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2. Gegenstand und Prüfungsmaßstab der Normenkontrolle
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So unterschiedlich wie die grundsätzlichen Einstellungen zur Normenkontrolle ausfallen, so unterschiedlich sind auch die Herangehensweisen an ihre prozessuale Ausgestaltung. Solche Unterschiede lassen sich sogar hinsichtlich des Umfangs und der Parameter der Kontrolle feststellen. Zwar sind Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle in erster Linie die vom Parlament beschlossenen Gesetze (statutes, leggi, leyes), daneben häufig aber auch andere Rechtsnormen, insbesondere Rechtsetzungsakte der Exekutive wie Regierungsverordnungen und Verwaltungsrichtlinien.[18] Zum Teil ist die Normenkontrolle als reine Verfassungskontrolle ausgestaltet,[19] zum Teil erstreckt sie sich ausdrücklich auf die Überprüfung untergesetzlicher Normen am Maßstab des gesamten höherrangigen Rechts.[20]
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Im Mittelpunkt steht indes die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen. Unter Gesetz in diesem Sinne sind alle Normen zu verstehen, die im Rang unmittelbar unter der Verfassung angesiedelt sind. Dazu gehören zunächst die „einfachen“ Gesetze, die vom Parlament im hierfür vorgesehenen Verfahren förmlich beschlossen werden. In nicht wenigen Fällen differenzieren die nationalen Verfassungen die Normkategorie des Gesetzes weiter aus. So haben von Frankreich ausgehend die „Organgesetze“ in Spanien und Portugal so wie in zahlreichen französisch- und spanischsprachigen Staaten als eigene Gesetzeskategorie Eingang in den Verfassungstext gefunden (lois organiques, leyes organicas, leis orgânicas). Das „Organgesetz“ wird dabei formal definiert: in diese Kategorie fallen nur solche Gesetze, die in der Verfassung ausdrücklich als „Organgesetze“ bezeichnet werden.[21] Sie unterliegen besonderen prozeduralen Anforderungen und können insbesondere nur mit qualifizierter (absoluter) Mehrheit im Parlament verabschiedet werden (vgl. Art. 46 französische Verfassung, Art. 81 spanische Verfassung, Art. 168 Abs. 5 portugiesische Verfassung). In inhaltlicher Hinsicht sind sie durch ihre besondere Nähe zur Verfassung gekennzeichnet: sie dienen der Ausgestaltung und Konkretisierung der durch die Verfassung vorgesehenen Einrichtungen, Institute, Verfahren und Organe und können daher auch als verfassungsausführende Gesetze bezeichnet werden.[22] Die französische Verfassung hebt die besondere Bedeutung dieser verfassungsausführenden Gesetze dadurch hervor, dass ihre (präventive) Kontrolle keines Antrags bedarf, sondern von Amts wegen durchgeführt wird (Art. 61 französische Verfassung). In Spanien und Portugal unterliegen sie hingegen dem „normalen“ fakultativen Normenkontrollverfahren (Art. 161 Abs. 1 lit. a spanische Verfassung i.V.m. Art. 27 Abs. 2 LOTC, Art. 278 Abs. 4 portugiesische Verfassung).
