Читать книгу Die Ringe des Herrn - Monduras IX. - Страница 6
HokusPokus
ОглавлениеPlötzlich stand er da. Von Dunkelheit und dichtem, aufsteigendem Nebel umgeben. Ein beißender Geruch nach erhitztem Metall, verbranntem Holz und Erbrochenem stieg ihm in die Nase. Hüstelnd sah er sich zaghaft um.
Überall lagen, teilweise noch glühende, Gesteinsbrocken verstreut. Sand, ein paar verkohlte Pflanzen auf rußgeschwärztem Boden. Und mittendrin: er. Was war hier bloß geschehen. Er griff sich an dem Kopf. Schmerzwellen durchfuhren ihn wie 12,5Tonner, die den Asphalt der äußeren Hirnrinde plattwalzten. Wie in Trance verging die eine und andere Minute. Er machte ein paar Schritte, fragte sich noch, warum er inmitten dieser Katastrophe stand, dann stolperte er und gab sich im Zeitlupentempo mit geschlossenen Augen der Erdanziehung hin.
Als er die Augen wieder aufschlug, war der meiste Rauch verschwunden. Restschwaden spielte mit dem Wind Fangen, zerfaserten, lösten sich auf. Wieder musste er husten, drückte sich mit den Armen nach oben und spürte, wie ihn bei jeder Bewegung stechende Schmerzen in Gliedern und Gelenken in der Realität willkommen hießen. Seine Haut war an zahlreichen Stellen auf- und teilweise abgeschürft. Ansonsten war er unversehrt geblieben. Ein Wunder, wenn man sich das Ausmaß dieses, was auch immer, hier betrachtete. Langsam traten zwischen den Wolken die Sterne hervor, funkelten am Himmel und der halbe Mond spendete ihm Licht. Die Umgebung klarte auf. Scheinbar befand er sich inmitten eines riesigen Kraters. Um ihn herum ging es nur bergauf und ihm wurde schwindelig, als er sich im Kreise drehte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Wattebausch: Er hat keinen blassen Schimmer wer und wo er war, geschweige denn, was mit ihm geschehen sein mochte.
Ein seltsames Gefühl kroch an ihm hoch. Er konnte nicht genau sagen woran es lag, aber sein Körper kam ihm irgendwie unvertraut vor. Mochte ihm nicht richtig passen, als hätte er ihn sich nur ausgeliehen. Die schmutzigen, unbeschuhten Füße drückten mit dem darüber verwachsenen Beinoberkörperarmkopfgeäst mit etwa 100 Kilogramm auf den Boden ein. Der Rest seiner weißlichen Haut schimmerte unnatürlich silbern im Mondlicht. Das schwere, schwammige Fleisch seiner Gestalt reagierte merkwürdig verzögert auf seine gedanklichen Anweisungen. Zudem belastete ihn jede Bewegung, jede Drehung, jedes Bücken, jedes Strecken. Es liegt sicher am Schock, redete er sich ein. Oder etwa nicht? Zweifel befielen ihn wie Flöhe den Zwergmolch. Das Atmen fiel ihm plötzlich schwer. Er keuchte, hyperventilierte vor sich hin, hielt abrupt seinen Atem an und starrte mit unverhohlenem Entsetzen an sich herunter. Es fiel ihm wie Schuppen von den Fischlenden.
Er war ... Er war NACKT!
Die Embryonalstellung brachte nach einigen Minuten etwas Ruhe in die verfahrene Situation. Nachdem er drei Mal bis 33 gezählt hatte, öffnete er zaghaft die Augen. Die Hoffnung, alles sei ein böser Traum gewesen, aus dem er nun aufwachte, stellte sich als Irrglaube heraus. Notgedrungen, er konnte ja nicht ewig hier herumliegen, setzte er sich auf. Die Dunkelheit war in jedem Fall sein Vorteil. Zudem hatte den Vorfall scheinbar noch niemand bemerkt. Es kam niemand angelaufen oder lief aufgeregt umher, um die unglaubliche Story von dem blassen, sich zu später Stunde in völliger Nacktheit befindlichen Typen im Krater auszulassen.
Wird es jedoch erst einmal hell, stehe ich dumm da. Ein Bild, welches er sich lieber nicht ausmalte.
