbundene Unterdrückung von Standpunkten oder Forschungsergebnissen. In diesem Buch wird »Cancel Culture« also nicht nur für das Ausladen von Gelehrten oder für die Identitätspolitik verwendet.

Hochschulen und Universitäten sind zentrale Akteure in Wissenschaft und Gesellschaft.160 Sie sollten Orte der freien Meinungsäußerung sein,161 denn nur eine »freie Wissenschaft ermöglicht uns Fortschritt. Sie ist der Garant für die Zukunft unserer Kinder«, wie Bundesministerin Anja Karliczek beim KAS-Symposium in Berlin 2020 betonte.162 In den letzten Jahrzehnten stellen sich viele Universitäten aber immer mehr in den Dienst der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Vorstellungen bzw. vermitteln veraltete Theorien. Im Zuge dieser Entwicklung haben zahlreiche Universitäten die Freiheit der Wissenschaft bzw. die Unabhängigkeit des wissenschaftlichen Denkens teilweise aufgegeben.163

Wir alle leben in einer Art hypnotischer Blase, die gefüllt ist mit falschen Informationen, unzulänglichen Theorien und unwahren Fakten. Sie wurden und werden in den Lehranstalten wie in der Gesellschaft von Generation zu Generation als nahezu unumstößliche Wahrheiten weitergegeben. Bereits Alan Watts erkannte in den 1970er-Jahren, dass wir in einer Gesellschaft von hypnotisierten, die Wahrheit nicht erkennenden Menschen leben. Bestimmte falsche Vorstellungen und Fakten, die an Universitäten und Schulen als wissenschaftliche Wahrheiten verbreitet werden, lenken und gefährden die Gesellschaft und die Demokratie.

Jordan Peterson, kanadischer Psychologieprofessor, Bestsellerautor und Superstar auf YouTube, hätte im Herbst 2019 zwei Monate an der theologischen Fakultät der Universität Cambridge lehren sollen. Aufgrund studentischer Proteste wegen seiner Ernennung als Gastdozent beschloss Cambridge, die bereits angekündigten Lehrveranstaltungen abzusagen. Der renommierte Psychologe und Wissenschaftler erfuhr von der Absage über Twitter …

Man kann mit den Meinungen von Professor Jordan Peterson, die sicherlich alles andere als Mainstream sind, hadern – trotzdem hat sich Cambridge bzw. die Universitätskultur damit keinen Gefallen getan.164

Die seit Jahren an Universitäten praktizierte Cancel Culture, also die sogenannte Absage- oder Löschkultur, ist wohl eine der größten Gefahren für unsere Demokratie. Sie lässt uns in dem Glauben, dass bestimmte Theorien bzw. kulturelle oder gesellschaftlichen Vorstellungen und Meinungen die einzig »richtigen« sind, was jegliche Weiterentwicklung blockiert. Hierbei geht es nicht nur um das Ausladen von Gelehrten, deren Äußerungen irgendwann die Regeln der political correctness (PC), also der politischen Korrektheit oder der Identitätspolitik, verletzt haben. Vielmehr geht es auch darum, dass Theorien oder belegbare Fakten von Wissenschaftlern, die von den vorherrschenden abrücken, nicht mehr publiziert bzw. überhaupt zur Diskussion gestellt werden. Letzteres ist von der Definition der Cancel Culture bis jetzt noch nicht abgedeckt, aber ich finde diese Erweiterung durchaus angebracht: An den Universitäten werden nämlich oft nur die etablierten Auslegungen von Theorien gelehrt, und was nicht in deren Sinn ist, kommt kaum mehr zu Gehör.

Wie war das doch gleich mit Galileo …? Auch heute werden weiterhin obsolete und somit falsche Theorien gelehrt,165 und in einigen Fakultäten, wie z. B. in der Medizin, werden den Studierenden sogar eindeutig falsche »Fakten« beigebracht (siehe Kapitel 2 »Medizinfakultäten – Absage an die Ethik?«).

