Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 7

Kapitel 1

Оглавление

Unter der strahlenden kalifornischen Mittagssonne inmitten der samtenen Grünflächen lauerten Gefahren. Der flüchtige Betrachter konnte die Kumuluswolken leicht für eine schneebedeckte Bergkette am Horizont halten. Die Meteorologen hatten für den Abend ein Unwetter vorhergesagt. Weiße Wolken waren trügerisch, weil sie schwer waren, mit Nässe voll gesogen. Und bald würden sie dunkel werden. Dunkel und drohend.

Denn in seiner Welt war alles trügerisch.

Als Erstes waren ihm die Schuhe der Kids aufgefallen, weil Lichter in den winzigen herzförmigen Ausschnitten ihrer Schuhe beim Gehen aufblitzten. Seitdem verfolgte er Kinder, die so funkelnde Schuhe trugen. Das war ein neues Spiel für ihn. Er hatte es eines Tages entdeckt, als er in der Mall einen Maiskolben gegessen und eine Limonade getrunken hatte. Weil tatenloses Herumsitzen und auf jemanden zu warten ihn wahnsinnig machte.

Doch noch schlimmer war es, wenn er sich zu einer bestimmten Zeit telefonisch melden oder mit jemandem treffen musste. Und diese Zicke war noch unberechenbarer als die meisten Drogendealer. Dealer machten einem das Leben immer schon schwer genug. Sie hatten wenigstens einen Grund, wenn sie einen hängen ließen. Entweder war ihnen der Stoff ausgegangen, oder sie waren selbst so zugedröhnt, dass sie sich nicht mehr an ihre Verabredung erinnern konnten. Und diese Lady änderte bei jedem seiner Gespräche mit ihr die Zeit, wann er sie wieder anzurufen hatte.

Er folgte den Kids mit den schicken Schuhen zum Parkplatz, weil er wissen wollte, was für Autos deren Eltern fuhren. Am Tag zuvor war er vier Stunden lang neun Kids gefolgt, die solche Schuhe anhatten. Nicht genau dieselben Modelle. Wichtig war nur, dass die Schuhe aufleuchteten. Es war ihm egal, ob die Löcher die Form von Tieren, Herzen, Blumen, Baseballbällen oder Fußbällen hatten. Er wusste, dass Discount-Läden diese Schuhe viel billiger verkauften. Aber ganz gleich, wo die Eltern solche funkelnden Schuhe kauften, sie kosteten immer noch viel mehr als ein Paar ganz normale Sneakers.

Jetzt blätterte er sein Notizbuch durch und addierte die beiden Zahlenreihen. Sollte man von der Marke und dem Modell eines Autos auf das Einkommen des Besitzers schließen können, so trugen weit mehr arme als reiche Kids diese schicken Schuhe. Die Paradoxien des Lebens hatten ihn immer amüsiert. Natürlich wusste er, dass sein Spiel keine Untersuchung des Kaufverhaltens der Verbraucher war. Er analysierte nicht, welche Schuhe Kids trugen. Das war nicht sein Job.

Warten war ihm verhasst. Und jetzt suchte er nach einem passenden Ort dafür. Deshalb hatte er sich schon mehrere, nur ein paar Blocks weit entfernte Häuser angeschaut, aber keines davon hatte seinen Ansprüchen genügt. Denn er mochte Bäume und Häuser, die nicht direkt an der Straße lagen, und das in einem Viertel, in dem die Bewohner nicht gleich ihre Nasen in die Angelegenheiten anderer Leute steckten.

Denn ihm hatte noch nie jemand gesagt, was er zu tun hatte und lassen sollte, vor allem keine Frau.

Er stand an einen Baum gelehnt da und inhalierte den Rauch seiner Zigarette, als sie die Haustür öffnete und er sie auf die Veranda treten sah.

Oh, mein Gott, war sie schön! Was waren das nur für Eltern, die ihr kleines Mädchen allein zum Spielen auf die Straße ließen?

Manchmal fuhr sie mit ihrem Fahrrad, das mit rosa Wimpeln geschmückt war. Oder sie spielte Seilhüpfen. Wenigstens hatte ihre Mutter ihr bestimmte Regeln auferlegt. Sie durfte den Häuserblock nicht verlassen. Denn er hatte sie zum Ende der Straße fahren, halten, umdrehen und zurückfahren sehen.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sie würde acht Minuten brauchen, bis sie das Trümmergrundstück hinter ihm erreichte.

Die ganze Familie der Kleinen war heute Morgen um halb zehn zum Kirchgang erschienen. Herausgeputzt in ihren Sonntagskleidern hatte er sie alle davonfahren sehen. Gegen eins war die ganze Sippe zurückgekommen und hatte ihren verrosteten VW-Kombi in der Auffahrt geparkt. Bestimmt hatte sie irgendwo unterwegs zu Mittag gegessen.