Mit Kloß im Hals kam er zu der Erkenntnis, die Dinge, wohl oder übel, selbst in die Hand nehmen zu müssen. Eine Formulierung, die nicht recht passen wollte. Er musste dringend etwas zum Anziehen finden, oder zumindest etwas zum Bedecken. Und los ging‘s. Auf der Suche nach etwas Abdeckmaterial, bewegte er sich in geduckter Haltung in eine beliebige Richtung. Änderte diese, suchte weiter, änderte sie abermals. Eine kleine Echse huschte über seinen Weg. Aber selbst wenn er sie dazu brächte sich festzuklammern ... sie wäre einfach zu winzig und hatte zudem zu spitze Krallen. So verscheuchte er den Gedanken und die Echse. Schließlich musste er aufgeben. Außer ein paar trockenen Zweigen und viel Sand, gab es hier nichts, was sich zur Verhüllung seines Lendenbereichs eignete.
Nach kurzem Überlegen fasste er sich ein Herz, einen neuen Plan und schon erhob er sich zu voller Größe, wie der evolutionäre Uraffe beim ersten aufrechten Gang. Aber der hatte wenigstens Buschbewuchs zwischen den Beinen. In seinem Fall schirmten seine Hände das Offensichtliche mehr schlecht als recht ab, doch was sollte er sonst tun? Er brauchte Kleidung und das schnell. Ein Blick in die Ferne brachte auch keine neuen Erkenntnisse. Weit und breit keine Stadt, kein Dorf, Stall, Hotel oder Golfplatz zu entdecken. Nur Sand und Steine schlecht ausgeleuchtet in allen Richtungen. Wie sehr er sich auch anstrengte. Wohin sollte er nun gehen? Letztlich entschied sich für irgendeine Richtung. Im schlechtesten Fall lief er weiter in die Wüste hinein, im Besten, fand er jemanden, der ihm weiterhelfen konnte. Und dann entschied er sich um und für den besten Fall.
„Hey Mann, haste das auch gesehen? Dies mächtige Feuer, was vom Himmel gefallen is?“
Erschrocken stolperte er mit den Armen rudernd zurück und landete auf Staub und Stein. Wie aus dem Nichts war ein alter, klappriger Mann aus der Dunkelheit aufgetaucht und stand auf seinen Hirtenstab gestützt da. In Sekundenschnelle aus dem Boden gewachsen. Stocksteif und von der Erhabenheit eines alten, sehnigen Geißbocks auf seinem Lieblingsfelsen. Sein Herz raste und hämmerte in seinem Brustkorb gegen die Rippen.
„Haben Sie mich erschreckt, Mann“, gab er keuchend zurück und stützte sich auf die wunden Knie. Er hatte den bittersüßen Atem des Alten immer noch in der Nase und sog nun hastig die kühle Nachtluft durch die geweiteten Nasenlöcher ein.
Der Mond schob einige der Wolken beiseite und erhellte die Umgebung ein wenig mehr. In diesem Moment ließ der Alte seinen Silberblick schweifen, verharrte und schüttelte dann verständnislos den Kopf.
„Was bist ‘n du für einer? Zieh dir mal was an! Unappetitlich…“ Mehr zu sich selbst als zu dem Nackten, murmelte er: „Ich bin nur noch von Verrückten umgeben. Der Typ hat wohl nicht mehr alle Schäfchen beisammen.“ Ohne dass der Nackte etwas entgegnen konnte, erstrahlte plötzlich vor ihnen eine Lichtgestalt. Sie schwebte circa 30 cm über dem staubigen Boden und ihr gleißender Schein überflutete sie wie zehn Sonnen. Es brannte in ihren Augäpfeln, doch sie konnten nicht umhin die Gestalt unverhohlen anzustarren. Offenmundig standen sie, von Angst gelähmt, reglos da und waren vollkommen vereinnahmt von diesem Moment der Erleuchtung. Mit zur Seite ausgestreckten Armen und nach oben gerichtetem Gesicht wiegte die Gestalt leicht im Wind. Sie trug einen goldenen Brustpanzer und weiße, wallende Tücher um die Hüften. Wie ein riesiges Kreuz stand sie in der klaren Luft des Abends, erhaben an den schwarzen Hintergrund genagelt.
