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Weitflächig im Radkasten

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Von ihrer neuen Identität machte Melly Brommer von nun an auch Gebrauch. Fast täglich streifte sie den Kittel über und folgte D. Kranz zu seiner Arbeit. Um nicht auffällig zu wirken, lief sie ab und an geschäftig die Gänge entlang, während sie in die Krankenzimmer lugte, in denen sich Dorivan aufhielt. Seinen Vornamen hatte sie aufgeschnappt, während er bei einem Krebskranken am Bett saß. Dorivan hatte dem alten Mann vorgelesen. Stundenlang. Alle halbe Stunde war Mel vorbeigeschneit, immer darauf bedacht, in porkscher Manier, nicht zu lange an der offenen Tür stehen zu bleiben. Der Patient, eigentlich gar nicht so alt, um die 50, wirkte durch die Bestrahlung und Medikamente abgemagert und blass, konnte kaum aufstehen und war sichtlich froh, dass sich Dorivan um ihn kümmerte. Irgendwann presste er ein leises

„Danke, Dorivan“ hervor. Gerade in dem Moment, als Mel, mit einer Bettpfanne bewaffnet, vorbeigerauscht kam. Dorivan, der großherzige Dorivan, hatte den gut aussehenden Kopf geschüttelt:

„Dafür nicht, Mister Growlarz!“ Mel lief es eiskalt über den Rücken, während sie am Boden festfror. Dann hatte er seine Sachen vom Stuhl gepackt und wäre beinahe in die zerfließende Mel, mit dem schmachtenden Blick hineingerannt. Im letzten Augenblick fing sie sich jedoch und verschwand um die nächste Ecke. Er war perfekt. Einfach perfekt.

Und obwohl sie ihn bereits seit Wochen beobachtete, wusste sie immer noch nicht so recht, welchen Beruf, welche Funktion er ausübte. Ein gewöhnlicher Krankenhausangestellter schien er nicht zu sein, denn er verrichtete keine gewöhnliche Arbeit und kam zu unregelmäßig her. Mal drei Mal die Woche, dann wieder eine Woche gar nicht. Wenn er kam, kümmerte er sich um die Kranken wie ein Heiliger. Er nahm sich Zeit für sie, unterhielt sich mit ihnen, hörte sich ihre Probleme oder Wehwehchen an, brachte sie von einer Untersuchung zur anderen oder begleitete sie zum Bingo. Dafür nahm er nicht einmal ein „Danke“ entgegen. Bei dem Gedanken schmolz Melly immer wieder dahin.

Einmal hatte sich Ronja getraut, sie ging bereits vollends in der Rolle auf, eine Kollegin nach Herrn D. Kranz zu fragen. Dabei war sie an genau die Richtige geraten. Einmal angestochen, lief die dickliche Frau aus wie ein Fass. Die Informationen sprudelten nur so aus ihr heraus. Dadurch erfuhr sie, dass Dorivan ehrenamtlich im Klinikum arbeitete. Keine Münze erhielte er für seine Tätigkeit. Dann lief es aufs tratschtantige BlaBla hinaus, worauf Ronja überhaupt keine Lust verspürte.

„… und er ist ja so nett und zuvorkommend … verhalten und fast schon schüchtern … so gut aussehend … von einer strahlenden Aura und Ruhe umgeben … noch nicht verheiratet …“ Dabei horchte sie dann doch auf und bereits jetzt machte sich ein wenig Eifersucht breit.

Noch nicht! Und mach dir keine Hoffnungen, Gott hat MICH auserwählt, dachte sie, als es passierte bzw. er. Er schob sich extrem dicht an ihnen vorbei. Für einen Moment roch sie ihn aus nächster Nähe. Ein Gemisch aus, aus, aus … sie schnupperte noch einmal, wusste es nicht. Aber es war göttlich. Ein süßlich herber Geruch, unvergleichlich und einzigartig. Dorivan bestieg den Fahrstuhl und die Türen glitten zu. Mel entschuldigte sich, nahm die Treppe und hetzte zu ihrem Auto, noch bevor er das Gebäude verließ.

