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Eisbär vor Pinguinnest

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Auf dem Weg zu Room 7 machte sich die Ärztin immer noch Gedanken. Die ganze Nacht hatte sie schlecht geschlafen, da die neue Matratze noch nicht eingelegen war. Der gestrige Vorfall geisterte nun, nach dem Morgenkaffee, in ihrem teuer frisierten Kopf herum. Micha war bereits auf dem Wege der Besserung, jedoch würde sie den Neuen vorerst nicht so schnell wieder mit in die Gruppe nehmen. Sie hatte sich, aufgrund ihres überaus immensen Intellekts und ihrer fast unfehlbaren Intuition zu sicher gefühlt. Trotz spärlicher Informationen aus der Akte und ohne den Patienten zuvor gesehen zu haben, war sie von einem non-aggressive Verhalten ausgegangen. Scheinbar zu forsch hatte sie den zweiten vor dem ersten Schritt gemacht. Dieser Fehler würde ihr kein zweites Mal unterlaufen, so viel war sicher.

Gut beladen und mit einem Coffee2go im Maxi-Pappbecher, Nummer 2 an diesem Tage, bog sie strammen Schrittes um Ecke 24 und hielt dann vor Room 7. Direkt vor einem Kittelklotz mit Hamburgervisage:

„Guken Morgmpf“, grunzte es. Sie nickte nur. Wieder so ein grobes Stück Muskelfleisch. Sie musste unbedingt einmal mit Calson reden, ob er nicht ein paar freundlich aussehende, tätowierte Typen der Motorradmafia für die Betreuerjobs anheuern konnte. Mein Gott noch eins!

„Soll if hiea wapfm?“, quetschte der Betreuer mit der durchgehenden Augenbraue im Neandertalerdesign hervor.

„No! Nicht nötig, Sie brauchen nicht zu …“, fast hätte auch sie wapfm gesagt, besann sich aber eines Besseren „… warten. Machen Sie Feierabend. Danke!“ Wankend stapfte er davon. Sicher trollte er sich nun in eine dunkle, feuchte Ecke im 3ten Kellergeschoss, um mit seinem Lieblingslendenschurz Windräder anzufurzen. Oder was diese Typen sonst so in ihrer Freizeit taten.

Dieser Calson … dachte sie kopfschüttelnd, öffnete die Tür und klackerte mit zwei Mal 11cm in den Raum.

Der Neue saß bereits auf der Couch und blätterte in einer politischen Zeitschrift. Das fiel Emily sofort auf, denn die meisten nahmen sich sehr intensiv, wie man am zerfledderten Umschlag erkennen konnte, ein Schlumpf Magazin vor. Wenn noch eines da war.

„Das Labyrinth ist schon ausgefüllt!“ witzelte er und hielt das Schlumpf Magazin hoch. Sein Lächeln bezauberte.

„Well done. In welcher Zeit?“, ließ sie sich zum Smalltalk verleiten. Ups. Was war denn hier los? Witzeleien, vor dem ersten Gespräch, mit einem GUEST! Emily kam näher, trat ihn seine machtvolle Aura. Plötzlich fiel ihr der Vorfall vom Vortag wieder ein. Die Alarmglocken gingen an. Wie unprofessionell von ihr. So etwas schaffte Vertraulichkeiten und untergräbt das Guest–Therapeuten–Verhältnis.

Zügig machte sie aus ihrem Coffe2go einen Coffee2flow und stürzte ihn die Kehle herunter. Dann legte sie Schreibblock und Stift beiseite und stellte ihre Tasche ab, um ihren engen Rock glatt zu streichen. Haltung, Emily, Haltung. Beide reichten sich die Hand. Sie setzte sich, er legte die Lektüre beiseite und musterte sie.

Die Schuhe verlängerten ihre Beine bis ins Unendliche. Lange bestrumpfte Schenkel, glatt und seidig, und eine dunkelblaue Schulmädchenuniform, die sich eng an ihre schlanke Figur schmiegte. Lediglich das künstlich gestraffte Gesicht ließ ihr Alter vermuten, aber schlecht schätzen. Ein Duft von Jasmin umwand ihren Körper wie eine unsichtbare Schlange. Sie spürte seine anzüglichen Blicke auf ihrem Körper. Und obwohl sie es sich nicht eingestand, gefielen sie ihr.

„Let‘s beginn“, sagte die Ärztin wasserdicht. „Mein Name ist Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching, Leiterin von Haus Bellfort. Ich führe heute die Untersuchung bei Ihnen durch, Herr Charity.“

„Sagen Sie Juras zu mir!“ Sie blickte ihn stumm und steif an. Eine lange Pause entstand. Sein Lächeln verschwand. Dann fuhr sie fort.

„Sie können sich auch hinlegen, wenn es Ihnen hilft zu relaxen, Herr Charity.“ Die Anrede sagte sie betont langsam, um keinen Zweifel an ihrem Verhältnis aufkommen zu lassen. Das Eis war wieder geflickt.