Eine Woche lang hatte er nach dem Vater Ausschau gehalten. Doch jetzt war er sich fast sicher, dass die Frau keinen Mann hatte.

Verdammt, dachte er, das jüngste Kind kann kaum älter als sechs Monate sein.

Das Baby schrie die ganze Zeit, und die zwei Jungen stritten sich immer. Die Älteste – ein Mädchen im Teenageralter – hatte schon Titten, die auch aus der Ferne nicht zu übersehen waren. Vielleicht ist das ihr Baby, dachte er, obwohl er nie gesehen hatte, dass sie sich darum kümmerte. Sie saß jeden Abend auf der Veranda und starrte nur ins Leere. Ein paar Abende zuvor hatte er Geschrei gehört und als die Große herausgekommen war, sah er, dass sie geweint hatte.

Da die Mutter nicht zur Arbeit ging, nahm er an, dass die Familie von Sozialhilfe lebte, wahrscheinlich von dem Kindergeld, das sie für jeden ihrer fünf Sprösslinge kassierte. Die Nahrungsmittel bezahlte sie wohl mit Lebensmittelmarken. Wenigstens rauchte niemand von ihnen. Denn für diese Marken bekam man weder Alkohol noch Zigaretten. Doch viele Leute tauschten sie bei Freunden gegen Bargeld ein, wahrscheinlich zum halben Wert.

Er schnippte die Asche von seiner Zigarette und gab der Mutter in Gedanken ein paar Pluspunkte, weil sie kochte. Das wusste er, weil er die Familie eines Abends durchs Küchenfenster heimlich beobachtet hatte. Der Duft war so köstlich gewesen, dass er am liebsten an die Tür geklopft und gefragt hätte, ob er mitessen dürfe.

Die Kinder machten einen ziemlich ordentlichen Eindruck und er merkte schnell, dass die Mutter nicht viel Geld für sich selber ausgab. Sie trug abgetretene Schuhe, jeden Sonntag zum Kirchgang dasselbe schwarze Reyon-Kleid, und trug immer dieselbe abgewetzte schwarze Plastikhandtasche bei sich.

Die Mutter war eine große, kräftige Frau, die sich gegen einen Mann wehren konnte. Ganz gleich, was auch passierte, er hatte nie gesehen, dass sie diese Handtasche losließ. Wahrscheinlich war sie mit Bargeld voll gestopft. Vor zwei Tagen war einer der Jungen mit dem Skateboard gestürzt und hatte sich einen Arm gebrochen. Seine Mutter war ihm sofort zu Hilfe geeilt, ihre Handtasche fest unter den Arm geklemmt.

Nur mit einem Brecheisen hätte man ihr den Arm vom Körper lösen können, dachte er. Es war eine altmodische Tasche ohne Riemen. Taschendiebe bevorzugen Riementaschen. Aber die meisten Frauen sind nicht so schlau und hängen sich ihre Taschen lieber über.

Überall, wo er in dieser Gegend hinschaute, sah er eindeutige Zeichen der Armut. Klapprige Autos standen am Straßenrand, die alle drei Tage weitergeschoben werden mussten, damit die Polizei sie nicht abschleppen ließ.

Und mehr noch: Die Cops trugen zum Elend der Leute bei. Die Menschen hatten kein Geld, um ihre Autos anzumelden, also bekamen sie einen Strafzettel. Womit aber sollten sie die Strafe bezahlen? Wenn sie Geld hätten, würden sie ihre Autos anmelden. Und eine Autoversicherung besaßen sie noch weniger. Also gab es mehr Strafzettel. Und bald landeten diese Leute dann im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung mussten sie noch mehr Geldstrafen bezahlen und hatten neue Gerichtsverfahren am Hals. Warum sollten sie dann überhaupt noch versuchen, aus ihrer Misere rauszukommen? Also sagten sie sich: Bleib zu Hause und kassier Sozialhilfe. Niemand klatscht dir einen Strafzettel auf den Arsch, wenn du zu deinem Briefkasten gehst und den Scheck vom Sozialamt rausnimmst. Das wusste er nur zu gut, denn er war als Kind in einem ähnlichen Viertel aufgewachsen.

Jetzt hielt er die in einem Motel gestohlene Gideon-Bibel vor seine Brust. Sein Körper vibrierte vor Anspannung. Fünf Minuten noch, dann war es so weit. Schon konnte er sie singen hören. Die Worte waren kaum zu verstehen, aber er kannte die Melodie.

Wie alles an ihr, war ihre Stimme rein und süß. Kein schweres Parfüm, kein klebriges Make-up, kein Schweißgeruch, keine offenen Wunden, keine Nadeleinstiche.

