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Verzerrte Leitlinien

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Ärzte wie Patienten vertrauen den medizinischen Leitlinien, weil diese – so wird uns zumindest vermittelt – von besonders kompetenten Fachleuten, oft Professoren, aufgestellt werden. Diese Leitlinien sind Handlungsempfehlungen für die Ärzteschaft bezüglich Diagnostik und Therapie, um die beste Versorgung der Patienten zu gewährleisten.

Entspricht dieses Bild der Wahrheit, oder ist es wieder nur eines der vielen die Gesellschaft hypnotisierenden = beruhigenden Bilder eines Zustandes, der so nicht existiert? In dem oben erwähnten Artikel betonen die Fachexperten: »Klinische Leitlinien, die Behandlungen empfehlen und Krankheitsdefinitionen erweitern können, werden oft von medizinischen Fachgesellschaften erstellt und von Personen verfasst, die finanzielle Verbindungen zu interessierten Unternehmen haben. Sie können potenziell zu Überversorgung und Überdiagnostik führen.«138 (Hervorhebungen durch die Autorin)

Neben Überversorgung und Überdiagnostik (also überflüssigen Medikationen und unnötigen Untersuchungen) können Leitlinien aber auch zu Unterversorgung und Unterdiagnostik führen (z. B. bei Schilddrüsenproblemen aufgrund der umstrittenen Referenzbereiche für den TSH-Wert – Näheres dazu in meinem Buch Die Blutwert-Lüge).

Anhand einer wissenschaftlichen Umfrage zum Thema Leitlinien und deren Beeinflussung durch Pharmafirmen kamen kanadische Autoren bereits 2016 zu folgendem Schluss: »Finanzielle Beziehungen zwischen medizinischen Fachgesellschaften, die Leitlinien für die klinische Praxis erstellen, und biomedizinischen Unternehmen sind üblich und werden in Leitlinien nur selten offengelegt.«139

Selbst wenn Ärzte derlei Zuwendungen oder Beratungshonorare nicht verschweigen, scheinen sich viele ihrer ethischen Verantwortung gegenüber Wissenschaft und Patienten zu entziehen, insbesondere wenn sie im akademischen Bereich tätig sind. Die lockere Haltung gegenüber Interessenkonflikten (die übrigens nicht nur bei Ärzten anzutreffen ist, man denke z. B. an den Covid-Maskenskandal) kann aber gerade bei dieser Berufsgruppe am Ende zu Entscheidungen führen, die schwerwiegende Folgen für die Patienten haben können.

2013 haben Mitglieder der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) in einem wissenschaftlichen Artikel auf aerzteblatt.de International aufgezeigt, dass in einer deutschen AWMF-S3-Leitlinie (also einer mit der höchsten methodischen Qualität) das Medikament Efalizumab für die Behandlung von Psoriasis vulgaris (Schuppenflechte) empfohlen wurde – trotz der Tatsache, dass 10 der 15 Autoren der Leitlinie evidente Interessenkonflikte angaben. Sie hatten Geldzuwendungen von der Firma erhalten, die dieses Medikament produziert – ein Medikament, dessen Nutzen von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) schon zuvor (2009) als gering erachtet worden war. Angesichts der gravierenden Nebenwirkungen von Efalizumab hatte diese Institution empfohlen, die Zulassung ganz ruhen zu lassen.140

Da sich Ärzte in den allermeisten Fällen an die Leitlinien halten, vertrauen sie offenbar den darin dargelegten Fakten und Therapieansätzen. Obwohl die Leitlinien eigentlich nur Empfehlungen (!) sind, fühlt man sich als Arzt schon deshalb an sie gebunden, weil sie generell als medizinischer Standard verstanden und befolgt werden.141

Die unwissenden Patienten vertrauen den Ärzten, die wiederum wie in Trance den Leitlinien folgen – obwohl sie (zumeist) sehr wohl wissen, dass bei vielen davon Pharmafirmen ihre Hand im Spiel hatten.142

Anscheinend ein weltweites Problem, denn auch das US-Ärzteblatt JAMA konstatierte: »In einer Studie fanden Kahn und Kollegen heraus, dass 91 […] der 160 Autoren von 18 Leitlinien, die sich auf 10 umsatzstarke Medikamente bezogen, finanzielle Interessenkonflikte aufwiesen. […] Bemerkenswert war, dass 14 der 18 Gremienvorsitzenden ebenfalls Zahlungen von der Pharmaindustrie erhalten hatten […]«.143

Die hypnotisierte Gesellschaft

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