Mit einem Male klappten hinter ihr zwei mächtige Flügel zu beiden Seiten nach oben. Sie maßen sicherlich etwa 3m von Spitze zu Spitze. Die Schwingen ließen den Engel, was es zweifelsohne war, noch imposanter und furchteinflößender, doch eventuell etwas übertrieben, wirken. Die zwei nächtlichen Wanderer vergaßen vollständig das Atmen, als der Engel sie aus silbernen Augen anstarrte und mit ausdrucksloser Miene zu ihnen sprach:
„Fürchtet euch nicht!“ Weiter kam er nicht, denn der Alte brach augenblicklich an seinem Stock zusammen, legte sich ungeschickt, in äußerst verkrümmter Haltung in den Sand und verstarb auf der Stelle. Engel und übergewichtiger Nackedei drehten gemeinsam die Köpfe zu ihm hin. Die von Magie und Mystik durchzogene Stimmung war dahin.
Besorgt stieg der Engel herab, das Leuchten verschwand und nun wirkte er, von den Flügeln mal abgesehen, wie ein ganz normaler Mensch, mit einem Hang zu protzigem Goldschmuck.
„Verdammt, nicht schon wieder“, sagte er in die kleiner gewordene Runde hinein. „Nicht, dass du mir auch abtrittst.“ Vergeblich tippte er mit seinem Finger auf die Stirn des Toten, doch nichts geschah. Sie schauten sich an, dann wieder auf den Toten und wieder sich gegenseitig. Die vorherige Angst des Menschen war verflogen. Vielmehr war er misslaunig, mit einem stetig wachsenden Wutpotenzial. Einige Sekunden später platzte es heraus.
„Schon wieder? Schon wieder? Was soll das heißen. Passiert dir das öfter?“
„Kein Grund zur Panik!“ meinte der Engel beschwichtigend, hob die mächtigen Hände und trat einen Schritt zurück. „Ich übe noch. So viel hatte ich mit den Menschen auch noch nicht zu tun! Hätte ja nicht ahnen können, dass ...“
Pummelchen packte den fast zwei Köpfe größeren Engel an der Rüstung und schüttelte diesen, ohne an mögliche Konsequenzen zu denken. Mit Sicherheit konnte dieser göttliche Gesandte ihn mit einem Lichtstrahl ins Jenseits befördern oder in einen Wurm verwandeln oder schlimmeres. Doch darüber dachte er jetzt nicht nach, beschimpfte und riss an ihm, was das Zeug hielt:
„Du hast ihn getötet, für deine 'Seht her, ich bin ein Gottgesandter und ihr müsst ehrfürchtig vor mir niederknien-Show'? Du hast sie wohl nicht mehr alle, was? Ein durchgeknallter Engel, nachts in der Wüste von, ach was weiß ich, wo wir hier sind. Und er 'übt noch' und es 'konnte ja keiner ahnen'!“ Plötzlich ließ er den Engel los und äffte diesen nach, während die Gestalt auf ihn herab schaute und eine Weile wartete. Dem Engel war die Situation sichtlich unangenehm und er ließ den wohlgenährten Menschling gewähren. Es brauchte einige Zeit, dann erwachte der Mensch scheinbar aus seinem Fluchdelirium. Wieder im Hier und Jetzt angekommen, schaute er sich um und ihm fiel wieder ein, dass er gar nicht wusste wo er und wer er war. Mit nacktem Hintern setzte sich resignierend auf einen Felsen. Der Engel setzte sich neben ihn. Sie ließen noch etwas stille Zeit vergehen. Der Mond schaute auf sie herab und ein Schaf kam herüber gelaufen. Sie kraulten es abwechselnd und dann meinte der Mensch:
„Hast du wenigstens was zum Anziehen dabei?“
„Zufällig ja!“ Der Engel griff sich mit einer Hand an den Rücken und reichte dem Mann eine grobe Tunika aus Leinen und Leder-Sandalen im Standard-Design. Dabei hoffte er, das weit geschnittene Kleidchen würde nicht so sehr spannen, hatte er doch mit einem etwas schlankeren Herrn gerechnet. Doch es ging, wie sich zeigte.