»So nimm denn meine Hände und führe mich ...«, sang sie.

»Das ist mein Lieblingslied«, sagte er und ging zu ihr.

Er hasste es, dass ihre neuen funkelnden Schuhe den schmutzigen Beton berührten und dass sie in diesem heruntergekommenen alten Haus wohnte. Denn sie war eine Prinzessin – seine wunderschöne Prinzessin. Lockiges braunes Haar umrahmte ihr bezauberndes Gesicht. Ihre Haut hatte einen goldenen warmen Braunton und ihre Augen strahlten vor Freude.

Wie lange noch würde sie singen? Oder würde sie bald wie ihre große Schwester weinend auf die Veranda laufen?, dachte er wehmütig.

Eigentlich hatte er noch eine Woche in der Hoffnung warten wollen, dass ihn sein neuer Job derart beschäftigte, dass er darüber dieses – wie er sich eingeredet hatte – harmlose Spiel vergessen könnte. Doch er musste sie haben – jetzt sofort – und stellte sich vor, sie in seinen Armen zu halten, den Duft ihres frisch gewaschenen Haars einzuatmen und ihre warme, makellose Haut zu streicheln.

Sie hörte auf zu hüpfen und sah ihn an. Dann entdeckte sie die Bibel in seiner Hand. »Gehen Sie auch in unsere Kirche?«

»Ja«, log er lächelnd. »Ich habe heute Morgen mit deiner Mom gesprochen. Sie hat mich gebeten, auf dich aufzupassen. Du weißt schon, damit dir nichts Schlimmes passiert.«

Er drehte sich um und deutete zur Nebenstraße. »Ich wohne nicht weit entfernt. Was macht der Arm deines Bruders? Deine Mom hat mir erzählt, dass er vom Skateboard gefallen ist.«

»Ich möchte auch so einen Gips haben«, sagte sie und spielte mit den Rüschen ihres geblümten Kleids. »Dann können alle Kinder ihre Namen draufschreiben und ich muss abends nicht mehr den Tisch decken. Die Teller sind mir zu schwer. Dafür bin ich nicht stark genug.«

»Ich wette, du bist viel stärker als du glaubst«, sagte er und ging vor ihr in die Hocke. »Leg deine Hand in meine und drück, so fest du kannst. Vielleicht bist du sogar stärker als ich.«

»Wirklich?«, sagte sie aufgeregt.

Ihre kleinen perfekten Finger umfassten vertrauensvoll seine. Ihre Berührung war wie ein elektrischer Schock und nur ein Vorgeschmack der Lust, die sie ihm bereiten würde. Tränen traten ihm in die Augen. Schon war die dunkle Wolke über ihm. Er musste sich beeilen. Denn sobald es zu regnen anfing, würde jemand nach ihr suchen.

Sie verdiente es, in einem Palast zu leben, aber alles, was er ihr schenken konnte, war der Tod.

Aprilregen ergoss sich in Strömen über die Stadt. Weil Carolyn Sullivan ihren Sohn und ihre Tochter zur Schule gefahren hatte, kam sie zwanzig Minuten zu spät zur Arbeit. Sie parkte ihren weißen Infinity so nahe wie möglich am Amtsgebäude. Als sie ausstieg und ihren Regenschirm aufspannte, verhakte er sich an der Autotür.

Schon wieder so ein höllischer Montag, dachte Carolyn und warf den verbogenen Schirm auf den Rücksitz. Dann bedeckte sie ihren Kopf mit der Zeitung und lief zum Eingang.

Eine Viertelstunde später saß sie auf einem Stuhl im Büro des Abteilungsleiters des Amts für Bewährungs- und Gerichtshilfe in Ventura, einer Kleinstadt an der Peripherie im Norden von Los Angeles. Ihr Haar war tropfnass, mit der rechten Hand umklammerte sie noch immer die durchweichte Zeitung, denn ihr Vorgesetzter, Brad Preston, hatte sie zusammengestaucht, ehe sie Zeit gehabt hatte, einen Kaffee zu trinken.

Warum hatte Brad eine Nachricht auf ihrer Mailbox hinterlassen und verlangt, sie solle sich sofort bei ihm melden? Es musste sich um irgendetwas Wichtiges handeln. Carolyn hoffte auf etwas Positives – vielleicht ihre längst fällige Beförderung. Als allein erziehende Mutter hatte ihre Entscheidung, ihr Jurastudium mit einem Examen abzuschließen, ein großes Loch in ihr bereits überstrapaziertes Budget gerissen.

Sie ging ins Vorzimmer von Brads Büro. Seine Assistentin, Rachel Mitchell, hatte ihr bereits gesagt, er sei in einer Besprechung mit dem Chef und habe gebeten, sie solle auf ihn warten.

