Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 10

Kapitel 4

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Carolyn wohnte in einem bescheidenen Haus mit drei Schlafzimmern in der Nähe des Ventura Colleges. Vor Beginn ihres Jurastudiums hatte sie Zeit gehabt, an den Wochenenden im Garten zu arbeiten. Den Fußweg zum Haus säumten blühende Rosenbüsche und in den Beeten davor gediehen farbenprächtige, mehrjährige Stauden.

Nachdem Carolyn um halb elf an diesem Abend ihren Infinity in der Zufahrt geparkt hatte, ging sie schnell ins Haus und hoffte, ihren Sohn noch anzutreffen. Da John montags und mittwochs, wenn sie ihre Abendkurse besuchte, das Abendessen zubereitete und Rebecca bei den Hausaufgaben half, hatte Carolyn ihm erlaubt, sich in der Garage sein eigenes kleines Reich einzurichten. Da die drei Schlafzimmer in dem kleinen Haus nebeneinander lagen, brauchte der Fünfzehnjährige eine Privatsphäre.

Rebecca, ihre ungestüme, zwölfjährige Tochter, war bei ihren Freundinnen, die oft zu Besuch kamen, sehr beliebt. Dann dröhnte die Stereoanlage in voller Lautstärke. Ihr Zimmer räumte sie nur auf, wenn Carolyn ihr mit Hausarrest drohte. Doch John war im Gegensatz zu den meisten Teenagern sehr ordentlich, beinahe pedantisch. Die meiste Zeit verbrachte er über seinen Büchern und er hasste Lärm jeder Art. Er war ein sehr gut aussehender Junge, einsachtzig groß und hatte dichtes, dunkles Haar und leuchtend grüne Augen. Mädchen spielten im Leben ihres Sohnes noch eine Nebenrolle. Manchmal ging er mit einer Klassenkameradin zu einer Tanzveranstaltung in der Schule oder ins Kino, doch ihre weiteren Kontakte beschränkten sich meistens auf Telefonate. Nur selten besuchte ihn eine Freundin in seiner Wohnung. John war einfach zu beschäftigt und hatte keine Zeit für eine feste Beziehung.

John wollte am Massachusetts Institute of Technology Physik studieren. Und das war teuer. Deshalb fiel es Carolyn nicht leicht, alle Bedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen. Von ihrem Exmann konnte sie keine Unterstützung erwarten, denn Frank war ein notorischer Lügner und hatte sie wiederholt betrogen. Als er dann auch noch anfing, Drogen zu nehmen, hatte sie die Scheidung eingereicht.

John war tatsächlich noch in der Küche und stapelte Teller in den Geschirrspüler. Er hatte Jeans und ein weißes Muskel-Shirt an. Seine Haut war sonnengebräunt und sein Körper straff und muskulös.

Carolyn ging zu ihm und küsste ihn auf die Wange.

»Du siehst gut aus, mein Junge«, sagte sie.

Er trainierte jeden Tag in seiner kleinen Wohnung, weil Gewichtheben ihm dabei half, nachts besser schlafen zu können. Auch ihr Sohn neigte zur Rastlosigkeit und konnte sich nur schwer entspannen. Nach jahrelangen Schlafstörungen hatte Carolyn schließlich widerstrebend angefangen, Medikamente zu nehmen, sie hoffte jedoch, dass John in dieser Hinsicht nicht ihrem Beispiel folgen würde.

»Ich räume den Rest weg«, sagte sie zu ihm. »Du musst ins Bett. Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst das Geschirr stehen lassen? Du tust sowieso schon viel zu viel im Haushalt.«

»Ins Bett?«, entgegnete John mit angespanntem Gesicht. »Ich brauche noch ein paar Stunden für meine Hausaufgaben.« Er wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und erzählte dann: »Paul Leighton hat in unserer Straße ein Haus gekauft. Ich habe ihn dort heute gesehen und wollte schon hingehen und mich vorstellen. Dann dachte ich aber, es wäre höflicher zu warten, bis er mit dem Umzug fertig ist.«

Carolyn öffnete den Kühlschrank, goss aus einem Krug Limonade in ein Glas und setzte sich auf einen Holzstuhl an dem runden Eichentisch.

»Sollte ich diesen Mann kennen?«, fragte sie. »Der Name sagt mir nichts.«

»Er ist Professor für Physik an der Technischen Universität von Kalifornien«, erklärte John. »Mr. Chang hat mir alle Bücher gezeigt, die er geschrieben hat. Er hält Leighton für einen zweiten Richard Feynman. Das ist der Typ, über den ich mein Referat geschrieben habe.«

»Sehr beeindruckend«, sagte Carolyn, stützte ihren Kopf in eine Hand und schleuderte ihre Schuhe von sich. »Er ist also Schriftsteller und Physiker?«

John schüttelte frustriert den Kopf, weil ihm seine Mutter ein Rätsel war. Früher hatte sie eine Mathe-Aufgabe, an der er Tage gesessen hatte, innerhalb einer Stunde gelöst. Seit sie jedoch Jura studierte, reagierte sie vor lauter Übermüdung oft nur noch rein mechanisch.

