Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 17
Kapitel 11
ОглавлениеUm Viertel nach elf an diesem Morgen blätterte Carolyn Eddies Akte durch. Obwohl sie ihm nach seiner bedingten Haftentlassung als Bewährungshelferin zugeteilt worden war, hatte ein Kollege die Ermittlungen im Vorfeld der Hauptverhandlung durchgeführt. Die Indifferenz des Berichts war erschreckend. Die Aussage des Opfers bestand nur aus wenigen Sätzen. Sie stülpte sich die Kopfhörer über und wählte eine Nummer.
Nach dem Telefonat holte Carolyn ein paar Pumps aus ihrem Aktenschrank, schob ihre flachen Schuhe unter den Schreibtisch und ging zur Damentoilette.
Vor dem Spiegel kramte sie einen grellroten Lippenstift aus ihrem Schminktäschchen, tuschte ihre Wimpern und zog mit einem schwarzen Stift den Lidstrich nach.
Dann krempelte sie ihren Rock hoch, bis der Saum mehrere Zentimeter über den Knien endete, und öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. Glücklicherweise brauchte sie keinen Wonder Bra, den flachbrüstige Frauen für die tollste Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts hielten. Was den Busen betraf, hatte die Natur sie üppig ausgestattet.
Mit dem Lift fuhr sie in den ersten Stock, verließ das Gebäude durch die Hintertür und ging um die Ecke zum Männer-Gefängnis.
»Besuchszeit ist erst um drei«, verkündete Deputy Herschel Wells, ein großer Mann mit kurzem braunem Haar und olivfarbenem Teint.
Carolyn füllte einen Besucherantrag für Edward Downly aus und legte ihn zusammen mit einem anderen Dokument in die Durchreiche.
»Ich bin Edward Downlys Bewährungshelferin und muss ihn sprechen.«
»Wollen Sie mich verscheißern?«, fragte Wells, starrte in ihren Ausschnitt und leckte sich dabei die Lippen. »So können Sie da nicht rein. Das gäbe einen Aufruhr.«
»Verdammt, holen Sie den Häftling!«, befahl Carolyn barsch. »Ich habe keine Zeit, hier den ganzen Tag rumzustehen. Ich erhebe gegen Downly Anklage wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen. Das Dokument habe ich Ihnen eben gegeben.«
»Es ist beinahe Mittag«, entgegnete Wells. »Wenn ich ihn jetzt holen lasse, kriegt er nichts mehr zu essen.«
»Downly hat ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt und fast umgebracht«, sagte Carolyn mit schmalen Augen. »Er hat es nicht verdient, weiterzuleben, geschweige denn zu essen. Lassen Sie ihn in eines der Besprechungszimmer bringen.«
Herschel Wells klickte im Computer Downlys Daten an und sagte dann zu Carolyn: »Sie wollen sich wohl Ärger einhandeln, wie? Können Sie mit Downly nicht durch die Glasscheibe reden?«
Damit meinte der Deputy den normalen Besucherraum des Gefängnisses, in dem eine Panzerglasscheibe die Häftlinge von den Besuchern trennte. Als Kommunikationsmittel dienten Telefone. Bewährungshelfern, Polizeibeamten und Anwälten war es jedoch freigestellt, mit dem Delinquenten direkt zu sprechen. Dafür wurde aus Sicherheitsgründen der Häftling und sein Besucher von einem Wärter in einen Raum gesperrt. Viele von Carolyns Kollegen weigerten sich aus Angst vor einem Angriff oder vor einer eventuellen Geiselnahme in einen derart nahen Kontakt mit Gewalttätern zu treten. Je schwerer das Verbrechen jedoch war, umso größeren Wert legte Carolyn auf eine direkte Konfrontation mit dem Täter. Dabei ging es ihr darum, das Vertrauen des Betreffenden zu gewinnen, in der Hoffnung, er würde mit Informationen herausrücken, die es ihr ermöglichten, vor Gericht eine möglichst hohe Strafe zu fordern. Bei diesen Befragungen benutzte sie weder ein Tonbandgerät noch machte sie sich Notizen, wie andere Beamte es taten. Häftlinge blieben oft wortkarg, wenn sie wussten, dass ihre Aussagen aufgezeichnet wurden.