»Ich komme gleich wieder«, sagte Carolyn zu Rachel und zupfte an ihrer feuchten Hemdbluse, »ich trinke nur noch schnell einen Kaffee im Pausenraum.«

In dem Moment packte ein großer, blonder, gut aussehender Mann mit blauen Augen Carolyn am Ellbogen. »Du gehst jetzt nirgendwohin«, sagte Brad Preston kurz angebunden.

Er bugsierte sie in sein Büro und stieß die Tür hinter sich zu. Dann ließ er sie los und starrte auf die Zeitung in ihrer Hand. »Hast du schon die Schlagzeilen gelesen?«

»Nein«, sagte Carolyn und warf ihre nasse Zeitung in den Papierkorb. »Mein Regenschirm ist kaputtgegangen und da habe ich die Zeitung über meinen Kopf gehalten. Was ist denn los?«

»Eddie Downly hat ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt«, sagte er und warf ihr seine Ausgabe der Ventura Star Free Press zu. »Er wollte sie erwürgen, aber sie hat’s überlebt. Er war auf Bewährung draußen und du hast ihn betreut. Wann hast du den Bastard zum letzten Mal gesehen?«

Mit zitternden Händen hielt Carolyn die Zeitung und starrte das Foto des Täters an. Er hatte den Spitznamen Schneller Eddie. Sein richtiger Name war Edward James Downly. Mit sechzehn war er zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt und unter der Auflage einer vierjährigen Bewährungsfrist entlassen worden. Da er wegen eines Sexualdelikts angeklagt worden war, hatte das Gericht Downly nicht nach dem Jugendstrafrecht, sondern nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt und er hatte sich wie jeder Sexualstraftäter einschließlich seiner DNA registrieren lassen müssen, wie es seit 1998 gesetzlich vorgeschrieben war. Der Schnelle Eddie war jetzt erst neunzehn Jahre alt.

»Ich ... ich ...«, stammelte Carolyn und hob langsam den Blick von der Zeitung. »Ich weiß nicht mehr, wann ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, Brad. Da muss ich erst in seiner Akte nachsehen.«

»Ich hätte nie gedacht«, sagte er und ließ sich in seinen Ledersessel hinter seinem mit Akten übersäten Schreibtisch fallen, »dass ich ausgerechnet mit dir so ein Gespräch führen müsste, Carolyn. Wann hast du ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Das habe ich dir doch schon gesagt«, entgegnete sie mit bebender Stimme. »Ich bin mir nicht sicher. Seine Bewährungsfrist müsste jeden Tag ablaufen. Bei Eddie hatte ich nie einen Hinweis darauf, dass er ein Vergewaltiger oder Pädophiler ist. Eigentlich hat seine strafbare Handlung damals nur darin bestanden, dass er einer Vierzehnjährigen aus seiner Nachbarschaft die Hand unter den Rock geschoben hat. Eddie hat geschworen, sie sei seine Freundin gewesen. Er behauptete, nur wegen einer Art Vendetta zwischen den beiden Familien von einem Nachbarn angezeigt worden zu sein. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe, war er verlobt und wollte heiraten.«

Brad beugte sich mit versteinertem Gesicht über seinen Schreibtisch. »Die Medienleute rennen uns die Bude ein. Du bist eine unserer besten Beamtinnen. Jetzt sag mir schnell, was ich hören möchte, Carolyn.«

Sie rieb sich die Stirn, eine Geste momentaner Hilflosigkeit. Er wollte, dass sie ihm versicherte, sie habe Downly in diesem Monat gesehen, dass sie jeden seiner Schritte überwacht und dass die Behörde den brutalen Missbrauch des kleinen Mädchens nicht habe verhindern können.

»Willst du die Wahrheit hören? Willst du sie wirklich wissen? Nein, die Wahrheit willst du nicht hören.«

»Natürlich will ich die Wahrheit hören!«, schrie Brad.

Er stand auf, zog seine Jacke aus und riss sich seine Krawatte vom Hals.