»Leighton schreibt keine Romane, wie Dad das versucht hat, sondern Lehrbücher, Mom«, erklärte John geduldig. »Und nicht nur das: Er ist Absolvent des Massachusetts Institute of Technology.«

»Jetzt bin ich aber wirklich beeindruckt«, sagte Carolyn lächelnd. »Aber außer des MIT gibt es doch noch andere gute Hochschulen. Was hast du gegen die Caltech? Sogar die Long Beach State ist eine gute Uni. Und das Studium an einer kalifornischen Universität wäre nicht so teuer.«

»Du verstehst das nicht«, widersprach John. »Das MIT ist die beste Uni. Vielleicht könnte mir Professor Leighton eine Empfehlung schreiben. Da ich letztes Jahr Sommerkurse besucht habe, kann ich schon mit siebzehn – also in zwei Jahren – Abitur machen. Dann muss ich nur noch die Aufnahmeprüfung bestehen.«

»Klingt großartig«, sagte seine Mutter. »Wenn ich mal einen Abend frei habe, laden wir den Professor und seine Frau zum Essen ein.«

»Er hat keine Frau«, meinte John etwas verlegen. »Er ist geschieden. Seine Tochter ist so alt wie Becky, was heißt, dass die beiden in dieselbe Schule gehen. Ich habe schon mit Becky geredet und sie hat versprochen, Leightons Tochter in ihren Freundeskreis aufzunehmen.«

»Deine Schwester mag es nicht, wenn man sie Becky nennt«, erinnerte Carolyn ihren Sohn. »Sie findet, das klingt zu kindisch, wo sie doch jetzt schon in die Junior High School geht.«

»Das ist mir doch egal«, protestierte John. »Solange ich die ganze Hausarbeit mache, nenne ich sie, wie ich will.«

»Ich hatte heute mit Brad eine ähnliche Diskussion«, entgegnete Carolyn, trank ihre Limonade und trug das Glas zur Spüle. »Sag doch einfach Rebecca zu ihr, okay? Ich habe genug Probleme am Hals und will mir nicht auch noch euer Gezänk über Vornamen anhören.«

»Womit hat Brad dich denn auf die Palme gebracht?«

»Er hat Schätzchen zu mir gesagt.«

»Was ist denn daran verkehrt?«

»Für einen Vorgesetzten gehört es sich nicht, im Amt Kosenamen zu verwenden. Er hat mich auch Baby genannt.«

»Ich bin froh, dass du nicht mehr mit ihm zusammen bist«, sagte John. »Er ist ein Arschloch, wenn du mich fragst. Die Vorstellung, er könnte mit meiner Mutter zusammenziehen, fand ich zum Kotzen.«

»Es war nie die Rede von Zusammenziehen«, sagte Carolyn und gab ihrem Sohn einen Klaps auf die Schulter. »Ich war einfach nur einsam und da Brad und ich seit Jahren befreundet sind, hat er mich manchmal zum Abendessen oder ins Kino eingeladen.«

»Na klar«, sagte John grinsend. »Den Scheiß nehme ich dir doch glatt ab. Ich habe dich um zwei Uhr früh ins Haus schleichen sehen.«

»Mir gefällt deine Ausdrucksweise nicht«, rügte Carolyn ihren Sohn. »Außerdem geht es dich nichts an, was zwischen Brad und mir war. Es ist jetzt sowieso vorbei.«

»Professor Leighton ist weder alt noch hässlich«, erzählte John aufgeregt. »Vielleicht ein paar Jahre älter als du. Intelligente Männer sehen nicht immer wie Filmstars aus. Jedenfalls sieht er besser aus als Dad.«

»Da du gerade von deinem Vater sprichst«, hakte Carolyn nach. »Hat er in letzter Zeit mal angerufen oder euch besucht?«

»Nein«, sagte der Junge mit abgewandtem Blick. »Ich will ihn auch gar nicht sehen. Wir sind ihm doch völlig egal. Wir haben nicht einmal seine Telefonnummer. Als er das letzte Mal anrief, sagte er, er sei in einer Telefonzelle. Aber er hat gelogen, weil ich im Hintergrund ‘ne Tussi habe lachen hören. Er lügt jetzt nur noch.«

Carolyn konnte sich noch gut an den sensiblen, romantischen jungen Mann erinnern, in den sie sich verliebt hatte. Sie hatten am Strand Picknicks gemacht und sich geliebt. Er hatte ihr Liebesbriefe geschrieben und Blumen geschenkt. John tat seinem Vater Unrecht. Frank war ein attraktiver Mann gewesen. Es ist erschreckend, wie Alkohol und Drogen das Aussehen eines Menschen verändern können, dachte sie. Jetzt, mit knapp vierzig, sah ihr Exmann wie ein alter Mann aus. Und ihre Ehe war schon vor zehn Jahren zerbrochen.