„Showtime“, sprach der Pork in ihr und Penhall saß auf dem Beifahrersitz.

„Schnallen Sie sich an, alter Knabe! Es könnte holprig werden“, meinte Pork und bretterte beim Wenden mit voller Vorderradwucht auf den Bordstein, der es ihr übel nahm.

Sie folgte dem Nachmittagsbus bis in die Innenstadt. Wieder mischte Gott mit und vor ihr fuhr jemand aus einer Parklücke, die sie sofort besetzen konnte. Hätte sie jetzt noch lange suchen müssen, wäre Dorivan bereits weg gewesen. War er aber nicht. Vielmehr entstieg er dem Bus und schlenderte in Richtung Fußgängerzone. Sie folgte ihm, bis es Abend wurde. Immer in gebührendem Abstand und in lächerlich geduckter Haltung, bis ihr der Rücken wehtat. Sie trank einen Kaffee, weil er einen trank. Sie aß eine Brezel, weil er eine aß. Sie ging ins Kino, weil er ins Kino ging. Seine Unterhaltungssucht kannte an diesem Tage keine Grenze und Mel fühlte sich wie bei ihrem ersten Date. Auch wenn sie sich nicht unterhielten.

Als der Film vorbei war und sie das Kino verließen, war es bereits dunkel. Die Straßenlaternen beleuchteten die Straßen und in den Schaufenstern aufgebahrter, bunt beleuchteter Tinnef erweckte unterbewusste Konsumwünsche. Während Mel hinter Dorivan herschlich, machte sich in ihr, wie bereits des Öfteren, immer mehr der Gedanke breit, sich ihm zu offenbaren. Schon während des Films hatte sie sich überlegt, wie schön es doch wäre jetzt neben ihm zu sitzen, sich an seine starke Schulter zu kuscheln und seine Ruhe und Wärme zu spüren. Sie vermisste diese Art von Körperlichkeit und ertappte sich dabei, ins Unsittliche abzudriften. Doch dann nahm sie sich zurück, entschied, es sei nicht der richtige Zeitpunkt und versuchte den komplizierten Figuren und ihren unzusammenhängenden Verwicklungen zu folgen. Zeichentrickfilme mochte sie überhaupt nicht. Da machte „Das Dschungelbuch“ überhaupt keine Ausnahme. Zudem war es ein selten dämlicher Name für einen Film, der aber auch nicht im Entferntesten etwas mit Büchern zu tun hatte.

Zu dieser Uhrzeit war wenig los auf den Straßen. Ab und an schlingerte ein Betrunkener vorbei oder kreuzte ein innig umarmendes Pärchen ihre Wege. Mit jedem Schritt entfernten sie sich weiter vom Stadtzentrum und somit von ihrem Auto. Dorivan machte den Eindruck, als wolle er zu dieser späten Stunde zu Fuß nach Hause laufen. Für Melly war das völlig in Ordnung, nein, es passte ihr sogar sehr gut. Das Auto könnte sie auch morgen noch holen und die frische Nachtluft würde ihre, durch jahrelange Aktenwälzerei, staubbelegte Lunge einmal ordentlich durchpusten. Nach der nächsten Ecke kam ihr die Gegend sogar bekannt vor. Da vorne links, dann nach rechts und am Ende der Straße begannen die ersten Ausläufer des Parque Central. Während sie so hinter ihm her detektivierte, regte sich plötzlich etwas in ihr und erfüllte sie mit Aufregung. Hier auf den, fast einsamen, Straßen könnte sie eigentlich einen Vorstoß wagen. Zunehmend wurde sie entschlossener und mit Gottes Hilfe würde sie es angehen.

Herr im Himmel steh‘ mir bei betete Melly, das kleine, goldene Kreuz um ihren Hals umfassend. Heute Nacht würde sie sich ihm zeigen. Vielleicht nur kurz oder auch länger, ganz wie es lief. Eine kleine Abkürzung nehmend, würde sie ihn abfangen, ihn ansprechen, ihn in ein Gespräch verwickeln, mit zu ihm gehen, ihn lieben, bei ihm einziehen und heiraten und Kinder und und und für alle Zeiten.