Die möglichst genaue Rekonstruktion des Tathergangs sowie der eventuell kriminellen Vorgeschichte des Täters war von entscheidender Bedeutung für die Anklageerhebung. Carolyn hatte schon erlebt, dass Straftäter mit einem zehn Seiten langen Vorstrafenregister dem Gericht als Ersttäter präsentiert worden waren. Denn das Gesetz schreibt vor, dass früher begangene Taten bei einem Schuldspruch nur berücksichtigt werden dürfen, wenn der Angeklagte deswegen rechtskräftig verurteilt worden war. Doch bei der Flut von Prozessen, mit denen die Gerichte überschwemmt wurden, konnte es vorkommen, dass Vorstrafen bei der Anklageerhebung nicht aufgeführt wurden. Revisionsverfahren stellten ein Problem anderer Art dar. So konnte ein früher gefälltes Urteil wegen eines bewaffneten Überfalls in eine Verurteilung wegen Einbruchs umgewandelt werden. Und ein Autounfall mit Todesfolge als Vergehen gegen die Straßenverkehrsordnung geahndet werden. Machte der Täter jedoch Angaben zu seiner Straftat, war diese Aussage als Beweismittel der Anklage zulässig. Deshalb gab sich Carolyn immer große Mühe, dem Gericht einen möglichst detaillierten Tathergang samt Lebenslauf des Täters vorzulegen.
Bei der Urteilsverkündung bereitete ihr dann die Enttäuschung der Verbrecher, die nur mit einer geringen Strafe gerechnet hatten und die jetzt jahrelang einsitzen mussten, große Genugtuung. Am bittersten war für die Verurteilten jedoch die Erkenntnis, dass sie selbst an diesem Strafmaß mitgewirkt hatten, weil sie allzu offen mit ihrer hübschen Bewährungshelferin gesprochen und vergessen hatten, dass sie gleichzeitig auch Gerichtshelferin war.
Bisher hatte Carolyn nur ein erschreckendes Erlebnis – kurz nach ihrer Ernennung zum Officer – gehabt, und zwar bei einem direkten Gespräch mit einem Einbrecher. Das alte Gefängnis in Oxnard, der Schwesterstadt von Ventura, war ein düsteres, baufälliges Gebäude gewesen. Da es dort nur zwei Besprechungszimmer gegeben hatte, wurde manchmal ein großer offener Raum – die ehemalige Dusche – für Befragungen genutzt. Der Mann – ein Latino –, über den Carolyn einen Bericht im Vorfeld der Hauptverhandlung verfassen musste, war wegen Einbruchs in fünf Fällen angeklagt. Natürlich war sie bei ihm nicht so aufgetakelt erschienen wie heute, sonst hätte er sie wohl vergewaltigt. Trotz ihrer dezenten Kleidung war er aber völlig ausgerastet, hatte sie zwei Stunden lang durch den Raum gehetzt, ihre Bluse zerrissen und ihren Kopf auf den Betonfußboden geschlagen. Ihre Hilferufe hatte niemand gehört, denn wegen des Schichtwechsels hatte der Wärter, der die Tür abgesperrt hatte, vergessen, seiner Ablösung zu sagen, dass sie den Häftling verhörte.
Das neue Gefängnis war jedoch mit allen Raffinessen modernster Technik ausgestattet. Ein Druck auf den Türsummer genügte, und kurz darauf tauchte ein Wärter auf.
»Holen Sie jetzt den Gefangenen!«, befahl Carolyn Deputy Wells. »Ich kann sehr gut auf mich aufpassen.«
Nachdem Carolyn die Sicherheitstür passiert hatte, blieb sie stehen und legte ihre Handtasche und ihre neue Waffe in einen Spind. Dann kam ein älterer Deputy mit schütterem Haar und dickem Bauch. Er begleitete sie durch die Korridore.
»Sie ziehen wohl mal wieder ’ne Show ab, wie, Officer Sullivan?«, sagte Alex Barker, der Carolyn und ihre spezielle Vorgehensweise schon seit Jahren kannte. »Soll ich Ihnen verraten, wie die Knastbrüder hier Sie nennen?«
Carolyn war das egal, aber sie konnte Barker gut leiden und bat ihn manchmal um einen Gefallen.
»Die böse Hexe aus dem Norden«, sagte sie.
»Viel schlimmer«, übertönte der Deputy die bewundernden Pfiffe und obszönen Zurufe aus den vergitterten Zellen. »Das gilt natürlich nicht für diese Idioten hier«, fügte er hinzu. »Die sitzen nur in U-Haft. Die Verurteilten nennen Sie den Todesengel.«
»Das gefällt mir«, sagte Carolyn lächelnd.