Wegen des Babys hatte nur einer von ihnen weiterstudieren können. Carolyn gab John in ein Tagesheim und arbeitete als Sekretärin, um Franks Studium und ihren Lebensunterhalt finanzieren zu können. Während er an der Fertigstellung seines ersten Romans arbeitete, unterrichtete er Englisch. Und als er keinen Verleger für sein Buch fand, päppelte er sein Ego mit außerehelichen Beziehungen auf. Doch bald befriedigten ihn nicht einmal mehr seine sexuellen Eskapaden, und es kamen – auch in Anwesenheit der Kinder – Drogendealer ins Haus. Während der Scheidung hatte Carolyn versucht, die Wahrheit vor John und Rebecca zu verbergen. Die Therapeutin, bei der sie bis vor kurzem in Behandlung gewesen waren, hatte jedoch darauf bestanden, dass ihre Kinder wissen müssten, warum sich ihre Mutter von ihrem Vater hatte scheiden lassen. Denn wenn jemand drogenabhängig war, gab es keine andere Möglichkeit. Frank liebte niemanden mehr – außer seinen nächsten Schuss.

»Mein Lehrer hat gesagt, Professor Leighton sei ein lustiger Kerl«, sagte John in ihr Schweigen hinein. »Er könnte dir gefallen.«

»Ach, jetzt verstehe ich«, sagte Carolyn lächelnd. »Du hättest also nichts gegen einen Physikprofessor einzuwenden, solange du deine Empfehlung fürs MIT kriegst. Darum geht’s dir also?«

»Na ja, so in etwa«, gestand John kichernd. »Wenigstens könnte ich von ihm etwas lernen. Bei Brad hätte sich die Mühe nicht gelohnt. Anfangs, als ich noch jünger war, fand ich seine Masche mit den Rennautos und so echt cool, aber ich wette, er würde glatt bei meinem Kurs über Infinitesimal-, Differential- und Integralrechnung durchfallen. Jedenfalls weiß ich, dass er nicht genug Grips hat, um Physik überhaupt zu begreifen.«

»Ich bin momentan viel zu beschäftigt, um mich mit einem Mann abzugeben«, sagte Carolyn und wischte mit dem Schwamm über die Spüle. »Schläft Rebecca schon?«

»Ja«, sagte John. »Ich musste ihr wieder bei den Hausaufgaben helfen. Mom, sie ist einfach nur faul. Sie hätte das allein machen können. Ich muss mich mehr um meine eigenen Arbeiten kümmern.«

Da Carolyn diese Klagen schon oft gehört hatte, nahm sie sich vor, am nächsten Morgen mit Rebecca ein ernstes Wörtchen zu reden. »Hat sie ihr Zimmer aufgeräumt, wie ich es ihr befohlen habe?«

»Du weißt doch, dass Rebecca nie aufräumt. Dafür hat sie schließlich ihre Freundinnen. Sie ist ein verwöhntes Gör, Mom. Du solltest erleben, wie sie sich aufführt, wenn du nicht da bist. Dann behandelt sie mich wie ihren Sklaven und schenkt sich nicht mal ein Glas Milch selbst ein.«

»Und wer hat die Wohnung in der Garage ganz für sich?«, konterte Carolyn, schon an der Tür. »Außerdem dachte ich, du wolltest, dass ich mir diesen Physikprofessor angele. Alles im Leben hat seinen Preis, mein Junge.«

Als Carolyn am Dienstagmorgen ins Büro kam, blickte Veronica Campbell von ihrem Schreibtisch auf. Sie war eine große, brünette Frau mit braunen Augen und einem runden, freundlichen Gesicht. Hinter jeder Trennwand gab es zwei Arbeitsplätze und da Carolyn die Dienstältere war, saß sie am Fenster. Veronica Campbells Schreibtisch stand zwar auf der anderen Seite der Trennwand, aber an der Wand, so dass sich die beiden sehen und miteinander reden konnten. Und Veronica redete gern und viel – einer der Gründe, warum sie Schwierigkeiten hatte, mit ihrer Arbeit auf dem Laufenden zu bleiben.

»Ich habe diesen Job so satt, dass ich nicht einmal mehr klar denken kann«, schimpfte sie jetzt mit finsterer Miene. »Preston hat mir heute Morgen zwei neue Fälle aufgehalst.« Dabei hob sie einen Stapel Akten hoch und ließ ihn dann wieder auf ihren Schreibtisch fallen. »Ich schaffe es auf keinen Fall, die Berichte rechtzeitig abzuliefern, selbst wenn ich jeden Abend bis Mitternacht arbeite. Wie soll ich mich da noch um meinen Mann und meine drei Kinder kümmern? Ich glaube, Drew hat eine Freundin und meine zweijährige Tochter hat mich gestern Abend für die Babysitterin gehalten. Kein Wunder, dass hier im Amt so viele Fehler gemacht werden. Wir sind doch keine Maschinen, oder?«

»Nein, sind wir nicht«, sagte Carolyn, ging in ihre Kabine und stellte Handtasche und Aktenkoffer neben ihren Stuhl. Die beiden Bewährungshelfer, die ein Abteil mit Carolyn und Veronica teilten, saßen selten an ihren Plätzen. Blair Ridgemore, Carolyns Gegenüber, gehörte zu den wenigen Menschen in Kalifornien, die noch immer nikotinsüchtig waren. Seine Berichte über die Befragungen von Opfern oder Angeklagten diktierte er auf einer der Betonbänke im Hof des Gerichtsgebäudes, wo er rauchen konnte. Und Sandra Wagner, Veronicas Kollegin, war seit sechs Monaten im Mutterschaftsurlaub.