„Langsam, Melly Brommer, ganz langsam!“ blieb sie murmelnd stehen, vor freudiger Erwartung keuchend. Trippelnd hastete sie Dorivan nach, der soeben um eine Ecke gebogen war. Auf der anderen Straßenseite erblickte sie bereits ihre Abkürzung durch den Park.

„Da tue ich es“, sprach sie sich selbst und Mut zu, der sie gerade verlassen wollte. Mut blieb stehen, drehte sich um und blieb an ihrer Seite, als plötzlich laute Stimmen aus einer Seitengasse drangen. Sie sah, wie Dorivan an einer Ecke verweilte. Nichts Gutes ahnend, kauerte sie sich zwischen die schräg geparkten Autos und lauschte aufmerksam.

„Her mit der Kohle, Alter“, herrschte jemand einen anderen an.

„Genau“ unterstützte eine dunklere Stimme. Sogleich folgte ein dumpfer Schlag und jemand stöhnte vor Schmerzen laut auf, hustete und spuckte aus. Sehen konnte Mel von ihrer Position aus nur Dorivan, der in eine zwielichtige Gasse lauschte. Für mehr war der Winkel zu schlecht.

„Das hasse jetz davon, alter Penner.“ In der höheren Stimme schwang eine widerwärtige Schadenfreude und Verachtung mit. Die dunkle Stimme wiederholte abermals stumpfsinnig und ebenso verachtend:

„Genau!“ Kranz stand noch immer am Eingang der Seitenstraße, scheinbar überlegend, was er tun sollte. Hoffentlich passiert ihm nichts, bangte Mel. Kalter Schweiß kletterte aus ihren Poren. Ein übler Reizhusten und ein Geräusch drangen an ihr Ohr, als ob sich jemand über groben Schotter zöge. In Kranz kam Bewegung. Er trat ein paar Schritte aus dem Licht der Hauptstraße in die Schatten der Gewalttätigkeit. Sie lag in der Luft, zog wie unsichtbarer Nebel zu ihr herüber, war spürbar und schmeckte nach Gusseisen. Mels Puls raste. Am liebsten wäre sie fortgerannt. Oder zu Dorivan hin, um ihn wegzuziehen und zu verschwinden, oder … Ratlosigkeit tauschte mit Mut ihren Platz und er verschwand. Was sollte sie nur tun? Die Polizei rufen oder, oder, oder.

Penhall meldete sich in ihrem Kopf:

„Gehe näher heran, Pork. Beobachte. Präge dir ihre Gesichter ein. Und vor allem: Halte dein

E-SP bereit, um ein Video zu machen!“ Er musste wahnsinnig geworden sein.

„Bist du wahnsinnig geworden?“ sprach Mel. Oder war es nur die Stimme in ihren Kopf? Egal. Es musste gesagt werden. „Meine Knie zittern, wie die Beine einer langbeinigen Spinne an der Zimmerdecke, nachdem man sie mit Knoblauchatem angepustet hat. Dort vorne passierte, wer weiß was und ich soll mich auch noch heranschleichen?“ Mit einem Mal erschien er vor ihr wie aus dem Nichts. Er sah aus, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte. In Lebensgröße und greifbar. Merkwürdigerweise.