»Wir müssen unsere Statements mit Dokumentationen untermauern. Ich habe versprochen, der Polizei innerhalb einer Stunde eine komplette Kopie von Downlys Akte auszuhändigen. Die Adresse, die sie von ihm hat, taugt nichts. Wann hattest du zum letzten Mal Kontakt zu ihm, Carolyn?«

Er ging zu ihr und blieb nur ein paar Zentimeter vor ihr stehen. »Herrgott noch mal, wir können hier kein Frage- und Antwortspiel veranstalten, während draußen ein Vergewaltiger und potenzieller Mörder frei rumläuft. Verdammt, sag mir, wo wir stehen.«

»Es ist schon lange her«, sagte sie und strich nervös mit den Händen über ihren Rock. »Vor neun Monaten ... oder vielleicht vor einem Jahr.«

»Vor einem Jahr!«, rief Brad. Sein heißer Atem streifte ihr Gesicht. »Du hast diesen Kerl ein beschissenes Jahr lang nicht mehr gesehen?«

»Vergiss nicht«, sagte Carolyn, »dass ich nicht dem Außendienst zugeteilt bin. Letzten Monat musste ich vierzig Gerichtshilfe-Ermittlungen abschließen und obendrein über zweihundert Ersttäter betreuen. Dabei ständig auf dem Laufenden zu bleiben ist praktisch unmöglich. Und das weißt du, Brad.«

»Als ich erfuhr, dass du für diesen Fall zuständig bist«, sagte er und ging in seinem Büro rastlos auf und ab, »habe ich geglaubt, dass es damit keine Probleme geben würde.« Er schüttelte seine Hände, um seine innere Anspannung zu lockern. »Übergib alles, was du über Downly hast, der Polizei. Geh nicht ans Telefon und bleib im Haus, bis wir uns überlegt haben, was wir der Presse sagen.«

Carolyn erhob sich langsam und blieb mit hängenden Schultern stehen. »Da gibt’s nichts zu überlegen«, sagte sie. »Sobald ich der Polizei die Akte übergeben habe, wird sie feststellen, dass ich Downly vernachlässigt habe. Aber auch wenn die da oben mir mit meiner Kündigung drohen, weigere ich mich, die Unterlagen zu frisieren.«

Brad deutete – noch erregter als zuvor – auf seine Brust. »Habe ich dich etwa gebeten, die Akte zu fälschen? Willst du mich vielleicht erpressen?«

Carolyn hielt schweigend seinem Blick stand. Bis zu Brads Beförderung vor sechs Monaten hatten sie eine Affäre gehabt, doch ihre Beziehung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er war neununddreißig und nie verheiratet gewesen. Obwohl Brad in jeder Hinsicht ein anständiger Mann war, neigte er manchmal zu Exzessen, eine Eigenschaft, die ihn – außer seinem guten Aussehen – wahrscheinlich für Frauen so attraktiv machte. In seiner Freizeit fuhr er Autorennen und zechte gern mit seinen Kumpanen; und seine Wutanfälle waren berüchtigt. Carolyn hatte nie verstanden, wie er es bei diesem Lebenswandel schaffte, körperlich so gut in Form zu bleiben und keinen Tag älter als dreißig auszusehen. Das liegt an seinen guten Genen, redete sie sich ein, war aber gleichzeitig fest davon überzeugt, dass ihn seine Ausschweifungen eines Tages doch noch einholen würden.

»Um keinen Preis darf es zu einer Neuauflage des Cully-Falls kommen«, sagte Carolyn. »Der ist uns direkt vor der Nase explodiert. Kannst dich daran erinnern?«

Die Sachlage im Fall Jerry Cully war ähnlich, aber viel ernster gewesen. Cullys Haftstrafe wegen Exhibitionismus war zur Bewährung ausgesetzt worden.

In den meisten Fällen sind Männer, die sich öffentlich entblößen, keine Sexualtäter. Ihr Verhalten ist passiver Natur. Diese introvertierten, fast bemitleidenswerten Einzelgänger neigen im Allgemeinen nicht zu Gewalttaten. Doch Jerry Cully hatte nicht in dieses Profil gepasst.

Im vergangenen Jahr hatte er auf dem Campus derselben juristischen Fakultät, an der Carolyn ihr Abendstudium absolvierte, und ein paar Monate, ehe Brad befördert worden war, eine Studentin vergewaltigt. Sein Bewährungshelfer, Dick Stanton, hatte damals die Tage bis zu seiner Pensionierung gezählt und seinen Schützling nur einmal gesehen.

Nach der Vergewaltigung hatte Stanton die Akte frisiert, damit es den Anschein hatte, er habe Cullys Lebenswandel regelmäßig überprüft. Wie sich jedoch herausstellte, war Cully ein Serienvergewaltiger gewesen. Somit hatte Dick Stanton dem Täter auch noch ein Alibi für eine seiner Straftaten verschafft. Daraufhin war Stanton mit der Wahrheit herausgerückt und hatte von sich aus gekündigt.

Während ihrer Beziehung hatte Brad gestanden, dass er Stanton dazu ermutigt habe, die Unterlagen zu fälschen. Er war sich bewusst, dass es falsch gewesen war, hatte sich jedoch damit gerechtfertigt, er habe nicht nur seinen Kollegen, sondern auch den Ruf der ganzen Behörde schützen wollen. Jetzt wollte Carolyn sichergehen, dass Brad nicht dasselbe von ihr verlangte.