„Nun, da wir einen schlechten Start hatten, möchte ich mich erst einmal vorstellen. Gestatten: Gabriel, Erzengel, Bote Gottes und sein Marketing-Berater! Aber du kannst mich auch Gabb nennen!“
„Marke-was?“, fragte der frisch gebackene Tunikist.
„Du wirst gleich verstehen“, sprach der Engel und trat einen Schritt näher an den Mann, der bereits jetzt mit einem Stein in der Sandale kämpfte. Argwöhnisch wich er jedoch zurück:
„Nicht schon wieder so ein HokusPokus!“
„Nein, nein. Versprochen“, meinte Gabriel und begann zuerst schwächlich, ja regelrecht zaghaft und dann immer stärker zu leuchten. Seine silbernen Augen wirkten spiegelglatt und wie in Stein gemeißelt. Sie ließen jede Art von Mitgefühl vermissen. Hart, starr und ausdruckslos. Dann trat der Engel noch näher an ihn heran. Mit einer abrupten Bewegung in enormer Geschwindigkeit und einer Behändigkeit, die man dem Engel gar nicht zugetraute hätte, schnappte er zu und umarmte den überraschten Menschen. Dieser wusste gar nicht wie ihm geschah. Wie paralysiert stand er in der Umarmung der engelischen Schlange und spürte dessen unglaubliche Wärme. Eigentlich hätte der goldene, etwas zu dick auftragende Brustpanzer kühl sein müssen, doch mit Nichten. Vielmehr fühlte er sich wohlig warm und weich, fast flüssig auf seiner Wange an. Ihn umfing ein behagliches Gefühl. Als sich die federbewehrten Flügel vollständig um sie schlossen, durchfuhren ihn, außer dem Gedanken, dass sie, für einen unbeteiligten Betrachter einen durchaus homosexuellen Eindruck machten, die Erinnerung. Er schloss die Augen und vor ihm bildeten sich unglaubliche Bilder einer Umgebung und seiner Existenz, die er niemals hätte erahnen können. Pulsierende Lichtwellen ließen die Adern seines menschlichen Körpers anschwellen und sein Herz pumpte seine Vergangenheit in jeden Winkel seines Seins. Es war ein Gefühl von nach Hause kommen. Der Knoten der Unkenntnis über sich selbst zerbarst unter dem Druck der Erinnerungen. Irgendwann sackte er schwach zusammen und Gabb legte ihn behutsam ab.
Die heißen Sonnenstrahlen weckten ihn. Das Blinzeln mit Sand im Auge gestaltete sich schwierig und schmecken tat er auch nicht besonders. Mühselig entfernte er die Körnchen und glaubte einen ungemein seltsamen Traum gehabt zu haben, als Gabb in einiger Entfernung über die Düne kam. Er setze sich auf und lehnte im Schatten an einen Felsen. Die nackten Füße im heißen Sand. Müdigkeit schlief noch auf seiner Brust. Er wollte sie nicht wecken. Plötzlich befiehl ihn die Erinnerung an letzte Nacht wie eine hungrige Hyäne das Aasbüffet. Der alte Mann, das Schaf, mit Gabb kuscheln, die Erkenntnis der Sohn Gottes zu sein, ohnmächtig werden, mit Sand in der Kehle aufwachen ... Er zuckte zusammen. Moment mal! Sohn Gottes? Was? Wie kam er denn darauf? Er grübelt angestrengt und fand in seinem Kopf einen ganzen Honigpott voll Vergangenheit. Er war Zeit seines Lebens im Himmel gewesen. In Gedanken schritt er durch das hohe Himmelstor, am Ende der gigantischen Rolltreppe. Weiße Wolken umflossen ihn und bildeten über und unter ihm einen wahrhaft himmlischen 3D Effekt im gesamten Farbspektrum. Auf einigen standen Villen aus weißem Marmor, aus verschiedenen, teilweise noch nicht angebrochenen Erdepochen. Andere trugen Schwimmbäder, Kindergärten, Spielwiesen für Hunde, Lamas und AlbinoChamäleons mit einem Hang zur Telekinese. Es gab aber auch Nurhundewiesenwolken und Nurkatzenkratzbäumewolken. Wieder andere beherbergten kleine Meere mit großen Dinosaurierfischen, große Seen mit kleinen Goldfischen. Dschungel ohne Rodungsarbeiten, Steppen ohne Steppenwölfe, Wüsten mit Ordnung oder wüst durcheinander, Dünenlandschaften vor ausgetrockneten Meeren oder riesige Steinhaufen aus Steinen, zwischen denen sich Steinsalze auf den nächsten Regen freuten. Zur Unterhaltung oder Beschäftigung der zahlreichen Bewohner gab es Konzerthallen, Stadien, Vergnügungsparks, Bibliotheken, Universitäten und Verwaltungsgebäude für die ehemaligen Beamten, die das ‚Arbeiten‘ nicht lassen konnten. Forschungseinrichtungen, Telefonzellen um sich bei irdischen Seancen einzuklinken usw. usw. Es gab nichts, was es nicht gab. Zudem verschmolzen die Wolken miteinander, bildeten andersartige Gebilde, Gebäude und Landschaften. Ein wilder Reigen in immer neuen und aufregenden Formen, die jede Sekunde zum Erlebnis machten. Dann trennten sie sich wieder, um sich erneut zu gestalten.