»Wann kannst du denn dein Jura-Examen machen?«, meldete sich da Veronica wieder zu Wort. »Dann hast du die ganze Plackerei hier hinter dir und wirst berühmt und reich. Ich kann’s kaum erwarten, dich in einer dieser TV-Shows zu sehen, wenn du über alle diese schmierigen Scheißkerle reden musst, die du dann verteidigst.«

»Oh, vielen Dank«, sagte Carolyn, seufzte und nahm sich die Akte von Daniel Metroix vor. »Sogar schmierige Scheißkerle haben ein Recht auf Verteidigung, Veronica. Ich beabsichtige jedoch nicht, Kinderschänder, Vergewaltiger oder Mörder zu verteidigen, es sei denn, ich bin von ihrer Unschuld überzeugt.«

»Na klar«, meinte Veronica. »Das sagen doch alle. Warum wirst du nicht Scheidungsanwältin? Dann kannst du es allen diesen betrügerischen Ehemännern heimzahlen. Sollte ich herausfinden, dass Drew mit anderen Frauen rumbumst, werde ich deine Mandantin.«

»Ich würde lieber Strafverteidigerin werden, weil ich mir nichts Schlimmeres vorstellen kann, als mit Familienstreitigkeiten umgehen zu müssen. Außerdem kenne ich mich im Strafrecht am besten aus. Wer weiß? Vielleicht werde ich sogar Staatsanwältin.«

»Du hast doch heute Abend wieder Vorlesungen, oder?«

»Nein, heute nicht«, entgegnete Carolyn und hoffte – wenn ihre Kinder im Bett waren –, Zeit für ihre Fachliteratur zu haben. Glücklicherweise hatte Mrs. Shoeffel ihren Studenten diese Woche kein weiteres Referat aufgegeben.

»Ich weiß nicht, wie du das schaffst«, fuhr Veronica fort. »Meine Kinder würden das Haus anzünden, ließe ich sie länger als eine halbe Stunde allein. Jude ist zwar fast fünfzehn, aber eine miserable Babysitterin. Micky war ein Unfall, weißt du.«

»Du meinst das Baby?«

»Ja«, entgegnete Veronica. »Ich muss wohl Kinder großziehen, bis ich in Rente gehe. Nebenbei noch Jura zu studieren, würde ich nie schaffen. Dabei hast du nicht einmal einen Mann, der dir im Haushalt hilft.«

»Ja, es ist nicht leicht«, räumte Carolyn ein und schaute zum Fenster hinaus. »Was die Kinder betrifft, so kann ich mich glücklich schätzen, dass John so verantwortungsbewusst ist. Rebecca kann manchmal sehr schwierig sein. Hoffentlich bin ich mit dem Jurastudium fertig, ehe sie anfängt, sich für Jungs zu interessieren.«

Dann ging Carolyn in eines der Besprechungszimmer, um dort ihren Bericht über die Sandoval-Schießerei zu diktieren. Aber ihr ging Daniel Metroix nicht aus dem Kopf. Da sie ihn an diesem Abend im Motel besuchen wollte, beschloss sie, im Computerarchiv nach weiteren Informationen über seinen Fall zu suchen. Metroix’ Behauptung, er habe sie als Kind gekannt, beunruhigte sie. Gestern Abend hatte er die Telefonnummer des Seagull Motels auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie wollte sich nicht der eventuellen Attacke eines Vergewaltigers aussetzen oder von Metroix plötzlich mit einer Waffe bedroht werden. Außerdem irritierte sie sein verrücktes Gerede über Physik und die Behauptung, im Gefängnis ein eigenes Labor gehabt zu haben.

Ah, dachte sie, wenigstens kann ich eine dieser Wahnvorstellungen klären und wählte die Nummer der Verwaltung des Chino-Gefängnisses.

»Lackner, Gefängnisdirektor«, meldete sich eine tiefe Stimme. »Meine Sekretärin hat mir ausgerichtet, Sie hätten Fragen, die einen unserer ehemaligen Gefangenen, einen Mann namens Daniel Metroix betreffen.«

»Ja«, bestätigte Carolyn und gab dem Direktor eine kurze Zusammenfassung ihres Gesprächs mit Daniel Metroix.