»Im Knast kursiert das Gerücht, dass die Häftlinge nach dem Besuch einer sexy Lady einfach verschwinden. Die sind zu blöd, um zu kapieren, dass die Kerle ins Gefängnis verlegt wurden.«
Barker schloss die Tür zu einem kleinen, fensterlosen Raum auf und fragte: »Ist das Ihr Mann?«
Ein schlanker junger Bursche hockte zusammengesackt auf einem Stuhl. Carolyn nickte. Bewährungshelfer waren Polizisten gegenüber im Vorteil, da sie die Festgenommenen nicht auf ihre Rechte hinweisen mussten. Und Carolyns Aufgabe war es nur festzustellen, ob Edward Downly gegen die Bewährungsauflagen verstoßen hatte, und in dem anhängigen Verfahren in ihrer Eigenschaft als Gerichtshilfe zu ermitteln.
»Hi, Eddie«, sagte sie, nachdem Barker die Tür von außen geschlossen und abgesperrt hatte. »Wir haben uns ja lange nicht gesehen. Tut mir Leid, dass ich in Ihre Mittagspause reinplatze.«
»Das Essen hier ist beschissen«, sagte Eddie missmutig, neigte den Kopf zur Seite und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Sie sind doch meine Bewährungshelferin, oder? Sie sehen heute so anders aus.«
Carolyn setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Sie musste sich Gewissheit verschaffen, ob Eddie pädophil war. Nicht alle Männer, die Kinder vergewaltigen, gehören zu dieser Kategorie. Viele sind Sexualtäter, die sich an Frauen jeden Alters und auch an Kindern vergehen, weil die Macht über ihre Opfer sie erregt.
Eddies Blick blieb kurz an ihrem Dekolleté hängen, dann wandte er gleichgültig den Kopf ab. Einen Sexualtäter hätte ihre aufreizende Kleidung erregt. Doch Eddie schien immun dagegen. Falls Eddie pädophil war, konnte es noch andere Opfer geben. Er hatte Luisa Cortez vergewaltigt und gewürgt, bis er sie für tot hielt. Also musste die Polizei alle Vermisstenanzeigen von Kindern überprüfen.
Carolyn änderte ihre Taktik und schlüpfte in eine andere Rolle.
Sie stützte den Kopf in die Hand, gähnte und sagte: »Entschuldigen Sie. Aber heute bin ich wirklich groggy. Ich habe die Nacht bei meinem Freund verbracht und vergessen, Kleider zum Wechseln mitzunehmen. Wir waren gestern Abend in dem Rolling-Stones-Konzert im Staples Center. Geschlafen habe ich nicht viel.«
»Sie mögen die Stones?«, fragte Eddie und entspannte sich. »O Mann, die sind doch schon uralt.«
»Mein Freund ist ein Fan der Stones«, sagte Carolyn. »Aber ich bin nicht hergekommen, um über mich zu reden. Was ist denn los, Eddie? Die Polizei hat Sie festgenommen, weil Sie angeblich ein kleines Mädchen vergewaltigt haben. Dabei dachte ich, Sie wären mittlerweile verheiratet. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, schien doch alles in Ordnung zu sein.«
»Ich hab’s nicht getan«, protestierte Eddie und wurde rot. »Sehe ich etwa wie ein Kerl aus, der es nötig hat, ein Kind zu vergewaltigen? Die Mädchen sind verrückt nach mir. Die Cops haben mich eingesperrt und lassen dieses kranke Arschloch, den Täter, frei rumlaufen.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Haben Sie mit denen geredet? Mit der Polizei? Was hat sie für Beweise gegen mich? Ist das Mädchen gestorben? Gestern Abend durfte ich nicht mal fernsehen.«
»Luisa Cortez hat überlebt«, sagte Carolyn und biss sich auf die Zunge, damit sie nicht über den Tisch sprang und ihm die Augen auskratzte. Dann dachte sie an das Telefonat, das sie geführt hatte, und wartete auf den günstigsten Augenblick. »Wo waren Sie, als das Verbrechen geschah?«
»Bei meinen Freunden«, sagte Eddie und hustete. »Die Cops haben sie schon vernommen. Ich habe ein wasserdichtes Alibi.«
Carolyn klappte die Akte auf. »Sprechen Sie von Teddy Mayfield und Sam Howard?«
»Ja, genau.«
»Beide Männer sitzen in San Francisco im Gefängnis. Sie wurden am Tag vor der Vergewaltigung nach einem Unfall mit Fahrerflucht festgenommen.« Carolyn registrierte voller Genugtuung, dass sich Eddie auf seinem Stuhl wand. »Gegen Mayfield und Howard lag auch ein Haftbefehl wegen Hehlerei vor. Ich glaube, Sie haben sich für Ihr Alibi die falschen Leute ausgesucht, Eddie. Waren die beiden Ihre Drogendealer?«
»Alles gelogen!«, schrie Eddie und starrte sie finster an. »Sie sind nur hergekommen, um mich auszutricksen, damit ich etwas mich Belastendes aussage.« Er wedelte mit seiner rechten Hand. »Deshalb lassen Sie Ihre Titten aus der Bluse hängen.«
»Ich habe Sie für klüger gehalten«, sagte Carolyn, blätterte in der Akte und nahm die Tatort-Fotos heraus, die Hank Sawyer ihr geschickt hatte. »Drogendealer sind nicht sehr zuverlässig«, fügte sie hinzu und drehte die Fotos um.
