Читать книгу Die Ringe des Herrn - Monduras IX. - Страница 14
Wie im Streichelzoo
ОглавлениеGewissenhaft, wie sie war, ging sie noch vor der Arbeit zu Pater Beige und beichtete. Der Pater, ein netter junger Mann, hatte mit seinen 32 Jahren die Studien zum Priester, vergleichende Religionswissenschaften und Kernphysik erfolgreich abgeschlossen. Eigentlich hätte er noch eingearbeitet werden sollen, doch Pater Blythhard, war aufgrund von Krankheit und einem überraschenden Geldsegen durch Erbschaft, frühzeitig bis zur Inselgruppe Cowrizius zurückgetreten.
Nun war Pater Beige seit zwei Monaten im Amt und regierte die Gemeinde mit übermütiger Zurückhaltung bis aneckender Schüchternheit. Seine Predigten waren sterbenslangweilig und das Orgelspiel hatte so viel Biss wie eine kopflose Schnappschildkröte am Schwanzende.
Wahrscheinlich war genau das Mellys Vorteil, denn ein erfahrener Pfarrer hätte sie sicherlich fort geschickt, um zu einem späteren Zeitpunkt die Beichte abzunehmen. Zu einer christlicheren Zeit. Sie überredete ihn mit ein paar herzallerliebsten Augenklimperern und schilderte die Vorkommnisse der letzten Nacht. Nicht in allen Details, doch detailliert genug, um sich 4 saftige Ave Marias und 5 Vater Unsers einzufangen und einen hellwachverstörten Pater zurückzulassen.
Die Arbeit an diesem Tage verlief wie gewohnt. Ihr Job war ohnehin alles andere als aufregend, er gefiel ihr aber.
„Melly, können Sie mir die Akte 425116 herauslegen, ich hole sie später ab!“ dröhnte es aus dem Telefon in der Registratur. Melly war sich nicht sicher, ob sie lieber warten oder direkt losmarschieren sollte. Sie wartete und spielte ihr Lieblingsspiel.
„Spielst du wieder?“, rief eine korpulente Frau aus dem linken Bereich F-G. Sie reckte sich gerade auf die Zehenspitzen, als ihr die drei Akten aus dem Arm zu Boden purzelten. Die Zehen knackten im hörbaren Frequenzbereich.
„Verdammt noch mal!“ sagte sie und setzte sich in einem Kreis von 1,43m Durchmesser auf den kalten Kellerboden.
„Du sollst doch nicht fluchen! Und ja, ich spiele wieder …3…2…1!“ Mel stand auf. Sie hatte verloren und taperte gemächlich in den rechten, hinteren Bereich mit den Zahlenakten. Nach ein paar Minuten kam sie zwischen den Regalen wieder zum Vorschein. Die breite Frau namens Merva saß jetzt an ihrem Schreibtisch und schob lustlos einen Briefumschlag nach dem anderen durch die tobende Frankiermaschine. Höllisch laut machte es: Ratsch, Ratsch, Ratsch.
Plötzlich ging die Tür auf und der Chef mit der niedrigen Toleranzschwelle stand auf der Türschwelle. Ende vierzig, mittelgroß, nach hinten gegelte Haare, Kinderfußballbauchansatz. Mit seiner blauen Jeans, dem braunen Fransenhemd und seinen Cowboystiefel sah er aus wie kein Zweiter, vom Dritten ganz zu schweigen. Zudem war er frisch geschieden und das roch man. Cold Slice hieß das neue Wundermittel, um „… jede Puppe zum Tanzen zu bringen“, wie er einmal zu einem Kollegen auf Gang 8 gesagt hatte, „… selbst die Beinlosen!“ Begleitet wurde diese Aussage von einem kehltiefigen6 Lachen auf Vorschulniveau. Melly hatte so getan, als hätte sie nichts gehört, und war achtlos bis unsichtbar vorbeigehuscht. Doch allein diese Tatsache, und er war sich fast sicher sie hätte es gehört, spornte ihn umso mehr in dem Bestreben an, Melly ins Bett zu bekommen. Selbst die seit 27 Jahren verheiratete Mittvierzigerin Merva war vor ihm nicht sicher. Zuerst trat der Duft ein, dann er. Der Cowboy von Synothex, der die Kälbchen nur noch mit dem Lasso einzufangen brauchte. Lässig schob er sich in seiner Duftwolke nach vorn. Bis zu Mels Schreibtisch, der dem von Merva direkt gegenüberstand. Die Frankiermaschine verstummte neugierig.
„Hast du was für mich, Melly?“, fragte er mit einem betörenden Lächeln. Das Gesichtswetter konnte aber auch, wie auf einem hohen Berg, jederzeit schnell umschlagen, das wusste Mel nur allzugut.
