Читать книгу Die hypnotisierte Gesellschaft - Miryam Muhm - Страница 19

Pharmafirmen verzerren die Lehre

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Was mich an obiger Analyse sehr überrascht hat, ist, dass von »Studenten« die Rede ist, was ja bedeutet, dass Pharmafirmen bereits Medizinstudenten zu beeinflussen versuchen, also die zukünftigen Ärzte und Wissenschaftler. In einem Artikel der SZ wurde dies deutlich dargelegt: »In der Regel schaffen es Studierende der Medizin kaum bis ins sechste Semester, da haben sie schon ihr erstes Geschenk von der Industrie bekommen – ein Lehrbuch etwa oder eine Reise zu einem Kongress.«114

Fängt so die Einflussnahme auf Ärzte und Wissenschaftler an? Und wie entwickelt sich diese im weiteren Verlauf ihrer Karriere? Die SZ dazu: »Tatsächlich sind Interessenkonflikte von Ärzten ein großes Problem. Gerade an Universitäten arbeiten Mediziner häufig mit Pharmafirmen zusammen, deren Arzneien sie in Studien testen; es gibt Einladungen zu Kongressen, die sich ältere Ärzte nicht leisten wollen und junge nicht leisten können; auch die Fortbildung liegt oft in der Hand der Pharmaindustrie. Die Kurse finden dann in schönen Hotels bei gepflegtem Essen statt und sind damit in den Augen anspruchsvoller Mediziner attraktiver als Veranstaltungen pharmaunabhängiger Anbieter. So kommt es zu finanziellen und ideologischen Verflechtungen, die die Wahrnehmung verzerren; und diese verzerrte Wahrnehmung fließt wiederum in die Lehre ein.«115 (Hervorhebungen durch die Autorin)

Wie folgenreich der Einfluss von Pharmafirmen an Universitäten sein kann, illustriert auch folgender Fall, über den der Spiegel 2012 berichtete: »Der Anästhesist Joachim Boldt war mal eine ganz große Nummer in der deutschen Spitzenmedizin. Chefarzt am Klinikum Ludwigshafen, bei Kongressen und an der Uni Gießen als hervorragender Redner bekannt. Leider tischte er seinem Publikum oft Unfug auf, wahrscheinlich des Geldes wegen.

Joachim Boldts Name stand vor allem für das Medikament Hydroxyethylstärke (HES), ein Blutplasma-Ersatzmittel, hergestellt aus Mais- oder Kartoffelstärke. Er hatte dazu etliche Studien verfasst – und dabei angeblich herausgefunden, dass HES ein echtes Wundermittel sei. […] Hätten ein paar seiner Kollegen vor zwei Jahren nicht mal genauer hingeschaut, würde Boldt vor deutschen Medizinstudenten wohl noch immer propagieren, wie bedeutsam HES doch sei. Es wäre vielleicht auch unter der Decke geblieben, dass der Herr Doktor Zuwendungen von HES-Herstellern bekam, wie es später der Internetdienst Retraction Watch dokumentierte. Doch so flog auf, dass Boldt fleißig fälschte und HES in Wahrheit nicht nur half, sondern potentiell auch Schaden anrichtete. Der Mann verlor seinen Job als Chefarzt, seine Professur, seinen guten Ruf.«116 (Hervorhebung durch die Autorin).

Ein Fall, der in Deutschland aufgedeckt wurde, weil er so offenkundig war – was erahnen lässt, wie hoch die Dunkelziffer solcher Machenschaften sein könnte.

In einer kanadischen Studie über die weitverbreitete Beeinflussung der Medizinfakultäten durch Pharmafirmen wurden mehrere Forschungsergebnisse zu diesem Thema dargelegt, darunter auch die von Dr. Navindra Persaud, Dozent an der Universität von Toronto. Sein Untersuchungsthema war der Schmerzmanagement-Kurs, der zwischen 2004 und 2010 an seiner Universität durchgeführt worden war und den er selbst als Medizinstudent belegt hatte.

Er war schon damals ziemlich überrascht über die Power-Point-Präsentation seines Dozenten. Dieser hatte darin die nachweislich negativen Auswirkungen von Oxycodon (einem potenten Opioid mit hohem Suchtpotenzial) heruntergespielt und die positiven Wirkungen dieses Medikaments anhand eines angeblichen Direktzitats aus einem wissenschaftlichen Artikel übertrieben dargestellt. Laut diesem hätten placebokontrollierte Studien »starke« und »konsistente« Nachweise dafür erbracht, dass Opioide auch nicht-krebsbedingte Schmerzen lindern.

