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IV. Gesamtrückblick: Das Evolutionäre der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa

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Evolution ist kein Markenzeichen der Verfassungsgerichtsbarkeit, weder in Europa noch anderswo. Die verschiedenen Bausteine des Rechtsstaates sind alle prinzipiell entwicklungsbedingt. Nun besitzt diese evolutionäre Beschaffenheit des Rechtsstaates im Falle der Verfassungsgerichtsbarkeit eine eigene Dichte, die es erlaubt, in Europa von einer evolutiven Identität der Verfassungsgerichtsbarkeit zu sprechen. Der Vergleich mit der europäischen Integration wäre hier nicht ganz unangebracht. So wie Integration per se evolutiv ist, so ist auch auf seine eigene Weise das Konzept der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa evolutiv. Diese evolutive Identität hat die Ausformungen der gerichtlichen Garantie der Verfassung diesseits des Atlantiks während der beiden Jahrhunderte ihres Bestehens begleitet. Im Grunde genommen war das Ganze nichts weiter als der lange evolutive Marsch zur Normativität der Verfassung in Europa.

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Im Laufe dieser europäischen Entwicklung kann der Kern des mos Europaeum, d.h. die konzentrierte Normenkontrolle, kaum in Zweifel gezogen werden. Seit 1920, vor allem aber seit 1945, bis zum heutigen Tage breiten sich Verfassungsgerichte wie ein Ölfleck in Europa unaufhaltsam aus. Das Organ, das zum Schutz der Verfassung geschaffen wurde, hat sich seinerseits mit einer eigenen Funktion, der Interpretation der Verfassung, ausgestattet. Aus rechtsvergleichender Sicht hat sich das europäische System der Normenkontrolle zum weltweit akzeptierten Modell entwickelt. Kaum eine andere Institution ist so europäisch wie diese.

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Die letzte Episode dieser Evolution bilden die Sturmböen der Europäisierung. Alle nationalen Verfassungsgerichte haben sie durchlitten, wie sie auch in ihrer eigenen Geschichte erzählen können. Das kombinierte Handeln der beiden supranationalen Gerichtshöfe verschont wenige der seit jeher anerkannten Grundsäulen der Verfassungsgerichtsbarkeit europäischer Prägung‚ das Verwerfungsmonopol an erster Stelle.

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Die Verfassungsgerichtsbarkeit – das kann zum jetzigen Zeitpunkt ohne weiteres festgestellt werden – hat in Europa eine Geschichte hinter sich. Die Frage ist jedoch, ob sie auch, angesichts der europäischen Konkurrenten, eine Zukunft hat. Dies ist jedoch keine Frage, die Gegenstand dieser Darstellung war, unabhängig von der Frage, ob in den vorhergehenden Darlegungen Anhaltspunkte für etwaige Antworten identifiziert werden könnten. In diesem Sinne kann davon ausgegangen werden, dass die nationalen Verfassungsgerichte angehalten sind, neue – und dazu gewagte – Schritte im Rahmen ihrer ständigen Evolution vorzunehmen, wenn auch das Endergebnis ungewiss sein mag.[285] Wohl möglich ist dies nicht das einzige Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa. Es sei dennoch am Ende dieser Darstellung erlaubt, einer Überzeugung Ausdruck zu verleihen: dass die Verfassungsgerichtsbarkeit europäischer Prägung zu einem acquis constitutionnel von schwer zu übertreibenden Ausmaßen beigetragen hat. Dabei hat sie sich als ein unersetzbarer Akteur bei der Entstehung einer europäischen Verfassungskultur erwiesen. Dank dieses Verfassungserbes sollte sich Europa den aktuellen Herausforderungen gegenüber keineswegs wehrlos fühlen.

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