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Eine besondere Kategorie von Gesetzen bilden in allen Staaten mit einer „rigiden“ Verfassung die verfassungsändernden Gesetze, die regelmäßig nur in einem besonderen Verfahren und mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. Ob und inwieweit diese Gesetze einer Überprüfung am Maßstab der bestehenden Verfassung unterliegen, wird nicht einheitlich beurteilt. In Deutschland[23] und Italien[24] nehmen die Verfassungsgerichte eine Überprüfung verfassungsändernder Gesetze nicht nur in formeller Hinsicht, d.h. im Hinblick auf die von der Verfassung vorgesehenen besonderen verfahrensrechtlichen Anforderungen an eine Verfassungsänderung, sondern auch in materieller Hinsicht am Maßstab bestimmter oberster Verfassungsprinzipien vor.[25] In Frankreich hat hingegen der Conseil constitutionnel nicht nur die Überprüfung verfassungsändernder Gesetze am Maßstab der in Art. 89 Abs. 5 fixierten materiellen Grenze für Verfassungsänderungen, sondern auch die Kontrolle der Einhaltung des besonderen Verfahrens der Verfassungsänderung abgelehnt.[26] In Ungarn wiederum ist die inhaltliche Prüfung von verfassungsändernden Gesetzen durch die vierte Grundgesetzänderung vom 23. März 2013 ausdrücklich ausgeschlossen worden: Art. 24 Abs. 5 des ungarischen Grundgesetzes sieht nun vor, dass nur die verfassungsmäßigen Anforderungen an das Verfahren der Verabschiedung und Bekanntmachung von Verfassungsänderungen vom Verfassungsgericht auf Antrag auf ihre Einhaltung hin überprüft werden können.[27]
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Andererseits können auch Normen, deren Urheber nicht das Parlament ist, Gegenstand des verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens sein, wenn ihre Stellung und Funktion in der jeweiligen Normenhierarchie derjenigen von Parlamentsgesetzen entspricht. So sind in Italien und Spanien auch die Normen mit Gesetzeskraft (atti aventi forza di legge, disposiciones normativas con fuerza de ley) Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle. Dazu gehören die decreti legislativi (gesetzesvertretenden Rechtsverordnungen) und die decreti-legge (Verordnungen mit Gesetzeskraft) in Italien[28], aber auch die Gesetze, normativen Bestimmungen und Anordnungen mit Gesetzesrang der Autonomen Gemeinschaften (Comunidades Autónomas) in Spanien.[29]
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Völlig aus dem Rahmen fällt hingegen die nur in Frankreich vorgesehene Erstreckung der obligatorischen (!) präventiven Normenkontrolle auf die parlamentarischen Geschäftsordnungen und alle späteren Änderungen dieser Geschäftsordnungen (Art. 61 Abs. 1 französische Verfassung). Hierin kommt die ursprüngliche Funktion der französischen Verfassungsgerichtsbarkeit besonders deutlich zum Ausdruck: darüber zu wachen, dass die in der Verfassung fixierten Regeln der Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative nicht vom Parlament einseitig und eigenmächtig durch eine entsprechende Ausgestaltung der parlamentarischen Geschäftsordnung zu Lasten der Exekutive verschoben und auf diese Weise das spezifische Gewaltenteilungsmodell der Verfassung von 1958 mit seiner Betonung der autonomen Rolle der Regierung ausgehebelt wird.[30]
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Das Fehlen einer von der Verfassung geforderten gesetzlichen Regelung ist hingegen in den Verfassungen und Verfassungsgerichtsgesetzen meist nicht als eigenständiger Anwendungsfall der Normenkontrolle geregelt. Eine Ausnahme stellt Portugal dar, wo in Art. 283 der Verfassung die Möglichkeit vorgesehen ist, die Feststellung des verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers in einem besonderen Verfahren zu beantragen, wenn dieser die zur Umsetzung der Verfassung erforderlichen gesetzgeberischen Maßnahmen nicht ergreift. Diese Regelung verweist auf die Anfangszeit der portugiesischen Verfassung, als diese noch viele Bestimmungen mit stark programmatischem Charakter enthielt, die erst durch ihre gesetzliche Implementierung rechtliche Verbindlichkeit erlangten. Das Verfahren zur Feststellung einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen war in dieser Zeit darauf ausgerichtet, diese Programmsätze gegenüber dem Gesetzgeber einklagbar zu machen. Mit der Reduzierung programmatischer Verfassungsbestimmungen im Zuge der nachfolgenden Verfassungsreformen hat dieses Verfahren in der Praxis jedoch stark an Bedeutung verloren.[31] In Ungarn hingegen stellte die Feststellung eines verfassungswidrigen Unterlassens des Gesetzgebers in den ersten zwei Jahrzehnten der Existenz des Verfassungsgerichts die zweithäufigste Verfahrensart dar.[32] In dem nach der Verabschiedung des neuen Grundgesetzes 2011 neugefassten Verfassungsgerichtsgesetz ist die Feststellung eines verfassungswidrigen legislativen Unterlassens hingegen nicht mehr als eigenständige Kompetenz, wohl aber als mögliche Rechtsfolge einer stattgebenden Entscheidung in Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgesehen.[33]