„Entspannen?“, wurde er schlagartig ernst bis angesäuert, da ihn sein Charme scheinbar nicht weiterbrachte. „Wie soll ich mich HIER entspannen. Ich bin nicht freiwillig hier und schon gar nicht zum Entspannen! Ich war bereits 3 Tage zum ENTSPANNEN im ZentralKlinikum. Man sagte mir, ich würde hier eine kleine, letzte Untersuchung absolvieren und dann: Auf Wiedersehen!“

Sie ließ ihn reden, goss zwei Gläser mit Wasser voll, trank einen obligatorischen Schluck und machte sich Notizen.

„Über diesen Sachverhalt muss ich Sie wohl aufklären. Sie wurden zu mir geschickt, damit ich mir ein Bild von Ihnen machen kann und dann wird entschieden, wie es weiter geht!“

„Weiter geht?“, wiederholte er. Für Wiederholungen hatte er wohl eine Schwäche. „Soll ich also noch länger hier bleiben?“

„Das hängt ganz von meinem Bericht ab, den ich Dr. Nikolay ins ZentralKlinikum senden werde!“ Sie tippte zwei Mal mit ihrem Stift auf den Schreibblock auf ihrem Schoss. Nun schmiss Charitys Puls die Walkingstöcke weg und begann zu galoppieren. Es war spürbar. Mit großer Anstrengung riss er sich jedoch zusammen, so gut es ging und schwieg, wie ein Eisbär vor einem Pinguinnest.

„Can you tell me, was gestern in der Vorstellungsrunde geschehen ist?“, fragte Emily in professionellster Manier. Er wippte zurück, dann vor, sog die Luft ein und schnaubte:

„Geschehen? Ich habe mich selbst verteidigt, das ist geschehen!“

„Aber es hat Sie doch niemand provoziert oder angegriffen, you know? Vor allem Herr Breizbein nicht.“

„So viel will ich Ihnen verraten:“, begann er geheimnisvoll, mit dem Finger wedelnd. „Vor allem die, die so unschuldig tun und angeblich kein Wässerchen trüben können, sind die Schlimmsten!“ Mit verschränkten Armen und die Beine übereinanderschlagend lehnte er sich zurück. Von Hinlegen aber immer noch keine Spur. Mit einem „Hmm!“ kommentierte Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching seine Aussage und machte sich einige Zeit Notizen. Im Raum herrschte eine spürbare Grundspannung. Sie schwappte die ganze Zeit hin und her. Von einer Wand zur anderen. Juras brach dem Schweigen das dünne Rückgrat. Diesmal die Zunge-in-Honigtopf-getunkt-Taktik. Wandlungsfähig bis Schizophren, dachte sie.

„Frau Doktor Schabbach von Graupen-Aiching. Ich denke wir wissen beide, dass ich hier nicht her gehöre. Ich meine, seien wir doch mal ehrlich. Die Typen hier haben sie nicht alle auf der Pfanne. Die glauben die seien Napoleon oder Hannibal oder so was, haben ihre Katze ertränkt oder zeigen ihren Piepmatz am Busbahnhof um 16:30, wenn alle Pendler nur nach Hause wollen und mit Würstchen nichts am Hut haben. Ich, ich bin ein ganz ‚normaler‘ Typ! Verstehen Sie?“ Charity lächelte mit Babykatzengesicht, welches sie zum Einlenken und ihn hier so schnell wie möglich raus bringen sollte. Die Reaktion der Ärztin war jedoch nicht ganz so wie erhofft. Sich die Halbbrille abnehmend und wieder aufsetzend, die Beine von rechts nach links übereinanderschlagend, mit vornehm dezentem Rascheln in Haar und Kleidung und einem Blick von psychiatrischem Verständnis, sagte Frau Doktor schließlich:

„Herr Charity!“ Es folgte ein langes Ausatmen „Die Reaktion, die sie gestern an den Tag gelegt haben, war everything else than ‚Normal‘ “ Eine kleine Nervositätspause entstand, die sich direkt neben Charity auf die Couch setzte und auf ihren nächsten Einsatz wartete. Wie unangenehm. „Wir haben hier keinen Napoleon und Hannibal ist im Klinikum in der Innenstadt, aber was wir hier haben, ist viel wichtiger als das. Time, gut ausgebildetes Personal und vor allem ein Ohr und viel Verständnis!“ Sie zog die Nasenspitze nach oben und ihr Blick bohrte sich, durch das Okular verstärkt, wie ein unsichtbarer Laser durch Juras Netzhaut. Es gab einen stechenden Schmerz an der Rückseite der Schädelplatte und er war plötzlich wie paralysiert. Die Nervositätspause verpasste fast ihren Einsatz. Doch dann stand sie auf und erfüllte den Raum. Er begann das Schwitzen.