»Um die Sache zu beschleunigen«, sagte Brad zu ihr, »bring mir die Akte, damit Rachel sie fotokopieren und zu Hank Sawyer ins Präsidium bringen kann. Sollte irgendwas fehlen, schick’s Hank später per E-Mail. In der Zwischenzeit rufe ich den Chef an und verklickere ihm die schlechte Nachricht. Ich habe einen anderen Fall, den du übernehmen sollst.«

»Und was denkst du, wie die Sache ausgeht?«, fragte Carolyn besorgt, weil sie Angst hatte, ihren Job zu verlieren, wenn die Wahrheit im Fall Downly herauskam.

Brad Preston griff nach dem Telefon auf seinem Schreibtisch, wedelte mit der freien Hand, als wollte er ihre Frage vom Tisch wischen, und sagte: »Tu, was ich dir sage. Je früher die Polizei Downly erwischt, umso schneller legt sich die ganze Aufregung.«

Um Viertel vor zehn übergab Carolyn Rachel Eddie Downlys dicke Akte. Ehe sie wieder in Brads Büro ging, eilte sie in die Damentoilette und weinte. Aus ihrer Handtasche nahm sie ein Papiertaschentuch und betupfte sich damit die Augen.

Auch wenn ich Downly letztes Jahr jeden Monat zu mir ins Büro beordert und mit ihm gesprochen hätte, wäre es mir nicht möglich gewesen, ihn daran zu hindern, ein kleines Mädchen zu vergewaltigen, versuchte sie sich einzureden.

Wenn ein Straftäter wieder auf die schiefe Bahn geriet, gab es gewöhnlich verräterische Anzeichen dafür. Bei Sexualtätern galt diese Regel jedoch nicht immer. Oft traten sie als mustergültige Bürger in Erscheinung. Ein Pädophiler glich oft einem hinter einem Möbelstück verborgenen Riss in der Wand. Trotzdem würde sie für den Rest ihres Lebens mit der Frage leben müssen, ob sie diese Tat irgendwie hätte verhindern können.

Carolyn lehnte die Zeitung an den Spiegel über dem Waschbecken. Um Himmels willen, das Opfer war ein achtjähriges Mädchen. Rebecca, ihre Tochter, war zwölf. Downly hatte das Mädchen nicht nur vergewaltigt, sondern auch bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und sie für tot gehalten. Gestern, während Carolyn mit ihren Kindern und ihrer Mutter bei einer Grillparty in Camarillo gewesen war, hatte Luisa Cortez halb tot und geschändet in einem Graben auf einem Trümmergrundstück gelegen.

Carolyn zerknüllte die Zeitung und warf sie voller ohnmächtigem Zorn in eine Ecke. Noch vor Jahren hatte sie gern in diesem Beruf gearbeitet. Jetzt wachte sie jeden Morgen mit einem dumpfen Gefühl im Magen auf. Ihre Vorgesetzten mussten aufhören, ihr mehr Arbeit aufzubürden, als sie bewältigen konnte.

Bei einem ihrer früheren Fälle – noch ehe Brad die Abteilung übernommen hatte – war ihr fast jede Freude an ihrer Arbeit vergangen. Das Opfer, eine Elfjährige, hatte sich jeden Morgen vor der Schule über die Toilettenschüssel beugen müssen und war von ihrem Stiefvater anal vergewaltigt worden. Als sie sich wehrte, hatte er ihr mit einer Zange die Brustwarzen abgezwickt. Doch im Laufe der Ermittlungen hatte Carolyn erfahren, dass das Sozialamt versäumt hatte, das Kind psychologisch betreuen zu lassen. Und während der Stiefvater zu Hause in aller Ruhe auf seinen Prozess wartete, wurde das Mädchen zu Pflegeeltern gegeben und hatte somit ihre Freunde, ihre Schule und sogar ihre Mutter verlassen müssen, die bei ihrem Mann – dem sadistischen Vergewaltiger – blieb, weil sie an dessen Unschuld glaubte. Und während des Prozesses hatte Cheryl Wright – das Opfer – einen Selbstmordversuch begangen.

Daraufhin war Carolyn in das Büro ihres Vorgesetzten gestürmt und hatte verlangt, dass dieser Fall einem Kollegen übergeben werde, da sie vier andere Straftaten an Kindern untersuchen müsse und diese zusätzliche Belastung nicht mehr bewältigen könne. Damals war sie einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen und hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, den Stiefvater zu erschießen. Doch die damalige Abteilungsleiterin hatte Carolyn gesagt, sie müsse diesen Fall abschließen oder kündigen. Auf ihre Frage nach dem Grund für diese Alternative hatte ihre Vorgesetzte unverblümt geantwortet, dass sie die einzige Person in der Abteilung sei, die ein Verbrechen dieses Ausmaßes bearbeiten könne.