Dazwischen Harfe spielende Engelskinder, die Erzengel und natürlich die Ex-Erdies, die Verstorbenen von unten. Jedem wurde jeder Wunsch aus den Gedanken gelesen und materialisierte sich. Jeder schuf sich hier sein eigenes Himmelreich. Bei all den Überlegungen wurde ihm schwer ums Herz. Er hatte alles, was er brauchte, um sich die Zeit zu vertreiben. Sein 360Grad Fernseher mit der Gedanken-Spielekonsole und dem Foodprinter, mit dem man sich alles was man gerade haben wollte, ausdrucken konnte. Seine Freunde, die sich zu Besuch dachten oder zu denen er sich dachte. Konzerte, ferne Welten, Spaß! Jahrhunderte mussten so vergangen sein. Das Einzige, was ihm jedoch nicht einfiel, war, wie er in Dreiantigottesnamen hierhergekommen war. Dann kam ihm Vater in den Sinn, der ihm mehr als einmal prophezeit hatte, dass sein Herumlungern irgendwann ein Ende haben würde. Er müsse erwachsen werden, hatte er gesagt. Doch er, Gott-Junior oder GJ, hatte immer müde gelächelt. Schließlich hatte Vater wohl doch sein Vorhaben in die Tat umgesetzt, dachte er bitter.
„Wie geht’s heute?“, riss ihn Gabb plötzlich aus seinen Überlegungen. Gekleidet in handelsübliche Tunika und Sandalen, trug er einen Turban auf dem Kopf und hielt einen Eimer in der Hand. Von den mächtigen Flügeln war nichts zu erkennen. Er sah ohnehin verändert aus. Während er ihn gestern Nacht noch wie ein Hüne um zwei Köpfe überragt hatte, schien er kleiner, schmächtiger und menschenähnlicher denn je. GJ zog die Augenbrauen hoch und starrte den Engel misslaunig an.
„Irgendetwas nicht in Ordnung?“, fragte dieser, stellte den Eimer ab und hockte sich neben ihn.
„In Ordnung?“, gab GJ zurück. „Nichts ist in Ordnung. Was soll das Ganze hier? Was ist mit mir geschehen? Hast du das alles hier eingefädelt?“ Er machte eine umfassende Handbewegung. Der Engel antwortet:
„Ja und Nein!“ GJ schnaubte verächtlich:
„Das habe ich mir gedacht! Genauso kenne ich euch Erzengel. Ihr kommt immer direkt auf den Punkt!“ Gabb:
„Du erinnerst dich?“
Eine Pause entstand. GJ machte es spannend.