»Metroix ist ein anständiger Kerl. Während seiner Haft hatten wir nie Probleme mit ihm.«

»Wurde er nicht wegen seiner Schizophrenie behandelt?«, fragte Carolyn, blätterte die Akte durch und nahm den Gefängnisbericht heraus. »Schizophrene Menschen neigen gewöhnlich zu auffälligen Verhaltensstörungen. Wer hat die Diagnose gestellt?«

»Metroix hat behauptet, Stimmen zu hören«, entgegnete Lackner. »Unser Gefängnis-Psychiater hat ihn untersucht und ihm ein Medikament verordnet. Dann hat Metroix von einem neuen Medikament gehört, das er selbst bezahlen musste, weil es von der Gefängnisverwaltung nicht genehmigt wurde. Soweit ich mich erinnere, hat er von einer Verwandten Geld geerbt.«

»Haben Sie das überprüft?«

»Ich kann nicht über alles auf dem Laufenden sein, was innerhalb dieser Einrichtung passiert«, verteidigte sich Lackner. »Rufen Sie doch Dr. Edleson an und fragen Sie ihn.«

»Vergessen wir das Geld für den Augenblick. Stimmt es, dass Sie Daniel Metroix ein Labor zur Verfügung gestellt haben?«

»Ach, das«, sagte der Direktor und lachte nervös. »Häftlinge haben so eine Art, manche Dinge zu übertreiben. Es war nicht mehr als eine Abstellkammer, in der Daniel alle möglichen Geräte repariert hat, die wir hier brauchen. Er ist ein geschickter Handwerker. Und da er Kalfaktor war, habe ich ihm eine kleine Werkstatt eingerichtet, in der auch andere Häftlinge gearbeitet haben.«

Carolyn wollte gerade ihr Telefonat mit Lackner beenden, als ihr Blick noch einmal auf den Bericht des Gefängnisdirektors über Daniel Metroix fiel. Als Günstling des Gefängnisdirektors hätten sich die Gefängnistore schon längst für ihn öffnen sollen. Bei einer Haftstrafe von zwölf Jahren bis lebenslänglich wurden die meisten Verurteilten mit guter Führung nach ungefähr acht Jahren auf Bewährung entlassen, es sei denn, sie hätten einen Fluchtversuch unternommen oder einen Wärter oder Mithäftling getötet. Daniel Metroix hatte dreiundzwanzig Jahre gesessen, eine Haftdauer, die einer Verurteilung zu vierzig Jahren Gefängnis entsprach. Und Carolyn hatte schon mit mehrfachen Mördern zu tun gehabt, die eine weitaus kürzere Strafe abgesessen hatten.

»Warum wurde diesem Mann wiederholt eine Freilassung auf Bewährung verweigert?«, fragte Carolyn. »Sie haben seinetwegen bereits vor fünfzehn Jahren wegen guter Führung einen entsprechenden Antrag gestellt.«

»Darüber kann Ihnen die Bewährungsbehörde Auskunft geben«, entgegnete Lackner und fügte hinzu: »Ich muss jetzt einen anderen Anruf entgegennehmen.«

Carolyn legte auf und wählte die Nummer von Daniels Anwalt, William Fletcher. Nachdem sie sich vorgestellt und ihr Anliegen vorgetragen hatte, wurde sie von dem Assistenten mit der Privatnummer des Anwalts verbunden. Fletcher arbeitete nicht mehr als Strafverteidiger und hatte sich auf Grundstückverwaltungen spezialisiert.

»Ohne Mr. Metroix’ schriftliche Vollmacht kann ich Ihnen keine Auskunft geben.«

»Ich bitte Sie«, sagte Carolyn. »Sie müssen mir keine Einzelheiten nennen, sondern auf meine Frage nur mit Ja oder Nein antworten. Hat Daniel Metroix von seiner Großmutter Geld geerbt?«

»Sie sind eine gewitzte Lady, Mrs. Sullivan. Die Tatsache, dass ich Mr. Metroix’ Anwalt bin, sollte Ihnen allerdings zu denken geben. Rufen Sie mich erst wieder an, wenn Sie im Besitz einer Vollmacht von meinem Mandanten sind.«

Daraufhin gönnte sich Carolyn ausnahmsweise ein Mittagessen in der Cafeteria. Danach verbrachte sie den Großteil des Nachmittags vor dem Computer und las alle Berichte und Protokolle über die Festnahme, den Prozess und die Verurteilung ihres Schützlings. Es irritierte sie, dass der Pflichtverteidiger wegen der Geisteskrankheit seines Mandanten nicht auf Schuldunfähigkeit plädiert hatte. Während des Prozesses war Metroix’ Schizophrenie und sein dreimonatiger Aufenthalt in einer staatlichen psychiatrischen Klinik mit keinem Wort erwähnt worden, noch waren irgendwelche relevanten Krankenberichte in den Unterlagen der Gefängnisverwaltung von Chino zu finden. Und der Pflichtverteidiger konnte ihr darüber keine Auskunft mehr geben, da er vor fünfzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Nach dem Studium der Prozessprotokolle las Carolyn im Computer-Archiv den Originalbericht über Metroix’ Festnahme und Inhaftierung. Als persönliches Eigentum waren unter anderem eine Visitenkarte mit darauf vermerktem Behandlungstermin bei einem ortsansässigen Psychiater und ein Umschlag mit vier Tabletten sichergestellt worden, die das kriminaltechnische Labor als ein Levodopum analysiert hatte.