Luisa Cortez’ kleiner Körper war voller Blut und Schmutz. An ihrem Hals waren Würgemale zu erkennen. Nackt, mit gespreizten Beinen und schlaffen Armen lag sie da. An den Oberschenkeln waren blaue Flecke und getrocknetes Blut zu erkennen. Ein paar Meter entfernt lagen ein zerrissenes, geblümtes Kleid, ein weißer Kinderslip aus Baumwolle und zwei Söckchen mit aufgedruckten Kätzchen.
Die Polizei hatte ihre Sneakers nicht gefunden und nahm deshalb an, dass die Kleine woanders vergewaltigt und dann aus einem fahrenden Auto geworfen worden war. Als Luisa Cortez im Krankenhaus zu sich gekommen war, hatte sie als Erstes nach ihren neuen Schuhen mit den herzförmigen Löchern gefragt. Carolyn vermutete, dass Eddie die Schuhe behalten hatte – ein Souvenir an seine Tat, um sich in der Erinnerung noch einmal daran aufzugeilen.
Er starrte die Fotos mit offenem Mund an. Carolyn sah, dass seine Hand zitterte, als er sie beiseite schieben wollte. An diesen Teil ihrer Tat wollen sich Kinderschänder nie erinnern – an die schreckliche Realität ihres Verbrechens. Irgendwie scheinen sie davon überzeugt, dass sie die Kinder lieben, die sie sexuell missbrauchen. Die Polizei hatte einmal einen Mann festgenommen, als er zur Elternsprechstunde seines siebenjährigen Opfers gekommen war.
Jetzt konnte sich Carolyn nicht mehr beherrschen und schlug mit der geballten Faust auf Eddies Hand.
»Au!«, schrie Eddie. »Sie tun mir weh.«
»Ich tue Ihnen weh?«, fauchte Carolyn. »Sehen Sie sich diese Fotos genau an, Eddie. Hat Ihnen gefallen, was Sie mit Luisa Cortez gemacht haben? Sie mögen kleine Mädchen, nicht wahr? Ich habe gestern mit Maria Valdez gesprochen.«
Carolyn sah, wie schockiert er reagierte.
»Rosita, Marias Schwester, hat gelogen, als sie Sie angezeigt hat. Sie hat es getan, um ihre siebenjährige Schwester zu schützen, um ihr das Trauma eines Prozesses zu ersparen. Sie haben die kleine Maria und nicht die große Rosita sexuell belästigt. Denn bei Frauen kriegen Sie keinen hoch. Da sind Sie impotent, wie?«
»Sie sind ja verrückt!«, schrie Eddie mit schweißüberströmtem Gesicht. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Rosita war meine Freundin.«
»Ich gebe Ihnen einen kostenlosen, juristischen Rat«, sagte Carolyn. »Bekennen Sie sich wegen Entführung, Vergewaltigung und versuchten Totschlags schuldig. Der Staatsanwalt hat genügend Beweise für eine Verurteilung. Können Sie sich noch daran erinnern, dass Sie als Sexualtäter registriert wurden und eine DNA-Probe im Labor abgeben mussten? Vielleicht haben Sie Luisas Schuhe als Souvenir behalten, aber wir haben etwas von Ihnen, das Sie Ihre Freiheit kosten wird. Ihre DNA-Probe stimmt mit Spuren an Luisas Körper überein. Und nicht nur das: Luisa kann Sie identifizieren. Sie hätten also genauso gut Ihre Adresse und Telefonnummer am Tatort hinterlassen können.«
Eddie riss seine Hand weg. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er wollte etwas sagen, überlegte es sich anders und rutschte mit seinem Stuhl an die Wand.