„Ja“, gab er dann zu, „ich erinnere mich. An mein wunderbares, sorgenfreies Leben, den Himmel und alles was ich nun, dank DIR, nicht mehr habe.“
„Dem Herrn sei Dank. Hab ich es also doch geschafft!“ freute sich der Engel. GJ aber:
„Geschafft mich mächtig sauer zu machen? Oder mir die Erinnerung zurückzugeben?“
„Das mit der Erinnerung, natürlich. Wie gesagt, ich übe noch. Bin noch nicht lange göttlicher Bote im Dienste des Herrn!“
„Hm. Na dann“, war das Einzige, was GJ dazu erwiderte. Er hatte im Moment keine große Lust sich die Lebensgeschichte von Gabb erzählen zu lassen. Und dann begann Gabb zu erzählen. Über Gott und seinen Plan ihn auf Erden erfolgreicher zu vermarkten und:
„..naja, dann habe ich dich, nachdem ich dich betäubt hatte, einfach in die himmlische Luftschleuse gesteckt und ZACK!“
„Du hast WAS?“ GJ stand auf und beugte sich mit geballter Faust über sein Gegenüber. Dieser Engel erweckte Empfindungen, die er noch nie zuvor in sich hatte aufkochen lassen.
„Na irgendwie musste ich dich doch hierher bekommen. Du bist Teil des Ganzen. Du machst mit!“, erklärte sich Gabb nicht im Mindesten eingeschüchtert, dafür aber selbstüberzeugt.
„Ich mache gar nichts mit. Ich… ich… ich fasse es nicht. Und Vater hat sein Einverständnis gegeben? Tss. Das sieht ihm ähnlich.“ GJ drehte sich weg. Er hatte so eine Wut im Bauch, dass er sich kaum zu beherrschen wusste. Dass dieser Engel sich den ganzen Mist ausgedacht hatte, war schon schlimm genug. Wahrscheinlich wollte er sich damit bei Vater profilieren oder so was. Von wegen: 'Schau her, Gott, du hast den Richtigen für diesen Job ausgewählt. Wenn mein Vorgänger so eine Pfeife gewesen ist, ich bin es nicht'. Aber das es auf seine Kosten, hinter seinem Rücken und mit Vaters Absegnung geschah. Das war zu viel. Er machte einen Satz und sprang dem Engel unvermittelt vor die Linse. Ganz dicht vors Gesicht. Sie waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und jeder spiegelte sich, unnatürlich gekrümmt, wie im Spiegelkabinett, wo die dicke Frau für ein paar Stunden mal so richtig Model spielen kann, in der Pupille des anderen. Die Luft knisterte zwischen ihnen und GJ zischte wie ein Ameisenbär beim Mittagsschlaf:
„Und jetzt ... bringst du mich wieder hoch, hast du verstanden?“ Ein Zähneknirschen schnitt sich durch die entstandene Stille. Selbst die Grille ward nun stille. Gabb unterdrückte das Blinzeln, hielt den Atem an und sagte langsam und bedächtig, mit ruhigem Ton:
„Ja und Nein!“ GJ schloss bedächtig die Augen, zwang seinen quadratischen Gefühlsklumpen herunter und richtete sich gemächlich auf. Gabb setzte nach:
„Also, ähm, verstanden hab ich schon, aber ... das mit dem zurückbringen ist so ne Sache.“
Der Sohn Gottes brauchte einige Sekunden um sich zu fangen. Er hatte es geahnt. Tief in seinem Innersten hatte er es geahnt. So schnell kam er aus dieser Nummer nicht heraus. Ohne ein weiteres Wort kletterte er auf einen großen Felsen, legte den Kopf in den Nacken und begann aus vollem Halse an zu schreien:
„VATER. Hol mich sofort hier raus, verdammt. Das kannst du mir nicht antun.“ Nichts geschah.