In dem Artikel, auf den der Dozent in seiner Präsentation verwiesen hatte, war ein entsprechendes Zitat allerdings nirgends zu finden; auch kamen »im Originalartikel die Worte ›stark‹ und ›konsistent‹ nicht vor, um die Evidenz zu beschreiben […]«117

Persaud reichte eine Beschwerde ein, und die Universität überarbeitete das Programm. Im Jahr 2013 wurden fast 1400 ehemalige Medizinstudierende der Universität von Toronto kontaktiert und aufgefordert, die Lehrmaterialien zu ignorieren, die ihnen in Bezug auf das verschreibungspflichtige Schmerzmittel Oxycodon ausgehändigt worden waren.118

Dieses Beispiel ist kein Einzelfall und zeigt auf, dass den Medizinstudierenden von einigen Dozenten vermutlich vorsätzlich falsche medizinische Informationen aufgetischt werden. Wie viele ähnliche Fälle anderswo existieren, darüber lässt sich nur spekulieren. In diesem Fall hatte ein Dozent jedenfalls wider besseres Wissen die Nebenwirkungen eines potenten Schmerzmittels mit hohem Suchtpotenzial kleingeredet und der nächsten Generation von Ärzten somit beigebracht, dieses Opioid bei chronischen Schmerzen bedenkenlos verschreiben zu können.

Die durch die Unredlichkeit einiger Dozenten in der Medizinlehre verbreiteten unzulänglichen Fakten bzw. »hypnotisierenden« falschen Wahrheitsbilder können allerdings gravierende oder gar letale Konsequenzen haben. Was in Kanada und in den USA aufgrund der massiven Überverschreibung von opioidhaltigen Schmerzmitteln geschehen ist, wie viele Menschen davon suchtabhängig wurden und wie viele daran gestorben sind, dürfte inzwischen hinlänglich bekannt sein. Zur Erinnerung einige Daten: Die Überdosierung bzw. Überverschreibung von Opioiden hat zwischen 1999 und 2018 ca. 400 000 US-Amerikanern das Leben gekostet.119 In Kanada gab es aufgrund der toxischen Wirkung opioidhaltiger Medikamente zwischen 2016 und 2020 über 17 000 Tote.120

Wenn Universitätsdozenten wider besseres Wissen mit glatten Lügen arbeiten – wie sehr können wir uns dann auf die fachliche Kompetenz der späteren Ärzte verlassen? Sind Medizinstudierende, die gar nicht merken, dass sie falsche Informationen vermittelt bekommen und später als Ärzte in gutem Glauben Medikamente verschreiben, die ihren Patienten gefährlich werden könnten, letztlich nicht Opfer einer hypnotischen Manipulation?

Wie sehr sich Pharmafirmen inzwischen unverhohlen in die Lehrpläne der Universitäten einmischen, wird auch aus einer Meldung in der italienischen Ärztefachzeitschrift Quotidiano Sanità vom April 2020 deutlich: »Sanofi unterzeichnet eine Vereinbarung mit Fimmg121 und Simg122 zur Ausbildung der Ärzte der Zukunft. Eine innovative Form der Zusammenarbeit, die sich der Fortbildung von Allgemeinmedizinern zu den sich ständig weiterentwickelnden klinischen Themen wie kardiometabolische Erkrankungen, Prävention und Management chronischer Krankheiten widmet123 (Hervorhebung durch die Autorin)

Dieses dreijährige Lehrprojekt stieß bei der italienischen Ärzteschaft auf vehemente Kritik. Aus der Fülle von negativen Kommentaren bringen die Warnungen von Dr. med. Bellabona und Dr. med. Mangiagalli die (inzwischen europaweite) Problematik der Einmischung der Pharmaindustrie in die Medizinlehre auf den Punkt: »Merken wir überhaupt, um was für einen gigantischen Interessenkonflikt es hier geht? Früher herrschte wenigstens noch eine gewisse Zurückhaltung, auch wenn eine Einflussnahme bereits vorhanden war. Jetzt agieren sie ganz offen. Genauso gut könnte man die Universitäten und die Ausbildung in der Allgemeinmedizin der staatlichen Kontrolle entziehen. Dies ist die natürliche Folge des Wandels von einem solidarischen zu einem utilitaristischen Gesundheitssystem.« Und weiter: »[…] seit wann diktiert ein Privatunternehmen die Regeln für die ›substanzielle Veränderung des öffentlichen Gesundheitssystems‹? […] Ich freue mich, dass sich viele Kollegen, auch Krankenhauskollegen, über diese Fehlentwicklung Gedanken machen. Jetzt ist es an der Zeit, dem Druck standzuhalten und derlei Angebote abzulehnen!«124 (Hervorhebung durch die Autorin)

Die hypnotisierte Gesellschaft

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