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1. Fehlen eines einheitlichen Modells der Normenkontrolle im europäischen Rechtsraum

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Die Normenkontrolle ist mit der Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf das Engste verknüpft, wie die Entscheidung Marbury v. Madison des US-amerikanischen Supreme Court zeigt, die bis heute als Geburtsstunde der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen wird. Ihren singulären Status in der Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit verdankt diese Entscheidung dem Umstand, dass sie sich eingehend mit der Frage auseinandersetzte, ob den Bundesgerichten der Vereinigten Staaten trotz des Fehlens einer entsprechenden ausdrücklichen Regelung in der Bundesverfassung die Befugnis zusteht, Gesetzgebungsakte des Kongresses am Maßstab dieser Verfassung zu überprüfen und im Falle eines Widerspruchs zur Verfassung zu verwerfen – und diese Frage ausdrücklich bejahte.[6] Dem US-amerikanischen Beispiel folgend nahmen auch Gerichte an der europäischen Peripherie schon im 19. Jahrhundert für sich das Recht in Anspruch, eine Inzidentkontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vorzunehmen.[7] Noch enger ist der Zusammenhang zwischen Normenkontrolle und Verfassungsgerichtsbarkeit im Modell der spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie in Europa nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in Österreich, der Tschechoslowakei und Spanien Einzug hielt. Nach der von Adolf J. Merkl begründeten und von Hans Kelsen in die „Reine Rechtslehre“ übernommenen Theorie vom Stufenbau der Rechtsordnung ist die Geltung einer Norm dadurch bedingt, dass sie den in den Normen der jeweils höheren Stufe geregelten Voraussetzungen für die Rechtserzeugung entspricht. Die Entscheidung, ob dies der Fall ist, kann aus Gründen der Rechtssicherheit nicht jedem einzelnen Rechtsanwender überlassen bleiben, sondern muss in einem besonderen Verfahren mit Bindungswirkung für alle getroffen werden. Das dafür zuständige Organ ist in der österreichischen Konzeption der Verfassungsgerichtshof, der durch die Ausübung seiner Kompetenz zur Verwerfung abstrakt-genereller Rechtsakte den Ableitungszusammenhang des Stufenbaus der Rechtsordnung wahrt.[8]

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Daraus sollte indessen nicht voreilig der Schluss gezogen werden, dass das Modell der prinzipalen Normenkontrolle österreichischen Typs das Fundament eines verfassungsprozssualen ius commune im europäischen Rechtsraum darstellt. Einige Länder, zu denen namentlich Italien und Frankreich gehören, sind bei der Einführung der Normenkontrolle ganz eigene Wege gegangen und haben dabei, soweit eine Auseinandersetzung überhaupt stattfand, sowohl eine Anknüpfung an das US-amerikanische als auch die Übernahme des österreichischen Modells verworfen.[9] Die skandinavischen Staaten und Finnland haben sich hingegen dem US-amerikanischen Vorbild der inzidenten Normenkontrolle angeschlossen, ohne dass dies Gegenstand größerer Debatten gewesen wäre. Die traditionelle Zurückhaltung gegenüber jeder Form der gerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers hat indes dazu geführt, dass sie, anders als in den USA, in keinem dieser Länder bislang eine größere praktische Bedeutung erlangt hat. In Dänemark wird eine inzidente Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vom Obersten Gerichtshof erst seit Ende des 20. Jahrhunderts praktiziert.[10] In Schweden (1975) und Finnland (2000) ist die inzidente Normenkontrolle zwar mittlerweile auf eine explizite verfassungsrechtliche Grundlage gestellt worden, allerdings mit der charakteristischen, ihren Anwendungsbereich stark einschränkenden Formulierung, die Gerichte sollten nur bei einem „offensichtlichen Widerspruch“ zwischen Gesetzesvorschrift und Verfassung bzw. Grundgesetz der höherrangigen Norm den Vorrang einräumen.[11] Demgegenüber hat sich in Großbritannien und in den Niederlanden die Normenkontrolle als verfassungsgerichtliche Regelzuständigkeit bis heute nicht durchsetzen können. In den Niederlanden steht ihr Art. 120 Grondwet,[12] im Vereinigten Königreich das Prinzip der Parlamentssouveränität entgegen, das in Art. 9 der Bill of Rights 1689 seinen Niederschlag gefunden hat.[13] Allerdings hat sich in diesen beiden Ländern in der Praxis eine gerichtliche Kontrolle gesetzlicher Bestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit Normen des internationalen Rechts, vor allem der EMRK und des Unionsrechts, entwickelt, die in den Niederlanden auf Art. 94 Grondwet,[14] im Vereinigten Königreich auf die – durch den Austritt aus der Europäischen Union allerdings obsolete – höchstrichterliche Factortame-Rechtsprechung (zum Vorrang des Unionsrechts vor entgegenstehendem innerstaatlichen Recht)[15] und auf Art. 4 Human Rights Act 1998 (der die Gerichte zur Feststellung der Unvereinbarkeit parlamentsgesetzlicher Regelungen mit einer oder mehrerer der durch das Gesetz in britisches Recht inkorporierten EMRK-Garantien ermächtigt)[16] gestützt wird. In Belgien schließlich hat erst der immer weiter voranschreitende Föderalisierungsprozess – und die damit einhergehende Relativierung der Stellung des föderalen Gesetzgebers im Gefüge der staatlichen Institutionen – der Einführung und sukzessiven Ausweitung des Anwendungsbereichs der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle den Weg bereitet.[17]

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