Da Carolyn wenig über Psychopharmaka wusste und dieses Medikament nicht kannte, wollte sie den Psychiater, Walter Gershon, dessen Visitenkarte Daniel Metroix bei sich gehabt hatte, anrufen, fand jedoch nirgends seine Telefonnummer. Da sie annehmen musste, dass sich der Arzt entweder zur Ruhe gesetzt hatte oder wie der Pflichtverteidiger bereits gestorben war, gab sie im Internet unter dem Stichwort Psychopharmaka den Begriff Levodopum ein.

Im Arzneimittelverzeichnis der pharmazeutischen Industrie stand, dass Levodopum auch zur Kombinationstherapie beim Parkinson-Syndrom verordnet wurde.

Warum ist einem schizophrenen Patienten dieses Medikament verschrieben worden?, fragte sich Carolyn. Denn es erhöht auf dramatische Weise den im Körper vorkommenden Dopamingehalt.

Da beschloss Carolyn einen Psychiater anzurufen, der regelmäßig als Sachverständiger vor Gericht aussagte. Nachdem sie Dr. Albert Weiss’ Sekretärin bestätigt hatte, sie könne der Kreisverwaltung das Beratungshonorar für eine Stunde in Rechnung stellen, wurde sie mit dem Handy des Arztes verbunden.

»Ich bitte Sie, mir eine Frage zu beantworten«, sagte Carolyn, nannte den Namen des Medikaments und schilderte kurz die Umstände.

»Kein Psychiater«, sagte Dr. Weiss, »nicht einmal ein praktischer Arzt würde eine diagnostizierte Schizophrenie mit Levodopum behandeln. Haben Sie mir den Namen des Medikaments richtig wiedergegeben?«

»Es könnte sich natürlich um einen Tippfehler in der Akte handeln«, räumte Carolyn ein. »Gab es vor zwanzig Jahren ein ähnlich klingendes Medikament, das für diese Art von Krankheit verordnet wurde?«

»Ich war schon Psychiater, da haben Sie noch die Grundschule besucht«, sagte Dr. Weiss. »Mir ist nichts dergleichen bekannt.«

»Welche Wirkung würde dieses Medikament bei einem Schizophrenen haben?«

»Oh, eine ganz unerhebliche, vor allem in höheren Dosen«, sagte der Arzt sarkastisch. »Das Medikament würde höchstwahrscheinlich einen psychotischen Anfall auslösen. Sie haben mich gerade auf dem Golfplatz erwischt und ich wollte eben meinen Ball vom ersten Abschlag spielen. Habe ich Ihre Frage beantwortet?«

»Ja, danke«, sagte Carolyn. »Viel Spaß beim Golfen.«

Als Carolyn zum Pausenraum ging, um sich ein Sodawasser zu holen, begegnete sie dort Brad Preston, der mit Amy McFarland schäkerte.

»Ich bin im Metroix-Fall auf erhebliche Diskrepanzen gestoßen«, sagte Carolyn zu Brad Preston, riss ihre Seven-up-Dose auf und trank einen Schluck. »Sobald ich alle Fakten zusammengetragen habe, müssen wir darüber reden.«

Brad lächelte Amy McFarland zu und sagte dann zu Carolyn: »Es genügt, wenn du den Kerl einmal im Monat siehst. Ich habe dir heute Morgen doch vier neue Fälle zugeteilt. Der Metroix-Fall ist eine alte Geschichte und du hast keine Zeit, dich um Diskrepanzen zu kümmern.«

Carolyn warf ihm einen Blick zu, der einen Elefanten hätte töten können. Im Gegensatz zu ihr schien seine neue Freundin überhaupt nicht unter Zeitdruck zu stehen.

»Haben Sie schon Brads Verlobte kennen gelernt«, sagte Carolyn mit einem zuckersüßen Lächeln zu Amy. »Sie sollten den Ring sehen, den er ihr letzte Woche geschenkt hat. Der hat mindestens drei Karat. Und nicht nur das. Die Flitterwochen verbringen die beiden in Paris. Ist das nicht romantisch?«

Carolyn sah, wie sich Amys Gesicht vor Wut verzerrte, ehe sie aus dem Raum stürmte. Vorher versetzte sie jedoch Brad noch einen Schlag mit ihrer Handtasche in den Bauch.

»Ich wusste doch, dass du mit ihr schläfst«, sagte Carolyn.

»Du bist nicht nur verrückt«, entgegnete Brad, »sondern ein gemeines Miststück.«

»Vergiss deinen Schwanz, wenn du im Büro bist«, sagte Carolyn.

»Du hattest damals nichts dagegen.«

»Damals warst du auch noch nicht mein Vorgesetzter.«

Wieder an ihrem Schreibtisch, las Carolyn noch einmal Daniel Metroix’ Prozessprotokolle, um sich zu vergewissern, dass sie nichts übersehen hatte. Irgendetwas passte da nicht zusammen. Brad hatte ihr ursprünglich gesagt, dieser Fall sei heikel, und sie gewarnt, keine Fehler zu machen. Im Pausenraum hatte er plötzlich verkündet, der Fall sei unwichtig und sie müsse den Mann nur einmal im Monat sehen.