Die Manipulation der Lernenden besteht seit etlichen Generationen166 und wird auch künftige Akademikerjahrgänge betreffen. Sie lässt junge Menschen wie hypnotisiert an Fakten festhalten, die entweder veraltet und somit falsch sind – oder sie lässt sie unbeirrbar, oft sogar radikal, an einseitige Vorstellungen glauben, die eigentlich einer offenen Überprüfung und Analyse unterzogen werden sollten, insbesondere an den Wirtschaftsfakultäten. Dazu Professor Martin Parker von der University of Bristol im Guardian: »Wenn wir wollen, dass die Mächtigen verantwortungsbewusster werden, dann müssen wir aufhören, den Studenten beizubringen, […] dass der Zweck des Lernens z. B. von Steuergesetzen darin besteht, Steuern zu hinterziehen, oder dass der Zweck des Marketings das Schaffen neuer Begehrlichkeiten ist. In jedem Fall agieren die Business Schools als Apologeten und vermitteln Ideologien, als wären sie Wissenschaften167 (Hervorhebungen durch die Autorin)

Was an Universitäten gelehrt wird, hat für die ganze Gesellschaft ein besonderes Gewicht – und es Gelehrten zu verwehren, neue Standpunkte zu wesentlichen Themen der Wissenschaft oder der allgemeinen Kultur vorzutragen, ist eine absolut gefährliche Tendenz, insbesondere, wenn der Lehrstoff ideologisch vermittelt wird.

Die Absage- oder Löschkultur ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass die britische Regierung Anfang 2021 bekanntgab, ein Gesetz zu planen, das die Unterdrückung von Meinungsäußerungen an Universitäten unter Strafe stellt.168 Für Tom Simpson, außerordentlicher Professor für Philosophie und öffentliche Politik an der Universität Oxford, ist dieser Vorschlag der britischen Regierung ein »sehr willkommener Schritt, um sicherzustellen, dass die Meinungsvielfalt an britischen Universitäten geschützt wird«.169

Es war an der Zeit für diesen Vorstoß, denn seit Jahrzehnten werden u. a. Biologen und Genetiker, die eine Erweiterung der Darwin’schen Evolutionstheorie fordern, von den Universitäten entweder benachteiligt oder ihre Projekte nicht finanziert.170

Allzu lange ist z. B. versucht worden, die Unzulänglichkeiten der Darwin’schen Theorie zu verbergen, indem man neue evolutionäre Erkenntnisse ins Lächerliche zog, obwohl sie auf streng wissenschaftlichen Forschungen basierten. Dieses Festhalten an der veralteten Interpretation der Evolutionstheorie hatte schwerwiegende Folgen für die Gestaltung unserer Gesellschaft, die sich in einem Satz subsumieren lässt: Der Kampf ums Dasein – ein Prinzip, das dem Turbokapitalismus Tür und Tor öffnete, da er als naturgegeben galt (Stichwort Sozialdarwinismus – siehe nächstes Kapitel).

Faktisch wurden – und werden – Evolutionsforscher marginalisiert, die nicht die gleiche wissenschaftliche Meinung vertreten wie die Befürworter des Neodarwinismus und der synthetischen Evolutionstheorie (bekanntester Vertreter: Richard Dawkins, Autor von Das egoistische Gen). Jeder Wissenschaftler, der nicht mit diesen Richtungen einverstanden war, wurde als Darwin-Verräter diffamiert.

Als einer dieser »Verräter« gilt Rupert Sheldrake, ehemaliger Dozent für Biochemie an der Universität Cambridge. Vor Jahren hatte er ein Buch über seine Theorie der morphogenetischen Felder veröffentlicht mit dem Titel Das schöpferische Universum (A New Science of Life). Da er sich damit als Cambridge-Professor erdreistet hatte, von der Mainstream-Wissenschaft abzuweichen, fiel die Kritik erwartungsgemäß besonders harsch aus. Der Guardian resümierte den Vorgang so: »Als Sheldrake im Jahr 1981 eines Morgens nach dem Aufwachen – es war einige Monate nach der Veröffentlichung seines ersten Buches »A New Science of Life« – den Leitartikel der Zeitschrift Nature las, wurde ihm klar, dass er es zum Status eines unberührbaren Paria gebracht hatte, denn in diesem Artikel wurde allen recht denkenden Männern und Frauen verkündet, dass sein Buch ein ›Buch zum Verbrennen‹ sei und Sheldrake in derselben Sprache zu verurteilen sei, mit der Galileo vom Papst verurteilt wurde, und aus demselben Grund. Es sei reinste Ketzerei.«171 (Hervorhebungen durch die Autorin)