„Hier bitte schön, Herr Pellgnar. Wie Sie gewünscht haben. 425216!“ sagte sie und hielt die Luft an. Cold Slice wurde in anderen Ländern als Rattenkiller verkauft, hier überdeckten die Midlife Crisis Geplagten ihren Schweißgeruch damit und bildeten sich was drauf ein. Das hätte sie natürlich niemals öffentlich gesagt. Nicht mal zu Merva.
Pellgnar strich sich durch das glänzende, spärliche Haar, schob es von rechts nach links. Dabei musste man, unübersehbar, das goldene Glitzern des üppigen Rings am Mittelfinger betrachten. Melly betrachtete und Pellgnar sog es auf wie ein Kokser den Schnee. So etwas entging ihm nie und sein Ego fühlte sich wie im Streichelzoo.
„Hmmm. Erstens …“, er machte eine lange Pause, die die aufgeheizte Stimmung aufgrund der kaputten Klimaanlage in der Registratur schier zum Kochen brachte. Selbst Merva, den Kopf auf ihre linke Hand gestützt, wollte endlich weiter Briefe durchschieben.
„… nenn mich Ingo. Und zweitens …“ Bei der zweiten Pause trat er, unterstützt von seinen nagelneuen HowdyBoy-Stiefeln aus Kälbcheninnenschenkelleder, von einem Fuß auf den anderen.
„Zweitens, ist das die falsche Akte!“ Leicht die Nase hochziehend blickte er zu Merva rüber und gab ihr ein vielsagendes Lächeln und ein kleines Nicken. Sie hob abwehrend die Augenbrauen.
„Die falsche Akte?“, fragte Melly unschuldig. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen Fehler gemacht hatte, so geriet sie ein wenig in Panik.
„425216. Das ist die Akte, Herr Pellgnar!“
„Ingo“, bestand Pellgnar. „Ich hatte Sie aber telefonisch um die 425116 gebeten und nicht die 52!“
„Das ist ja auch die 42 und nicht 52!“ bestätigte Melly. Diese ganzen Zahlen machten sie immer völlig durcheinander. Unter Druck konnte sie noch schlechter denken. Ingo verdrehte die Augen.
„Ich meinte natürlich 4252“, erläuterte Ingo bereits angesäuert. Sein Charme war verloschen. Jetzt, da sein Auftreten bei der Dicken und ebenso bei der Dummen keine Wirkung zeigte, ging‘s nur noch ums Geschäft, also um die Akte. Melly verstand nun gar nichts mehr. Sie schaute noch einmal die Zahlen auf der Akte nach. Hier stand doch ausdrücklich 4252 drauf, Herrgottnochmal, also was wollte Pellgnar nun von ihr? Das Cold Slice stand in der Luft wie ein Brett und fraß sich bereits in die Nasenscheidewand, was zusätzliche Verwirrung stiftete.
„Ich erkläre es Ihnen jetzt noch einmal, Frau Brommer“, presste Ingo oder Pellgnar oder wie auch immer, nun aus der Nase.
„Ich möchte, dass Sie mir die Akte 425116 heraussuchen und übergeben. Heute noch, wenn‘s genehm ist.“ Melly schaute ihn an und hätte er geraucht, wäre sein Qualm bei ihr ins eine Ohr hinein und aus dem anderen Ohr heraus gezogen. Er musste sich mächtig zusammenreißen um den nächsten Satz herauszubringen und nicht vollständig die Kontrolle zu verlieren:
„Schreiben Sie es sich auf. JETZT!“ drückte er durch die geschlossenen Zahnreihen. Melly schrieb, während Pellgnar diktierte:
„4-2-5-1-1-6“
„Jawohl!“ Aus ihrer Starre erwacht lief Melly, die schnellste Registraturhilfskraft der Welt, in den spärlich beleuchteten Gang und durchforstete in Windeseile die Aktenregale. Pellgnar legte behutsam seine nasse Handfläche auf Mervas massigen Oberarm, die augenblicklich wieder mit dem Geratter anfing. Doch ein Blick von Ingo reichte, dass sie augenblicklich wieder aufhörte. Seine Laune stand auf Schockfrost und Merva hatte sofort erkannte, dass, wäre sie mit dem Getöse fortgefahren, der Chef jetzt knietief in Blut, Gedärm und Exkrementen stünde. Und während Merva verlegen lächelte, arbeitete Melly, angestrengt den Hirnschmalz verrührend, am Aktenregal. Sie schaute, las, verglich, linste auf den Zettel, beeilte sich, rannte zurück und übergab Ingo keuchend und schwitzend die Akte mit der Nummer 4252116. Dieser riss sie ihr genervt aus den Fingern, machte auf dem Blockabsatz kehrt und stiefelte mitsamt Schweißrändern an Achseln, Fransen und Rücken aus der Registratur. Den Großteil von Cold Slice nahm er mit, doch der Rest würde noch ein paar Stunden im Raum stehen, da waren sich beide Damen sicher.