„VATER!!! Allmächtiger, Herr aller Dinge, Erschaffer dieser Welt…“, usw. usw. So ging es eine ganze Weile, während die Sonne über den Himmel wanderte. Gabbs kleiner Einwand wurde mit rüden Blicken zerschmettert. Und so überließ er ihn seinen unbelehrbaren, lauthalsigen Schreien. Es variierte von Zeit zu Zeit, mit mehr oder weniger eingeschobenen Pausen, mal lauter, mal leiser, mal schriller und heiser, mal dumpfer, mal stumpfer, mit Flehen, über Betteln, Verwünschungen und Flüchen, bis hin zu Wimmern, Weinen, Stampfen, Drohen und allem, was ein Kind seinen Eltern noch so antun kann. Der Engel hielt sich strikt zurück und machte sich so seine Gedanken. Junior war ihm ein wenig zu unbeherrscht. Zudem hatte Gabb keine große Lust seinem neu gewonnenem, menschlichen Körper Schmerzen zufügen zu lassen. Sollte sich der göttliche Knabe erst einmal austoben. Später könnten sie mit ihrer Unterhaltung fortfahren. Dann würde er ihm auch endlich unterbreiten, dass Vater im Urlaub sei, was er ihm bereits vor Stunden hatte sagen wollen. Wenn er sich wieder beruhigt hatte, Hunger bekam und die Ausweglosigkeit seiner Situation begriff, würde Gabb ihm unmissverständlich klar machen, dass es definitiv besser sei, ihm und seinem Plan zu folgen, als sich hier unten 2000 Jahre die Zeit mit Steine sammeln oder Nationen versklaven zu vertreiben. Gabb wollte die Menschheit nachhaltig beeinflussen, ihnen ihren Gott näher bringen. Sie bekehren, oder zumindest das schlichte, schwierige Leben ein wenig erleichtern. Ihnen eine andere, bessere Sicht auf die Dinge bescheren. Das würde nicht nur Gott gefallen, sondern er würde sich einen sicheren Platz in der ehrenvollen Riege der Erzengel sichern. Seine Probezeit, so hatte er es mit Gott vereinbart, endete mit dessen Rückkehr aus dem Urlaub. Würde er dieses Sohn-Gottes-auf-Erden-Ding durchziehen, war er drin.
Er schaute herüber zu GJ. Dieser keuchte, auf die Hände gestützt, auf dem Felsen herum. Seine Wut schwand mit jedem Schweißtropfen der ihm aus den überanstrengten, Fettporen sickerte. Gabb spürte es instinktiv, nicht nur am Geschmack, der in der Luft lag. Ganz unvermittelt überspülte ihn eine Welle von Zweifeln. Als er den jungen GJ dort oben auf seinem Felsen knien sah, malte er sich plötzlich aus, wie es wäre, wenn die ganze Sache hier schief ginge. Was, wenn der Junge doch nicht mitmachte. Wenn der Sturkopf eigene Vorstellungen hatte, wie er seine Zeit verbringen sollte. Würde sich dann sein Plan ändern? Würde ihm der Junge, der wahrlich Gottes Sohn war, sogar seinen Plan sabotieren? Eigene Leute um sich scharen und einen ganz anderen Missionsgedanken säen? Gabb schüttelte den Kopf. So weit durfte es nicht kommen und er wischte die Gedanken fort, wie die Krümelreste des Kuchens von Tante Tilly auf der akkurat gehäkelten Tischdecke im zweiten Stock einer überaus teuren Seniorenresidenz um 1907 herum.
Aus dem Schatten des Felsens heraustretend, packte Gabb den Eimer und stiefelte hinauf zu GJ. Die nachmittägliche Sonne brannte noch immer stark vom Himmel. Wortlos griff er zu der Kelle im Eimer und reichte ihm das frische, kühle Wasser aus dem Brunnen. GJ schaute krebsgrimmig, nahm jedoch dankbar die Kelle, wie eine Friedenspfeife, entgegen und trank hastig mit tiefen Schlucken. Erst jetzt spürte er wie durstig er eigentlich war und was Durst bedeutete.
„Noch eine!“ presste er im Flüsterton heraus. Er hatte sich heiser geschrien. Gabb reichte ihm den ganzen Eimer.
„Trink. Das wird dir guttun. Dieser Körper ist anders, als alles, was du bisher gekannt hast. Er ist ein zerbrechliches Gefäß und du musst ihm ab und an Ruhe geben, damit er sich erholen kann!“
GJ nickte, plötzlich müde und träge.
„Lange können wir nicht mehr hier bleiben, die Sonne geht bereits unter und wir haben noch einen ordentlichen Weg vor uns.“ Auch das nahm der Junge einfach so hin. Seine Schimpftiraden hatten etwas für sich gehabt, dachte der Engel. Eine Stunde später brachen sie gemeinsam auf und es sollte ein denkwürdiger Abend werden.