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bb) Ungarn
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Bis zu den Jahren der politischen Wende verfügte Ungarn über keine erwähnenswerten Erfahrungen im Bereich der Normenkontrolle.[251] Der ungarische Verfassungsgerichtshof resultiert aus den tiefgreifenden Reformen, die 1989 in die sozialistische Verfassung von 1949 als Ergebnis der parteiübergreifenden Vereinbarungen des sogenannten Runden Tisches („Totalrevision“ vom 23. Oktober 1989) eingeführt wurden. So war der Verfassungsgerichtshof schon tätig, als die ersten freien Wahlen nach der politischen Wende stattfanden.[252]
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Es sind die ersten neun Lebensjahre (1990–1998), die die ungarische Erfahrung mit der konzentrierten Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit zu einer der markantesten Episoden der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa machen.[253] Kein anderer als der erste Präsident des ungarischen Verfassungsgerichts und spätere Präsident der Republik,[254] László Sólyom, hat diese Entwicklung aus erster Hand einzigartig beschrieben.[255]
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Dank einer großzügigen Regelung der Antragsberechtigung bezüglich der Normenkontrolle (actio popularis)[256] hat das Gericht die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der nationalen Rechtsordnung in vollem Umfang wahrnehmen können.[257] Aber weit über die erwartete Ausübung seiner Funktion hinaus, widmete der Gerichtshof sich einer Entwicklung der Verfassung, die ihn ohne Übertreibung als Verfassunggeber qualifiziert. In einem politischen Kontext der Lahmlegung des verfassungsändernden Gesetzgebers diente insbesondere das verbreitete Konzept der „unsichtbaren Verfassung“ als Vehikel einer außerordentlich aktivistischen Verfassungsrechtsprechung: Maßstab der Normenkontrolle – so die Vorstellung – müssen nicht unbedingt nur die Verfassungsbestimmungen sein; auch die zugrunde liegende oder „unsichtbare“ Verfassung kann diese Aufgabe erfüllen.[258] So stellte der Gerichtshof beispielsweise die Verfassungswidrigkeit der im ungarischen Strafgesetzbuch enthaltenen Todesstrafe mit Hilfe dieses Konzepts fest.[259] Andererseits versuchte das Gericht, durch häufigen Rückgriff auf „anweisende“ Urteile die Tätigkeit des Gesetzgebers zu lenken. Schließlich nahm es mit gleicher Überzeugung und Entschlossenheit – und mangels einer entsprechenden zeitgemäßen Verfassungsdogmatik – die Aufgabe wahr, die wesentlichen Kategorien der Rechtsstaatlichkeit aufzubauen.[260]
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Das Endergebnis ist eine als solche benannte „rechtsstaatliche Revolution“, die, vom Grundsatz der Kontinuität des Rechtssystems ausgehend, die fundamentalen Postulate der Rechtsstaatlichkeit (z.B. ein striktes Rückwirkungsverbot im Strafrecht)[261] auferlegt. In den Worten Sólyoms: „Die größte Leistung des Verfassungsgerichts war die Begründung einer demokratischen, rechtsstaatlichen Verfassungskultur in Ungarn“.[262]
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Die Folgen der Parlamentswahl von 2010, die einer einzigen Partei die nötige Mehrheit verschaffte, allein eine von Grund auf neue Verfassung auszuarbeiten und sie sukzessiv nach eigenem Gutdünken zu reformieren, liegen zeitlich jenseits der hier dargestellten Entwicklung.[263] Es genügt hier zu erwähnen, dass die Stellung und sogar die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts in der ungarischen Rechtsordnung aufgrund entsprechender Reformen (Erhöhung der Zahl der Richter, Abschaffung der actio popularis, usw.) eklatant gelitten haben.