Jetzt war Carolyn fest entschlossen, alles über die Umstände herauszufinden, die zu Tim Harrisons Tod geführt hatten. Als Jurastudentin war sie natürlich besonders an den vielen widersprüchlichen Elementen dieses Falls interessiert.

Ihre Vermutung bestätigt zu wissen, dass Brad mit einer anderen Frau schlief, tat weh, vor allem, weil Amy McFarland erst fünfundzwanzig und eine sehr attraktive Frau war. Offensichtlich hatte er die Beziehung zu ihr nicht beendet, als er befördert worden war. Hatte er Amy schon gekannt, ehe sie in der Behörde angestellt worden war? Oder ihr vielleicht geholfen, die Stelle zu bekommen? Bewährungshelfer verdienten zwar nicht viel, aber die Zahl der Bewerber um einen Posten im öffentlichen Dienst war wegen seiner zahlreichen Vorteile und Vergünstigungen sehr groß. Außerdem gab es in regelmäßigen Zeitabständen automatisch Gehaltserhöhungen. Deshalb hatten die meisten neuen Kollegen einen College-Abschluss und viele außerdem einen Magister.

Carolyn starrte, den Tränen nahe, zum Fenster hinaus. Je älter man wird, umso härter ist es, zurückgewiesen zu werden, dachte sie. Dann schweiften ihre Gedanken zu David Reynolds. Sollte sie auf seine Annäherungsversuche eingehen und es irgendwie arrangieren, mit ihm vor Brad anzugeben? An diesem Punkt ihrer Überlegungen angekommen, ging sie schnell in ein Besprechungszimmer und rief ihren Bruder an.

»Was machst du gerade?«

»Ich esse meine Frühstücksflocken«, sagte Neil. »Und du?«

»Ich trage mich mit Selbstmordgedanken«, klagte sie. »Brad hat mir wegen einer jungen Blondine den Laufpass gegeben. Und nicht nur das: Ich muss mit ihr zusammenarbeiten. Ich komme mir wie eine Idiotin vor.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass dieser Kerl ein Arschloch ist«, sagte Neil ruhig, weil er die melodramatischen Anfälle seiner Schwester kannte. »Ist sie nur jung und blond oder eine hinreißende junge Blondine? Wenn sie ein hübsches Gesicht und einen tollen Körper hat, gebe ich dir fünfzig Dollar für ihre Telefonnummer. Erzähl ihr doch, ich sei ein berühmter Künstler, der sie malen und ihre Schönheit verewigen wolle.«

»Ich hasse dich«, sagte Carolyn, trat gegen einen Stuhl und warf ihn um. »Warum habe ich dich bloß angerufen? Du tröstest mich nie, wenn ich mich aufrege, sondern beleidigst mich obendrein.«

»Genau darum geht es doch«, sagte Neil lachend. »Denn jetzt bist du auf mich böse und nicht mehr auf Brad.«

Anstatt in ihr Büro zurückzukehren, beschloss Carolyn, in die Asservatenkammer des Gefängnisses zu gehen. Während Daniel Metroix’ Prozess waren dem Gericht weder die Tabletten noch irgendein Hinweis vorgelegt worden, dass er bei einem Psychiater in Behandlung war. Hatte jemand diese Beweismittel unterschlagen, um zu verhindern, dass dem Angeklagten verminderte Zurechnungsfähigkeit oder Schuldunfähigkeit wegen seiner Geisteskrankheit zugebilligt wurde?

»Stimmt das Datum?«, fragte Jessie Richards, der junge Verwalter der Asservatenkammer durch das Fenster in der Tür.

»Ja, das Datum stimmt«, entgegnete Carolyn und gab ihm die Computerliste, in der Daniel Metroix’ persönliche Besitztümer aufgeführt waren, die er zum Zeitpunkt seiner Festnahme bei sich gehabt hatte. Gegen besseres Wissen hoffte Carolyn, dass diese Sachen irgendwo in einer Schachtel verstaubten. Laut Vorschrift mussten diese Gegenstände dem Gefängnis überstellt werden, in dem der Gefangene einsaß, und ihm bei der Freilassung ausgehändigt werden. Einem Häftling seine Besitztümer nachzuschicken, war jedoch nicht von höchster Priorität und wurde gelegentlich vergessen.

»Als dieser Kerl in den Knast kam, habe ich noch in den Windeln gesteckt«, sagte Jessie Richards und tippte die Fallnummer von der Computerliste ab. »Ich wusste gar nicht, dass es damals schon Computer gab.«

»Und sogar Autos, Jessie«, belehrte Carolyn den jungen Mann, von dem sie wusste, dass er ein leidenschaftlicher Surfer war. Wahrscheinlich hatte er seine Teenagerzeit in einer Wolke aus Marihuana verbracht. Seltsamerweise gab es bei den unteren Dienstgraden der Beamten viele mit einem ähnlichen Hintergrund. Vor Jahren war das anders gewesen. Damals hatten sich Bewerber einem Test mit einem Lügendetektor unterziehen müssen und waren bei dem geringsten Hinweis auf Drogenkonsum abgewiesen worden.