Daraufhin hatte Carolyn aus Pflichtgefühl und im Interesse der Opfer ihren Beruf weiter ausgeübt. In ihrem ersten Studienjahr an der Universität von Ventura hatte sie montags und mittwochs Abendkurse belegt. Glücklicherweise war John, ihr fünfzehnjähriger Sohn, verantwortungsbewusst, denn er kümmerte sich liebevoll um seine jüngere Schwester. Von dem Jurastudium und der damit verbundenen Weiterbildung erhoffte sie, den Beruf wechseln zu können und eventuell ein höheres Einkommen zu erzielen.

Carolyn war jetzt siebenunddreißig, eine kleine, attraktive Frau mit sehr weiblichen Formen. Ihr kastanienbraunes, natürlich gewelltes Haar fiel ihr bis auf die Schultern, ihr Teint war makellos und ihre Augen braun wie Haselnüsse. Sie legte viel Wert auf korrekte Kleidung und trug heute eine rosa Hemdbluse und einen schlichten schwarzen Kostümrock. Die dazu passende Jacke hatte sie zum Trocknen über einen Stuhl in ihrem Büro gehängt. Zwei im Stil identische marineblaue und beige Ensembles hingen zu Hause in ihrem Kleiderschrank. Ihre klassische Garderobe variierte sie mit sechs pastellfarbenen Blusen, die sie jeden Samstagmorgen bügelte. Manchmal trug sie ein einfaches, aber gut geschnittenes Kleid. Ihre einzigen Accessoires bestanden aus einem Sterlingsilberkreuz mit einer Blume in der Mitte – ein Geschenk ihrer Mutter –, einer Schweizer Armbanduhr und einem alten Paar Manschettenknöpfe aus Perlen, die seit über einhundert Jahren im Besitz ihrer Familie waren. Während ihrer dreizehn Jahre als Bewährungs- und Gerichtshelferin waren die Manschettenknöpfe zu ihrem Markenzeichen geworden.

Mit gesenktem Kopf ging Carolyn über den Flur zu Brads Büro zurück. Rachel saß nicht an ihrem Schreibtisch und die Tür zu seinem Büro stand offen. Er wirkte noch aufgebracht, schien sich jedoch etwas beruhigt zu haben.

»Wilson hat’s ziemlich gelassen aufgenommen«, sagte er und meinte damit den Chef. »Ich habe gerade mit Hank Sawyer vom Polizeipräsidium gesprochen. Er war sehr erstaunt, wie viel Arbeit du dir mit Downly gemacht hast. Du hast die Namen aller seiner Freunde, seine Stammlokale, seine Verwandten und Arbeitgeber in der Akte vermerkt.« Er lächelte zuversichtlich und entblößte dabei strahlend weiße Zähne. »Ich wette, Downly sitzt wieder hinter Gittern, noch ehe es dunkel wird. Sawyer hat mit keinem Wort die im letzten Jahr vernachlässigte Überwachung moniert. Die durchschnittliche Bewährungsfrist beträgt drei Jahre. Wenn wir Glück haben, kommen wir in diesem Fall mit einem blauen Auge davon, weil die Presse von unserer Arbeit keine Ahnung hat.«

»Du hast vorhin von einem neuen Fall gesprochen«, sagte Carolyn und befürchtete, es könnte trotz Brads Optimismus ein Nachspiel geben. Er reagierte auf Fehler seiner Mitarbeiter zwar heftig, hakte jedoch ein Problem sofort ab, wenn es eine Lösung gab, und wandte sich dann sofort der nächsten Aufgabe zu. Obwohl sich Carolyn darüber ärgerte, dass er an ihrer Stelle befördert worden war, musste sie zugeben, dass Brad für diesen stressigen Posten besser geeignet war als sie.

»Ach ja, dieser neue Fall«, sagte er beiläufig und gab ihr die Akte. »Das Letzte, was wir brauchen, ist ein neuer Bewährungskandidat, richtig? Die Blödmänner in Sacramento sollten wegen der Sache, die mit Downly passiert ist, unter Druck gesetzt werden. Sobald die in ihrem Distrikt die Höchstgrenze der zugeteilten Fälle erreichen, kippen sie uns den Überschuss in den Schoß. Wir arbeiten für den Landkreis und nicht für den Staat.«

»Warum übernimmt nicht der Außendienst die Bewährungskandidaten?«, fragte Carolyn. »Unsere Aufgabe besteht darin, Berichte fürs Gericht zu schreiben. Das ist gesetzlich verankert. Deshalb heißt unsere Abteilung doch Gerichtshilfe, wenn das auch niemanden zu kümmern scheint.«