»Mit Ihrem Schuldeingeständnis können Sie gleich einen Antrag auf Schutzhaft stellen«, fuhr Carolyn fort. »Sonst werden Ihre Mitgefangenen Sie umbringen. Denn diese Männer haben auch Schwestern, Töchter oder Nichten.« Sie holte tief Luft und redete dann weiter: »Sollte es noch andere Opfer geben, vielleicht in anderen Staaten, können Sie Ihren Prozess hinauszögern, wenn Sie mit uns kooperieren und die Wahrheit sagen. Und wenn wir alle mit Ihnen fertig sind, kommen Sie in den Knast. Aber das werden Sie nicht lange überleben.«
Carolyn stand auf und ging vorsichtshalber rückwärts zur Tür. Aber Eddie rührte sich nicht, sondern starrte nur ins Leere. Er überlegte wohl, ob er ihren Rat befolgen sollte. Sie drückte auf den Summer und atmete erleichtert auf, als sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Kaum hatte Deputy Barker die Tür geöffnet, machte sie auf dem Absatz kehrt und trat auf den Flur.
Carolyn war auf dem Weg zur Damentoilette im ersten Stock, als ihr Brad Preston begegnete. Die meisten Beamten waren in der Mittagspause und die öffentlichen Toiletten lagen im Flur unter der Treppe.
Er kam zu ihr, nahm ihren Arm, drängte sie in die Herrentoilette und lehnte sich dann gegen die Tür, damit niemand sie öffnen konnte.
»Wen versuchst du denn rumzukriegen?«, fragte er und musterte ihr Outfit.
»Lass mich los«, sagte Carolyn und entriss ihm ihren Arm. »Du hast mich doch auf Downly wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen angesetzt, oder? Jetzt weiß ich, dass er pädophil ist. Er ist schon einmal wegen eines Sexualdelikts verurteilt, aber auf Bewährung freigelassen worden. Das Opfer damals war etwa in Luisa Cortez’ Alter.«
Nachdem Carolyn ihm von ihrem Telefonat mit Maria Valdez und Rosita, ihrer älteren Schwester, erzählt hatte, fügte sie hinzu: »Ruf Hank an und sag ihm, dass die Polizei nach weiteren Opfern suchen und vor allem die Vermisstenanzeigen von Mädchen unter zwölf Jahren überprüfen muss. Er soll einen entsprechenden Antrag an alle Polizeidienststellen landesweit schicken. Da ich Downly letztes Jahr nicht überwacht habe, kann er überall gelebt haben.«
»Du siehst toll aus«, sagte Brad lächelnd und zog sie in seine Arme. »Ich hatte schon vergessen, was für einen verführerischen Körper du hast.« Er umfasste ihre Brüste und küsste sie auf den Mund.
Carolyn schmolz dahin. Ihres Verstandes beraubt, ließ sie Eddie Downlys Akte und ihre Handtasche fallen. Dabei war sie überzeugt gewesen, ihre Affäre mit Brad wäre vorbei. Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Kein Mann hatte sie je so erregt wie er. Sie umfasste sein Gesicht.
»Das könnte uns den Job kosten, weißt du das?«
»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Brad und lehnte jetzt Carolyn mit dem Rücken an die Tür. Er hielt ihre Hände über ihrem Kopf fest, küsste ihren Mund, ihren Hals und ließ seine Zunge zu ihren Brüsten gleiten. Sie schloss die Augen und stöhnte.
Wie lange war es her?
Da hörte sie ein Geräusch und blickte über seine Schulter zu den Urinalen. Und wenn ein Mann in einer der Kabinen war? Sie hielt den Atem an und lauschte. Ihr Herz raste vor Aufregung. Brad hatte absichtlich die Herrentoilette gewählt. Was sie hier taten, war mehr als dekadent. Da rutschte sie auf dem glatten Boden aus. Es war schwierig, mit Pumps das Gleichgewicht zu halten. Sie schleuderte ihre Schuhe von sich, knöpfte sein Hemd auf und streichelte die gebräunte Haut seiner muskulösen Brust.
»Du bist schön«, flüsterte sie. »Männer sollten nicht so attraktiv sein.«
»Ist das ein Kompliment oder eine Beleidung?«, fragte Brad lachend.
»Keine Ahnung«, sagte Carolyn und wich etwas zurück.
»Willst du mich denn nicht vernaschen?«
»Nein«, sagte sie und unterdrückte ihr Verlangen.