„Ja, verdammt“, gestikulierte er vor ihr herum. „Wir sind Privatdetektive. Es ist unsere Pflicht solche Sachverhalte zu dokumentieren und eventuell später zu bezeugen.“ Daraufhin machte sich Penhall, hinter die parkenden Autos geduckt, noch ein paar Meter nach vorne. Mel sprach mit sich selbst:

„Himmel Herr Gott, Melly. Du weißt schon das das hier nicht real ist, oder? Penhall existiert nur in deiner Fantasie …“ Dann schloss sie die Augen, nickte dreimal, blinzelte hinter ihrer dicken Hornbrille hervor und pustete sich einige Strähnen aus dem Gesicht. Der Detektiv war glücklicherweise verschwunden, um sogleich wieder hinter ihr aufzutauchen. Sie zuckte zusammen:

„Komm mit, Pork!“ drängte ihr imaginärer Kollege, schlich voraus, wartete aber diesmal, damit sie mitkam. Widerwillig folgte sie dem Hirngespinst. Ein paar Parkbuchten weiter, war die Gasse einsichtig und gewährte Einblick. Just in dem Augenblick trat Kranz an die drei Gestalten heran.

„Ich, hab nix … lasst mich!“ flehte ein ziemlich schmuddeliger Kerl, auf dem Boden liegend. Vermutlich ein Obdachloser. Vor ihm standen zwei junge Männer zwischen 20 und 30. Der Jüngere, rothaarig und schlank, Hände in den Taschen, versetzte dem Kriecher einen harten Tritt ins Gesicht. Als sein Stiefel die Nase des Mannes traf, heulte er breit grinsend, wie ein Wolf, auf:

„Ohhhuuu!“ Dann lachte er laut und genoss den Anblick des Blutes, das nur umher spritzte. Der andere Halunke, breit und halslos, klatsche fleischhändig Beifall.

„Schluss jetzt!“ mischte sich Dorivan mit fester Stimme ein und unterbrach die Gewaltorgie. Erst jetzt bemerkte man ihn. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Der Mann zu Boden jammerte unverzüglich los.

„Helfen Sie mir, bitte! Die haben mir die Nase gebrochen“, nuschelte er, während er sich die Hand vors Gesicht hielt. Zwischen seinen Fingern quoll das Blut nur so hervor.

„Halt die Klappe und leer deine Taschen aus, alter Sack“, befahl der Große an ihn gewandt, überheblich, ohne auch nur Notiz von Dorivan zu nehmen. Dann sprach er zu seinem Kumpan.

„Sid? Schau in seinem …“ er stockte einen Moment, fuhr dann aber mit einem noch breiteren Grinsen fort „… HAUS nach, ob wir was brauchen können!“

„Gute Idee, Lens“, kam es von Sid herüber, der in seiner kleinen und dicklichen Art, klein und dicklich wirkte. Auf dem Absatz kehrtmachend, schob er seinen massigen Leib in einen übergroßen Pappkarton unter einer Plane. Dorivan ließ sich nicht beirren und trat einen Schritt auf den sich windenden Obdachlosen zu. Lens gebot ihm Einhalt:

„Ey, lass den Penner bloß liegen, Samariter. Das geht dich nichts an. Also verpiss dich gefälligst! Sonst liegste gleich daneben!“ Nach einer kurzen Pause setzte er ein abfälliges „Schwachmat!“ hinterher und funkelte eiskalt mit den Augen. Selbst bei den Lichtverhältnissen. Hinter den Männern rumpelte und rappelte es im Karton. Blut spuckend hielt sich der vollbärtige Berber die geschwollene Nase und versuchte schimpfend hoch zu kommen:

„Raus aus meinem Haus, du ... du …!“ Dorivan, der scheinbar die Warnungen und seine Angst vergessen hatte, trat wieder vor, um zu helfen. Melly konnte es kaum mit ansehen.

Geh nicht weiter, dachte sie noch und dann geschah es. Bevor Dorivan 1m gegangen war, stieß Lens vor, rammte ihm, fast schon elegant, seinen Ellenbogen in den Bauch und trat dem Blutenden den Arm unter dem Körper weg. Rücklings fiel Dorivan nach hinten und donnerte gegen einen 240L Müllcontainer der Marke Eisenhart, während der Obdachlose vollwuchtig11 auf dem groben Asphalt aufschlug. Mit zusammengebissenen Zähnen fauchte der Rotschopf Dorivan ins Gesicht und drohballte die erhobene Faust:

„Ver-piss-dich, Mann! Letzte Warnung!“

Nachdem Melly vergeblich versucht hatte die Polizei anzurufen, das Mobifon hatte keinen Empfang, war sie unter einen PikPakTruck gekrochen, um nicht entdeckt zu werden. Auf die Ellenbogen gestützt filmte sie die Vorkommnisse in der Gasse mit ihrem E-SP Gerät. Es fiel ihr jedoch sichtlich schwer, denn mit jedem Angriff des großen Schlägers, zog sich ihr Magen krampfartig weiter zusammen.