„Nichts kommt von ungefähr, Mister Charity. Und je schneller Sie das Begreifen und sich uns bzw. mir, ich gedenke ihren Fall höchst persönlich zu übernehmen, öffnen, desto schneller kann ihr Heilungsprozess beginnen. Understand?“

Ihre Worte waren magische Worte, die in ihrem Klang und ihrer Vortragungsweise jeden Kaumuskel in Charitys Körper zum Erschlaffen brachte. Seine Kinnlade klappte herunter und hätte beinahe seine Zehen berührt. Der Mann auf der Couch fing sich und kurbelte sie wieder hoch.

„Heilungsprozess? Öffnen? Persönlich übernehmen?“

„Yes, right!“ sagte sie. Gierig stürzte er das große Glas Wasser herunter, nur um noch eines zu nehmen und schließlich noch ein halbes hinterher. Völlig außer Atem japste er:

„Und wie lange wird das dauern?“ Die Antwort würde ihm nicht gefallen, das ahnte er bereits.

Die Ärztin zog die dünnen, scheinbar nur aufgemalten Augenbrauen nach oben und einen Hauch die Schultern straff:

„Das liegt ganz bei Ihnen. Fakt ist jedoch: Ich kann und werde sie nicht so einfach gehen lassen.“

„Das können Sie nicht tun! Das ist Freiheitsberaubung“, protestierte Juras plötzlich wieder mit Nachdruck. War er zuvor noch niedergeschlagen und einsichtig, war er im nächsten Moment aufgewühlt und kurzsichtig.

„Sie irren, Herr Charity!“ Sie stand auf und machte kleine, runde Abdrücke in den Hochfloorteppich, Richtung Coffeedesk. Dabei sprach die Frau weiter ruhig und gelassen mit diesem Hitzkopf. Eigentlich tat es ihr fast leid, den Mann mit solchen Mitteln an die Wand zu fahren. Doch er hielt mit etwas Schrecklichem hinter dem Berg, das spürte sie, dafür hatte sie ihre jahrelang geschulte Intuition. Ihn einfach ziehen zu lassen wäre verantwortungslos. „Sie sind ins Getriebe der Psychoanalyse geraten und hier kommen Sie so schnell nicht wieder heraus. Sie haben Probleme und dabei möchte ich Ihnen helfen, verstehen Sie?“ Er schwieg wieder. Am Coffeedesk nahm sie die Akte zur Hand und meinte dann lauter, da der Vollautomat dröhnte:

„Offiziell sind Sie noch bei meinem guten Friend Prof. Dr. Nikolay im ZentralKlinikum in Behandlung. Doch ich werde ihre Versetzung hierher bewilligen lassen.“ Der kleine Löffel klingelte in der Espressotasse. „Reine Formsache.“ Sie blickte auf die Uhr, hörte auf zu rühren und legte den mit leichten Lippenstiftspuren in zartem Rot besetzten Löffel fort. „Ab morgen können wir dann, sofern Sie dazu bereit sind, mit der Therapie beginnen und ihrem ‚Inneren Schatten‘ auf die Schliche kommen. Wie gesagt, Juras, es liegt ganz bei Ihnen!“

Dann setzte sie sich mit einem frischen Espresso2sit. Zögerlich knirschte es zwischen seinen Hirnhälften wie Kontinentalplatten an einem späten Herbstnachmittag.

„Aber meine Frau ...“, aberte Charity in einem letzten Versuch, wurde aber unterbrochen.

„Die weiß Bescheid und wünscht sich ihre schnelle Genesung. Zu diesem Zeitpunkt ist es nicht angebracht sich emotionalen Störfaktoren auszusetzen, so müssen wir, vorerst, auf Kontakt nach außen verzichten. WIR sollten uns jetzt ganz und gar auf SIE konzentrieren!“ Das ließ Frau Doktor erst einmal sacken und nippte am Tässchen. Die langen Fingernägel hatten Mühe den winzigen Henkel der Rollani-Designer-Tasse zu halten. Ein Kraftakt.

Charity blieb keine Wahl mehr. Es war, wie sie bereits gesagt hatte. Er war in die Psychotherapiemühle geraten. Wie, war ihm immer noch nicht klar. Juras überlegte und überlegte und überlegte.

„Gut, dann hätten wir das ja geklärt!“ Sie lächelte ihr schönstes Lächeln, welches ihre chirurgisch einwandfrei gestrafften Lachfältchen zuließen. „Leider habe ich jetzt noch einen anderen Termin, wenn Sie mich also bitte entschuldigen möchten. Wir können unsere Unterhaltung gerne morgen weiter führen!“ Mit zur Seite gebeugten Knien sammelte sie ihre Sachen auf und klickklackte hinaus. Zurück blieben eine leichte Wolke aus Jasminduft und ein geistesabwesend überlegender Juras Charity. Erst als der Weißkittelschrank mit dem Bildungsgrad einer Zitrone ihn in seinem Zimmer ablieferte, murmelte er unhörbar zu sich selbst:

„Runde eins geht an Sie, Frau Doktor!“

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