»Wir müssen nur diskret sein, damit niemand im Amt erfährt, dass wir wieder zusammen sind«, sagte Brad. »Komm doch heute Abend zu mir.«
»Du hast Lippenstift im Gesicht«, sagte Carolyn und wischte die roten Spuren ab. »Was wir momentan treiben, ist aber alles andere als diskret.«
»Wohl kaum«, entgegnete Brad grinsend. »Vielleicht hat es dir gerade deshalb so gefallen.«
»Ich will keine heimliche Beziehung«, sagte Carolyn. »Wir könnten nicht einmal miteinander ausgehen. Du bist ein fantastischer Liebhaber, aber das genügt mir nicht. Ich muss an John und Rebecca denken. Die beiden brauchen einen Mann in ihrem Leben, zu dem sie wie zu einem Vater aufsehen können.«
»Was ist denn mit Frank, deinem Ex?«
»Nichts«, sagte Carolyn und bat Brad niemanden in den Raum zu lassen, während sie sich am Waschbecken ihr Make-up abwusch und ihre Kleidung in Ordnung brachte.
»Er ist verpflichtet, Unterhalt für die Kinder zu zahlen«, sagte Brad. »Hast du ihn verklagt? Er käme ins Gefängnis.«
»Wir wissen nicht einmal, wo er sich im Moment aufhält«, erklärte Carolyn. »Er ändert ständig seine Telefonnummer. Vor drei Monaten habe ich ihn wegen unterlassener Unterhaltszahlung angezeigt, aber die Polizei konnte ihn nicht finden.«
»Dann arbeitet er wohl nicht, sonst wäre er über seine Sozialversicherungsnummer ausfindig zu machen.«
Als draußen jemand an der Klinke rüttelte, drückte Brad seine rechte Schulter gegen die Tür und rief: »Ich bin der Klempner, Mann. Geh oben aufs Klo. Ich stecke hier bis zum Hals in der Scheiße.«
Carolyn hielt sich prustend die Hand vor den Mund. Als sich die Schritte entfernten, sagte sie: »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wahnsinnig bist?«
»Das höre ich ständig«, antwortete Brad und fragte: »Was hast du sonst noch aus Downly rausgekriegt?«
»Nicht viel«, sagte Carolyn, wieder ernst geworden. »Vielleicht bekennt er sich schuldig und erspart uns ein langes Gerichtsverfahren. Entscheidend ist jedoch, dass wir herausfinden müssen, ob es noch mehr Opfer gab. Bei Luisa Cortez ist er nachlässig geworden. Serienvergewaltiger oder -mörder machen normalerweise erst bei ihrem dritten oder vierten Verbrechen Fehler. Sollte es noch andere Opfer geben, so sind sie wahrscheinlich tot. Wie schrecklich das für die Familien ist, nicht zu wissen, ob ihre Kinder tot sind oder noch leben.«
»Wenigstens haben wir ihn geschnappt«, sagte Brad. »Was ist denn mit seiner Freundin? Hast du mir nicht erzählt, er sei verlobt?«
»Gäbe es sie, hätte er sie gezwungen, ihm ein Alibi zu geben. Stattdessen hat er zwei Drogendealer genannt, die aber in San Francisco im Gefängnis saßen, als er Luisa Cortez vergewaltigt hat. Wahrscheinlich hat er mir erzählt, er sei verlobt, um zu vertuschen, dass er pädophil ist. Der Schnelle Eddie interessiert sich nicht für erwachsene Frauen.«
»Widerlich«, sagte Brad kopfschüttelnd.
»Wir dürfen das nie wieder tun«, sagte Carolyn und sah zu Boden.
»Warum nicht?«, widersprach Brad. »Okay, ich gebe zu, im Büro schickt es sich nicht. Aber wir könnten uns doch in der Freizeit wieder treffen.«
»Ich muss mein Leben weiterleben, Brad«, sagte Carolyn. »Schon vor deiner Beförderung habe ich gewusst, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein würde. Du willst doch nicht die Kinder eines anderen Mannes großziehen, jeden Abend ins selbe Haus zurückkommen und dich mit häuslichen Problemen rumschlagen, oder?«
»Aber ich mag dich«, sagte Brad.
Carolyn gab ihm einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Ich mag dich auch.«
Dann öffnete sie die Tür einen Spalt, vergewisserte sich, dass der Flur leer war, und verschwand wie ein Blitz, noch ehe er sie zurückhalten konnte.