Warum bist du hinein gegangen, mein Engel? Ich hoffe nur, dass dir nichts passiert. Herr, sorge dafür, dass ihm nichts geschieht!

Melly schaute die Straße entlang. Wie leer gefegt. Kein Mensch, weit und breit. Niemand der helfen konnte. Obwohl sie bezweifelte, dass in dieser Stadt überhaupt jemand helfen würde. Wenn man die Leute im Bus oder Supermarkt reden hörte, galt Calleroche ohnehin als gottverlassener Ort mit Hang zur Kriminalität. Mit der Linken packte sie abermals ihr kleines Kreuz an ihrer Kette und betete ein paar leise Verse. Das beruhigte. Gott war überall und gab auf seine Schäfchen Acht! So hatte es zumindest Oma immer gesagt.

Sid wand sich mühselig aus dem Pappkarton, sah, dass der Neue immer noch nicht verschwunden war, zog sein Springmesser und ging auf Dorivan zu:

„Der stinknde Gammler hat nur Scheiß in seim Haus!“ Es dauerte etwas, bis er die Worte zusammensetzte und ein überragendes Wortspiel erster Güte daraus formulierte:

„Scheißhaus … höhö … hö! Verstehste Lens?“ Mit einem KLICK sprang das Messer auf und er trat heran. Lens nickte anerkennend. Dann drückte er dem Dicken die flache Hand auf die Brust und hielt ihn auf.

„Ganz locker, Sid. Hab alles unter Kontrolle. Mach jetz keinen Bullshit … Noch nicht …!“ Wieder dieses Grinsen wie Zahnpastawerbung. Dann sprach er:

„Hey Samariter. Kohle her, aber sofort!“ Dorivan, der inzwischen zum Landstreicher gekrochen war, schaute auf. Über seinem rechten Auge war eine Platzwunde, die leicht blutete.

„Ihr macht euch nur selbst unglücklich, Jungs“, gab Dorivan in ruhigem Ton zum Besten. Es bestand für ihn scheinbar die Nanohoffnung, dass die Worte bis zum zentralen Nervensystem der Primaten oder zumindest einem von ihnen, durchdringen würden. Eine Sekunde geschah gar nichts. Dann prusteten die zwei Schläger los und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern.

„Haste das gehört, Lens? Uns unglücklich machen!“ Nach ein paar Lachern lud sich die Stimmung, wie Koalabärfell auf einer Plastikrutsche, auf. Eine Eskalation stand bevor und es schien offensichtlich, wer den Kürzeren ziehen würde. Während sein Schützling am ganzen Leib zitterte, wirkte Dorivan völlig unbeteiligt. Eine unbegreifliche Unbekümmertheit umgab ihn. Mel war sie damals sofort aufgefallen, als sie ihn zum ersten Mal im Supermarkt erblickte. Das war es, was ihn so anziehend machte. Diese lockere Art und die Ich-steh-drüber-Aura. Dennoch machte sie sich nun größere Sorgen denn je. Ihr wurde übel, bei dem Gedanken, ihr Schatz könnte verletzt werden. Der Vater ihrer zukünftigen Kinder und Enkel und Urenkel … Eigentlich hätte sie etwas tun müssen, um Hilfe rufen, an Haustüren klopfen, irgendetwas, doch sie konnte nicht klar denken, und war wie gelähmt. Sie konnte nur beobachten, filmen, abwarten und hoffen, dass sich alles zum Guten wendete.