Bis kurz vor Feierabend hatte Pellgnar nicht einmal gemerkt, dass er wieder die falsche Akte besaß. Gerade als er herunterstürmen wollte um Melly einen Einlauf zu verpassen, ging diese, beschwingten Schrittes, bereits zur Bushaltestelle.
Die Sonne stand über den hohen Gebäuden und ein leichter Smokgeschmack lag auf der Zunge. Mellys Gedanken kreisten um nichts, wie es bei der Arbeit meistens der Fall war. Erst nachdem sie aus dem Sichtbereich ihrer Arbeitsstätte geglitten war, fuhr sie ihren Denkapparat nach oben. Die einfachen Strukturen waren schnell, innerhalb von 2Minuten23 lauwarm gelaufen. Erste Gedanken drängten sich bereits wieder auf. Gedanken an IHN. Sie zu verdrängen schien aber nichts zu bewirken, also beschloss sie, entgegen ihrer Gewohnheiten, heute auch zur Kirche zu gehen. Eigentlich war Montag, Mittwoch, Freitag, Sonntag Kirchentag. Wer ging schon an einem Dienstag in die Kirche. Tss. Doch es würde sie ablenken und sie würde dadurch Abstand zu ihm gewinnen. Seinen Namen sprach sie erst gar nicht aus, das Risiko war zu groß.
Pater Beige machte einen verwirrten bis verstörten Eindruck. Sicher nur, weil heute Dienstag war.
„Ich möchte mich ablenken!“ sagte Melly und winkte fröhlich zu Pater Beige herüber. Dieser lächelte nur zaghaft von seiner Kanzel herunter, hob die Augenbrauen und begann zu den spärlich anwesenden Gläubigen zu predigen. Leider kam die Predigt mal wieder nicht recht in Schwung, was eventuell auch am Dienstags-Publikum lag. Hier und dort ein Rentner, eine bebrillte, dickliche Frau strickte einen Pulli, während Rosalia, die Pennerin in Reihe 4 schlief. Drei grauhaarige Frauen hatten nichts Besseres zu tun, lediglich Nelf aus dem Bibelkreis in der Innenstadt, hörte wirklich zu. Mel war zwar gekommen, um sich abzulenken, war aber irgendwie zu abgelenkt. Ihre Gedanken kehrten also alsbald wieder zurück und auf der letzten Bank im fast leeren Kirchenschiff, konnten sie jede Menge Platz einnehmen. Auf der einen Seite hasste sie sich dafür, ständig an ihn denken zu müssen. Seine Großzügigkeit, sein gutes Aussehen, das bezaubernde Lächeln, alles an ihm war Verführung und Sünde pur. Auf der anderen Seite fragte sich Melly, ob es nicht sogar Gottes Wille gewesen war, der ihn zu ihr geführt hatte. Denn wenn Gott nicht gewollt hätte, dass sie ihn begehrte, hätte er ihre Blicke sich niemals kreuzen lassen. So konnte es sein. Und je mehr sie darüber nachdachte, musste es so sein. Ihr Herz blühte mit einem Male auf, sprengte die umklammernde Eisschicht der Schuldgefühle ab und durch ihre Adern pulsierte das heiße Blut einer Hyäne mit Metzgergutschein. Plötzlich wollte sie die ganze Welt umarmen und ihre Freude hinausschreien. Mit einem Satz sprang sie auf, stellte sich übermütig, wie ein junger Kuckuck auf die Kirchenbank, warf ihr Liederbuch beiseite und schrie aus voller Brust in Größe B:
„JUHUUUU!“ Die Zahnspange wackelte am Oberkiefer und die zotteligen Haare tanzten Medusa. Sie fühlte sich frei, befreit von den Ketten der Schuld und beseelt von Gottes Auftrag, ihren Liebsten zu erobern. Die Tatsache, dass Pater Beige gerade in seiner Predigt von Tod, Zerstörung, Krieg und Hungerleiden erzählt hatte, war für Mel völlig irrelevant. Dafür fing sie sich ein paar tödliche Blicke der 90-jährigen Heimbewohner von Gegenüber ein, die sie um Haaresbreite verfehlten, von der Wand zurückprallten und einen Herzinfarkt in Reihe 3 auslösten. Als der Krankenwagen eintraf, war Melly bereits verschwunden.