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Prüfungsmaßstab im Rahmen der Normenkontrolle ist das gesamte höherrangige Recht: der Prüfungsmaßstab ist also abhängig vom konkreten Prüfungsgegenstand. Stehen gesetzliche Normen oder Normen mit Gesetzesrang zur Überprüfung, so sind grundsätzlich alle Normen der Verfassung Prüfungsmaßstab (Verfassungsrecht im formellen Sinn). Teilweise tendieren die Verfassungsgerichte dazu, diesen Prüfungsmaßstab auf das gesamte materielle Verfassungsrecht oder doch dessen wichtigsten Teile zu erstrecken. Dies lässt sich insbesondere in der französischen Verfassungsrechtsprechung beobachten, welche die Verfassung nicht nur am Text der Verfassung von 1958, sondern an dem wesentlich umfassenderen „bloc de constitutionnalité“ misst. Dazu gehören nicht nur die in der Verfassung selbst enthaltenen Bestimmungen, sondern auch die Organgesetze zur Implementierung der von der Verfassung vorgesehenen Einrichtungen und Institutionen, selbst wenn diese ursprünglich nicht vom parlamentarischen Gesetzgeber, sondern von der – hierzu durch die Übergangsbestimmungen der Verfassung ermächtigten – Exekutive erlassen worden sind. So sind einfache Gesetze und selbst Organgesetze wiederholt am Maßstab der Bestimmungen des ursprünglich im Verordnungsweg in Kraft gesetzten Organgesetzes über die Haushaltsgesetzgebung vom 2. Januar 1959 auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft worden.[34] Besonders spektakulär war die Ausweitung des bloc de constitutionnalité durch die berühmte Entscheidung Liberté d’association von 1971, in der sich der Conseil constitutionnel für befugt erklärte, die vom Parlament beschlossenen Gesetze im Verfahren der präventiven Normenkontrolle in Zukunft nicht mehr nur am Maßstab der in der Verfassung von 1958 niedergelegten Kompetenz- und Verfahrensnormen zu überprüfen, sondern auch anhand der in der Präambel der Verfassung von 1958 in Bezug genommenen Grund- und Menschenrechtskataloge der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 und der Präambel der Verfassung von 1946.[35] Mit der Erweiterung des Prüfungsmaßstabs war eine folgenreiche Neuausrichtung der Normenkontrolle verbunden: lag ihr Schwerpunkt zuvor auf der Bewahrung der verfassungsmäßigen Kompetenzordnung,[36] so rückte nunmehr der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte, die seit der französischen Revolution Eingang in die republikanische Tradition gefunden hatten, zunehmend in den Mittelpunkt des Verfahrens.
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Eine weitere Ausdifferenzierung des Prüfungsmaßstabs findet ferner in den Fällen statt, in denen auch untergesetzliche Normen, insbesondere von der Exekutive erlassene Vorschriften in die Normenkontrolle miteinbezogen werden. So legt Art. 188 Nr. 3 der polnischen Verfassung fest, dass die von den zentralen staatlichen Organen erlassenen Rechtsvorschriften vom Verfassungsgericht auf Antrag eines der in Art. 191 genannten Organe auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung, den von Polen ratifizierten internationalen Abkommen und den Gesetzen zu überprüfen sind.[37]
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Auf der anderen Seite kann der Prüfungsmaßstab auch auf besonders wichtige verfassungsrechtliche Bestimmungen und Prinzipien eingeschränkt sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn verfassungsändernde Gesetze Gegenstand des Normenkontrollverfahrens sind. Sofern hier nicht von vornherein die Kontrolle auf das formell und verfahrensmäßig ordnungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes beschränkt ist, findet regelmäßig eine Beschränkung des Prüfungsmaßstabs auf die zentralen Verfassungsprinzipien statt, die entweder bereits im Verfassungstext selbst als änderungsfest hervorgehoben sind (so in Deutschland, Art. 79 Abs. 3 GG) oder vom Verfassungsgericht nach eigenem Ermessen definiert werden (so in Italien[38]). Aus dem Rahmen fällt hingegen die Regelung des ungarischen Grundgesetzes von 2011, die explizit eine Beschränkung der inhaltlichen Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit auch bei bestimmten nicht-verfassungsändernden Gesetzen, nämlich den Haushalts- und Abgabengesetzen vorschreibt: überprüft werden dürfen diese Gesetze nur am Maßstab der in Art. 32/A Abs. 3 abschließend aufgelisteten bürgerlichen und politischen Rechte, nicht hingegen anhand der ökonomischen und sozialen Grundrechte.