Ruckartig war Lens heran. Er packte Dorivan am Kragen, zog ihn, trotz seiner schlanken Gestalt, auf die Füße und hielt ihm seine Visage vors Gesicht, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten:

„Jetz pass ma auf, Klugscheißer! Entweder du gibs mir deinen Geldbeutel, oder ich hol ihn aus deiner Arschtasche. Aber durch die Bauchdecke, alles klar?“ Er sprach äußerst gereizt, gespannt wie Zahnseide auf Finger. Ein wenig Spannung entlud sich, als Dorivan einen satten Boxhieb auf die Rippen kassierte und nach einem saftigen Knacken erneut zu Boden ging.

„ZACK!“ rühmte sich Rotschopf in einer tänzerischen Drehung und klatschte den grinsenden Sid ab. Mit den Worten „… und jetz zünden wir das Scheißhaus an“ ging er auf den Pappkarton zu und holte ein Feuerzeug aus der Tasche. Unter dem Truck wurde der Atem angehalten. Der Wohltäter hustete und hielt sich die gebrochenen Rippen mit dem linken Unterarm. Lange knickte er jedoch nicht ein. Nur einen kurzen Moment, dann stand er ungerührt wieder auf, als ob nichts gewesen wäre.

„Deine Mutter wäre sicher sehr stolz auf dich, Lens. Marie-Ann wäre sicher sehr stolz auf dich. Sie würde dir wieder durch das zerzauste Haar wuscheln und dir einen Choco-Flakes-Cookie machen. Dann würde sie zu dir sagen: ‚Lensi, du guter Lensi. Dein Dad hat uns verlassen, aber du hast eine so tolle Rechte, da wird mir ja ganz schwindelig, mein süßes Honigbärchen!“

Der Rote erstarrte. Woher wusste dieser verdammte Bastard von Samariter von seiner Vergangenheit? Langsam drehte er sich um. Ganz langsam. So langsam, dass es schien, die Zeit würde in flüssiger Lakritze stecken bleiben und vielleicht tat sie es in diesem Moment auch. Lens fürchtet gleich den Geist seiner Mutter zu erblicken, denn es war unverkennbar ihre Stimme gewesen, die er soeben gehört hatte. Doch vor ihm stand nur dieser Lackaffe und der widerliche Schmarotzer lag zu dessen Füßen.

„Wo…woher kennst du meine Vergangenheit?“, fragte er geistesabwesend. In ihm ratterte die Gehirnmaschinerie auf Hochtouren. Der Typ war mehr als suspekt. Entweder total verrückt oder mit dem Teufel im Bunde oder im schlimmsten Fall beides.

„Ich kenne alles von dir, Lensi! Und auch von dir!“ Dorivan gab ein diabolisches Grinsen und zeigte auf Sid. Der runde, junge Mann hob zaghaft die Augenbrauen. In ihm gingen plötzlich alle Alarmsirenen an.

„Sid, alias Sittard Ellroy-McLefling, Sohn reicher Eltern. Größerer Bruder von Tervomir und Schwester Zrara. Schwieriges Kind, mit 9 Jahren ins Kinderheim, mit 14 in den Jugendknast, schwerer Diebstahl, Erpressung, Körperverletzung mit Todesfolge und so weiter. Soll ich noch mehr ausplaudern? Ich will euch einen guten Rat geben. Macht, dass ihr Land gewinnt, sonst…“ Er ließ den halben Satz in der Gasse stehen und eine stille Minute schien die Situation aufzulösen. Die zwei Krawallgestalten waren schockiert. Sie mussten nur noch erkennen, dass es vorbei war. Dass sie sofort in den Knast wandern würden, falls sie sich zu etwas Dummem hinreißen ließen. Dorivan gähnte gelassen, dann packte er das übel riechende Bündel Mensch und schob sich an den zurückweichenden Straftätern vorbei, auf das Papphaus zu.

