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X. Schluss
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Mit der Schilderung der Entwicklung in Polen ist vor Augen geführt, wie rasch eine funktionierende unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit zerstört werden kann. Auf diese Einsicht muss die Frage nach den Sicherungen gegen Krisen folgen, auf die abschließend einzugehen ist.
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Verfassungen entstehen häufig in prekären Situationen, weshalb jene, die für ihren Inhalt verantwortlich sind, auch bei den Regelungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit mögliche Krisensituationen gut in den Blick nehmen und antizipieren können. Deshalb sind Regelungen über die Wahl und Bestellungen von Richtern in vielen Fällen auch und gerade für Konflikt- und Krisensituationen gedacht und gemacht. Historische Erfahrungen in anderen Ländern innerhalb und außerhalb Europas können überdies verdeutlichen, in welcher Form Anfechtungen der Unabhängigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Regelungen über ihre Sicherung stattfinden können. Ein reiches Anschauungsmaterial für den Zugriff der Politik auf die Verfassungsgerichtsbarkeit zeigt die Geschichte des Supreme Court, die häufig mit dem Hinweis auf den „New Deal“ von Präsident Roosevelt und die ihn flankierenden „Maßnahmen“ zur Domestizierung des Supreme Court im Jahr 1937 identifiziert wird. Tatsächlich bietet bereits das 19. Jahrhundert in den USA reiches Anschauungsmaterial dafür, mit welchen Strategien parlamentarische Mehrheiten und Regierungen den Versuch unternahmen, eine Kongruenz zwischen rechtspolitischen Vorstellungen und personeller Konstellation im Verfassungsgericht für die eigene Regierungszeit herzustellen und die ihnen günstige Zusammensetzung für künftige Wahlperioden zu sichern.
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Solche Zugriffe sind an Übergängen von einer Regierung zu einer anderen besonders wahrscheinlich und häufig. Zu den Erscheinungsformen einer Krise gehört es, wenn ein Organ, das mitzuwirken hat, versucht, die Wahl eines Richters bis zu einem Zeitpunkt nach einer Parlaments- oder Präsidentenwahl hinauszuzögern. Ein anderes Phänomen ist es, wenn die alte Mehrheit den Versuch unternimmt, Richter auf Vorrat zu wählen, deren Stellen erst zu Beginn der neuen Wahlperiode vakant werden. Damit verwandt ist ein weiteres Phänomen, dass eine neue Mehrheit bereits erfolgte Wahlen annulliert und durch die Wahl anderer Richter ersetzt, dies in Fällen eines zusammengesetzten Bestellungsverfahrens, in dem noch nicht alle Schritte bis hin zur Ernennung und Vereidigung bis zum Beginn einer neuen Legislatur- oder Amtsperiode gesetzt wurden. Beispiele für solche Phänomene finden sich in den letzten Jahren in gemäßigter Form in den USA und in der Slowakei, in einer besonders extremen, die rechtsstaatlichen Standards deutlich unterschreitenden Form – wie eben gezeigt – in Polen.
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Ein weiteres Beispiel sind Einflussnahmen auf die Zusammensetzung durch Änderungen der Größe des Gerichts. Sofern diese nicht ausdrücklich in der Verfassung festgeschrieben ist, kann sie in vielen Fällen durch einfache Parlamentsmehrheit verändert werden. Selbst dort, wo sie in der Verfassung verankert ist, kann eine Zweidrittelmehrheit diese verändern, wie dies zuletzt in Ungarn geschehen ist. In der Geschichte des US Supreme Court finden wir reiches Anschauungsmaterial für diese Strategie beginnend mit Verkleinerungen und Vergrößerungen der Zahl der Richter des Supreme Court im Laufe des 19. Jahrhunderts bis hin zu der beim Versuch gebliebenen Vergrößerung des Supreme Court auf 15 Richter durch Präsident Roosevelt.[187] Mit solchen Änderung sollen – in der Diktion und der Vorstellung der Politik – „Mehrheiten im Gericht gedreht“ werden oder nachfolgenden Regierungen die Möglichkeit genommen werden, Richterstellen neu zu besetzen.
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Diese Vorstellung scheitert indessen häufig an den Richterpersönlichkeiten. Mögen sie von Regierungen und Parlamenten auch manchmal als Repräsentanten bestimmter Parteien oder politischer Richtungen missverstanden werden, zeigt sich in den allermeisten Fällen, dass sich Richter – nicht zuletzt durch die Unabhängigkeit des Amts – oft ganz anders entwickeln, als sich das politische Entscheidungsträger erwartet haben. Kurzfristig und mit entsprechender Konsequenz durchgeführt können aber gezielte Einflussnahmen dieser Art, eingebettet in andere Maßnahmen organisationsrechtlicher und verfahrensrechtlicher Art die Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts erheblich beeinträchtigen, ja sogar beseitigen.
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Zum Teil gibt es wie erwähnt Vorkehrungen auf Ebene nationaler Verfassungen. Zu ihnen gehört die Verlängerung der Amtszeit von Richtern über die Altersgrenze und die eigentliche Amtsdauer hinaus, falls kein Nachfolger gewählt wird ebenso wie das Vorsehen geringerer Präsenzquoren für den Krisenfall, ja sogar die Einberufung von eigenen Ersatzmitgliedern im Einzelfall. Zum Teil können sich solche Vorkehrungen aber als unzureichend erweisen, sei es weil ein politisches System insgesamt in die Krise geraten ist und diese Krise die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ausnimmt, mitunter ist sie auch vom Verfassungsgericht (mit)ausgelöst; oder sei es, weil eine sehr entschlossene Mehrheit, die auch den Verfassungsbruch in Kauf nimmt, Fakten schafft gegen die sich ein Gericht aus eigener Kraft nicht wehren kann.
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In solchen Fällen sind im europäischen Verfassungsverbund die demokratie- und rechtsstaatsbezogenen Sicherungsinstrumente und -verfahren gefordert. Der Umstand, dass sich diese unter bestimmten politischen Rahmenbedingungen als nicht effektiv erweisen, obwohl der Tatbestand für ihr Ingangsetzen offensichtlich erfüllt ist, bedeutet nicht, dass sie sinnentleert oder überflüssig wären. Ein solcher Befund gebietet vielmehr, über deren Weiterentwicklung nachzudenken.[188]