Purer Obskurantismus! Dass eine Fachzeitschrift wie Nature nahelegt, dass das Buch eines Andersdenkenden wie Sheldrake (dessen wissenschaftliche Errungenschaften ansonsten unumstritten sind) verbrannt werden solle, lässt erahnen, was sich womöglich allzu oft an den Universitäten abgespielt hat. Im Manifest des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit vom Februar 2021, das von 555 Professoren (Stand: 16. Juli 2021) unterschrieben wurde, ist dies ziemlich eindeutig dargelegt (siehe weiter unten).172

Wie viele Wissenschaftler mussten wohl jahrelang ihr Wissen um die Unzulänglichkeiten der Evolutionstheorie zurückhalten, weil sie sonst ihren Job riskiert oder ihre Forschungsprojekte verloren hätten?

Manchmal hilft auch die eigene Erfahrung dabei, der Probleme im universitären Betrieb konkret gewahr zu werden. Als ich vor Jahren mit einem französischen Wissenschaftler über die vermutlich einzig korrekte Interpretation seiner letzten Studie sprach – sie enthielt deutliche Hinweise darauf, dass die Evolution nicht zufällig, sondern möglicherweise doch gerichtet, also teleologischer Natur ist – bat er mich, dies in der Zeitschrift, für die ich als Journalistin tätig war, nicht wiederzugeben, denn diese wegweisende Interpretation könnte ihn den Job kosten. Daraus lernte ich, dass viele Wissenschaftler zwar um die Unzulänglichkeiten der Darwin’schen Theorie wissen, ihre Forschungsergebnisse aber so verpacken, dass sie dem neodarwinistischen Dogma zumindest nicht sichtbar entgegenstehen.173

Erst als sich aufgrund dieses unmöglichen Zustands Hunderte von Wissenschaftlern zusammentaten und ein öffentliches Papier unterzeichneten,174 begann die Mauer der Neodarwinisten zu bröckeln. Inzwischen werden Studien bzw. die Vertreter von neuen möglichen Modellen der natürlichen Evolution allmählich zugelassen – obwohl sie nach wie vor mit Vorbehalten und Ablehnung zu kämpfen haben.

Auf diese Weise wurde allerdings ungeheuer viel Zeit verloren … ganze Jahrzehnte – und das alles nur, um eine veraltete Theorie aufrechtzuerhalten? Ein solches Versäumnis in der Wissenschaft ging und geht letztlich zulasten der Gesellschaft.

Wer die Darwin-Thematik vertiefen und verstehen möchte, warum ich hier von »Fehlinterpretation« spreche, sei auf Kapitel 4 »Gesellschaftliche Folgen der Fehlauslegung von Darwins Evolutionstheorie« verwiesen.

Die Pseudologik, mit der darüber entschieden wird, ob ein von der Mainstream-Meinung abweichender Gelehrter oder Wissenschaftler an einer Universität sprechen darf oder nicht, ist nicht nur beschämend, sondern auch äußerst verhängnisvoll für unser aller Zukunft. Der akademische Diskurs nährt sich ja gerade aus unterschiedlichen Standpunkten, Ideen und Erkenntnissen; er wächst mit der stimulierenden Fülle gegensätzlicher theoretischer Ansätze und lebt von der Herausforderung, mannigfache Aspekte und Perspektiven in Einklang zu bringen. Nur so entsteht kulturelle Evolution. Angst dagegen erzeugt Zensur – und ist ein übler Ratgeber, wenn es um die Erweiterung von Wissen und Erkenntnissen geht.

Die hypnotisierte Gesellschaft

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