Warum Mel in diesem Moment aus ihrem Versteck kam, wusste sie selbst nicht. Ab hier ging alles unglaublich schnell. Lens löste sich als Erster aus der Starre und reagierte, zu Dorivans bedauern, vollkommen anders als gedacht. Er kochte vor Wut und zog nun ebenfalls ein Messer. Sid stand wie angewurzelt da und wartete ab. Lens packte die Waffe fester und hechtete vor, bereit diesem verschissenen Oberschlau und seinem nichtsnutzigen Pennbruder die Rückseiten zu filetieren. Nur noch zwei Schritte und er würde bei ihm sein, als ein Schrei sich durch die Stille fraß:

„DORIVAN!“ Es war Mel. Ihr Schwarm glitt herum und sah das Messer auf sich zukommen. Für eine Reaktion war es bereits zu spät. Ab hier kam die Zeit fast zum Erliegen. Alle blickten wie gebannt auf die Stichwaffe, die Millimeter für Millimeter näher rückte. Mit einem kaum hörbaren Knacken zerbarst die Klinge beim Auftreffen mitsamt des Griffs in Lens Hand und tausende von Schokoladenstückchen verteilten sich auf dem schmutzigen Straßenbelag. Sie wusste nicht, wie es den anderen ging, aber sie war der Ohnmacht nahe. Sid stand fassungslos da, der Penner suchte nach seiner Frühstücks-Rodka12flasche, um einen tiefen Schluck zu nehmen, Dorivan war unversehrt und Lens traute seinen Augen nicht. Die Gedanken schossen nur so durch seinen Schädel und winkten im Vorbeiflug:

„Der Typ ist ein Zauberer oder Außerirdischer oder ein fehlgeleitetes Genexperiment oder…“ Lens überschlug sich mehrfach, wilde Theorien entwickelnd, die sein Hirn gar nicht auf die Schnelle auf Logik prüfen konnte. Der Halslose verstand die Welt nicht mehr. In seinen Augen blitzte blanke Panik. Unvermittelt trat er die Flucht an. Hals über Kopf stürmte er aus der Gasse, sich umschauend, ob er von Tod und Teufel verfolgt würde. Die Autos und Mel sah er dabei nicht. Der Zusammenstoß mit dem massigen Mann war so heftig, dass Melly für mehrere Zentimeter von den Füßen gehebelt wurde. Hart schmetterte sie mit dem Rücken auf den Stoßfänger des PikPakTrucks. Ihr Hinterkopf donnerte auf die Motorhaube, federte zurück und es schmatzte nur so, als sie auf dem Gehweg aufschlug. Wie eine fallengelassene Puppe lag sie verkrümmt auf der Seite.

Sid konnte sich im letzten Moment zur Seite abrollen und stolperte, vom Schwung getrieben zwischen den Autos entlang. Es waren nur wenige Millimeter, die der Gullydeckel zu hoch eingesetzt war, doch die reichten aus, ihn zu Fall zu bringen. Der Länge nach knallte er hin, rutsche ein ganzes Stück mit dem Gesicht über den Asphalt auf die Fahrbahn und gerade, als er den Kopf hob, preschte ein LKW vorbei. Das grobe Profil des Reifens merkte nicht einmal, dass es sich mit Hirnmasse und Knochensplittern füllte und die Fliehkraft verteilte den Brei, der einmal Sids Schädel gewesen war, weitflächig im Radkasten und in der Umgebung. Der kopflose Rumpf suppte träge bis schlaff herum.

Wie im Delirium rappelte Mel sich auf alle viere auf. Ordentlich, wie sie war, packte sie ihren Sachen zusammen, stand auf und wankte ein paar Schritte ziellos umher. Irgendwann blickte sie an sich herab, danach auf Dorivan, der urplötzlich vor ihr stand und etwas zu ihr sagte, dann wieder an sich herab. Ihr blaues Kleid mit den weißen Blümchen war am Bauch ganz feucht. Um die Stelle, in der das Messer steckte, war es klebrig und warm. Die Welt zog sich vor ihren Augen zusammen und sie verlor das Bewusstsein.

Die Ringe des Herrn

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