»In unseren Unterlagen ist vermerkt, dass die persönlichen Sachen des Verhafteten ein paar Tage nach seiner Festnahme verschwunden sind«, sagte Jessie Richards.

»Das kann nicht sein«, sagte Carolyn verwirrt. »Die Tabletten wurden zur Analyse ins Labor geschickt. Den Bericht darüber habe ich im Computer-Archiv gefunden. Und da steht nicht, dass die Sachen verloren gegangen sind.«

Heutzutage hatten fast alle Computer eigene Zugriffs-Codes und viele Fälle waren verschlüsselt. Besonders streng war der Datenschutz hinsichtlich von Beweismitteln, doch vor dreiundzwanzig Jahren war die Situation völlig anders gewesen.

»Rufen Sie doch bitte im Labor an und fragen Sie nach, ob vergessen wurde, die Tabletten zurückzuschicken.«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«, sagte Jessie Richards und drehte sich auf seinem Stuhl zu Carolyn um. »Der Kerl hatte doch außer ein paar rezeptpflichtigen Tabletten, ein paar Dollar und einer Visitenkarte nichts bei sich. Jedes Jahr werden Freudenfeuer angezündet und Berge von Marihuana verbrannt. Glauben Sie mir, Mrs. Sullivan, ein Anruf bringt nichts. Niemand im Labor wird wissen, wo diese Tabletten geblieben sind, wenn überhaupt jemand bereit sein sollte, mit mir darüber zu reden.«

Je mehr sich die Verdachtsmomente häuften, umso argwöhnischer wurde Carolyn. Auf dem Weg zurück in ihr Büro fragte sie sich, ob die Person, die Daniel Metroix’ persönliche Besitztümer gestohlen hatte, nicht gewusst hatte, dass die bei ihm sichergestellten Sachen bei seiner Festnahme schon im Computer gespeichert worden waren. Damals war das gesamte System zur Führung der Verbrecherkartei umgestellt worden und es war durchaus möglich, dass bei einer derart massiven Datenverarbeitung Informationen verloren gegangen waren.

Daniel Metroix war nur vier Jahre älter als Carolyn und es berührte sie seltsam, dass sie im selben Mietshaus gewohnt haben sollten. Sie konnte sich nur an den Namen des Wohn-Komplexes erinnern, weil ihre Eltern davon erzählt hatten. Ihr Vater war ein paar Jahre arbeitslos gewesen und so mussten sie damals in diese Sozialwohnung im Westen von Ventura ziehen. Bald darauf verbesserte sich ihre Lage jedoch und ihr Vater bekam eine Anstellung als Mathematiklehrer an einer High School. Ihre Mutter nahm später ihr Studium wieder auf und machte ihren Magister in Chemie. Bis vor fünf Jahren hatte Marie Sullivan an einem Junior College unterrichtet und lebte jetzt in einer exklusiven Senioren-Residenz in Camarillo.

Neil war der Benjamin der Familie und wegen seiner künstlerischen Begabung und seiner unbekümmerten Art von ihrer Mutter vergöttert worden. Carolyn hatte eine brillante akademische Zukunft vor sich gehabt, bis sie während ihres zweiten Studienjahrs in Stanford schwanger geworden war.

Also, dachte sie, habe ich mit Daniel Metroix noch etwas gemeinsam – aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse sind wir beide daran gehindert worden, unser volles Potenzial auszuschöpfen. In seinen High-School-Zeugnissen hatten mehrere Lehrer vermerkt, sie würden Daniel Metroix für ein Stipendium vorschlagen und einer hatte ihn sogar als Genie auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, insbesondere der Mathematik, bezeichnet.

Carolyn kannte keine Skrupel, wenn es darum ging, dem Gericht für einen Gewaltverbrecher die Höchststrafe zu empfehlen. Sie war nicht nur eine der renommiertesten Gerichts- und Bewährungshelferinnen des Verwaltungsbezirks, sondern auch in ihren Prinzipien streng und unerbittlich. Aber im Fall Daniel Metroix war etwas fürchterlich schief gelaufen. Denn die Unterschlagung oder Fälschung von Beweismitteln war ein Verbrechen.

Wenn man das Ganze objektiv betrachtete, dachte Carolyn auf dem Weg zurück in ihr Büro, konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Pendel der Justiz oftmals in beide Richtungen ausschlägt. Da gab es Straftäter, die nur eine kurze Haftstrafe verbüßten und trotzdem weiterhin eine große Bedrohung für die Öffentlichkeit darstellten. Die Unstimmigkeiten im Fall Daniel Metroix waren jedoch nicht nur durch schlampige Arbeit und das Desinteresses seines Pflichtverteidigers entstanden.

In seinem Fall war das Rechtssystem gezielt manipuliert worden.

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