»Der Außendienst hat dasselbe Problem wie wir – Arbeitsüberlastung. Die Leute können unmöglich alle Typen überwachen, die auf Bewährung draußen sind.« Brad machte eine Pause und wechselte dann das Thema. »Okay, hier ist dein Fall. Nach dreiundzwanzig Jahren wurde der Mann, der Charles Harrisons Sohn getötet hat, auf Bewährung entlassen. Das ist ein sehr berühmter Fall. Bestimmt hast du davon gehört.«

»Sprichst du etwa von dem stellvertretenden Polizeipräsidenten des Police Departments in Los Angeles?«, fragte Carolyn entgeistert.

»Von Harrison, ja«, sagte Brad. »Als sein Sohn getötet wurde, war er allerdings Polizeipräsident, hier in Ventura.«

»Warum willst du, dass ausgerechnet ich diesen Fall übernehme?«, fragte Carolyn und überflog die Entlassungspapiere der Haftanstalt Chino. »Selbst wenn die hiesige Polizei uns im Downly-Fall keine Vorwürfe macht, müssen wir damit rechnen, dass wir damit noch Ärger kriegen.«

»Weil du unser bestes Pferd im Stall bist, Schätzchen«, sagte Brad. »Sieh dir die Akte an. Ich hole uns inzwischen Kaffee.«

Er stand auf und verschwand. Zu Brads hervorstechenden Eigenschaften gehörte auch, dass er sich wie ein Blitz bewegte. Woher nahm er nur diese Energie? Sie wusste, dass er keine Drogen nahm. Brad behauptete immer, er würde gerne seine überschüssige Energie gegen ihre Konzentrationsfähigkeit eintauschen. Denn wenn Carolyn sich konzentrierte, konnte jemand eine Kanone neben ihr abfeuern, ohne dass sie es gehört hätte.

Sie betrachtete das Foto ihres neuen Bewährungsschützlings. Während Brad bemerkenswert jung für sein Alter aussah, wirkte Daniel Metroix zehn Jahre älter als einundvierzig. Seine Haut war fahl, sein dunkelbraunes Haar verfilzt und er hatte dunkle Ringe unter den Augen.

Als Brad zurückkam und Carolyn einen Becher Kaffee in die Hand drückte, griff sie gierig danach. »Du weißt, warum ich Eddie Downly nicht mehr kontrolliert habe, oder?«

»Das haben wir doch schon alles besprochen«, sagte Brad. »Noch bis vor kurzem habe ich deinen Job gemacht und weiß, wie überarbeitet ihr seid. Downly hat einen Haufen Beweismaterial am Tatort hinterlassen. Was glaubst du denn, warum er so schnell als der Täter identifiziert wurde?«

Carolyn klappte die Metroix-Akte zu. »So wie die Dinge liegen, muss ich jeden Abend Arbeit mit nach Hause nehmen und ich habe noch nie einen Antrag auf eine Bezahlung für meine Überstunden gestellt.«

»Jetzt ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt für eine Beschwerde«, sagte Brad und warf ihr einen tadelnden Blick zu.

»Ich beklage mich nicht«, sagte Carolyn. »Wie du weißt, studiere ich nebenbei Jura. Gestern Abend bin ich über meinen Büchern am Küchentisch eingeschlafen. Und ich habe nicht genug Zeit für meine Kinder.« Nach einer kurzen Pause holte sie tief Luft und fuhr fort: »Du teilst mir weder Eigentumsdelikte noch Einbrüche zu, Brad. Wenn du willst, dass ich bei den schweren Fällen gute Arbeit leiste, kannst du von mir nicht erwarten, dass ich mich um einen Haufen auf Bewährung entlassener Straftäter oder Täter, die auf Kaution noch frei rumlaufen und auf ihren Prozess warten, kümmere. Vor allem nicht, wenn es sich um einen derart heiklen Fall wie diesen handelt. Du bist zwar mein Vorgesetzter, aber solltest du deine Entscheidung trotzdem nicht noch einmal überdenken?«

»Du bist meine Top-Ermittlerin«, entgegnete er, kramte in einer Schreibtischschublade herum und nahm ein Fläschchen mit Aspirin heraus. »Trink während der Woche abends nie Tequila«, sagte er, schluckte die Tabletten und spülte mit Kaffee nach. »Wofür ein anderer Beamter Monate brauchen würde, das kriegst du in ein paar Tagen hin. Manchmal glaube ich, du kennst die Gesetze besser als die Hälfte unserer Richter. Wenn du eine fünfzigjährige Haftstrafe empfiehlst, ist das ein Deal. Wenn du dem Gericht vorschlägst, der Angeklagte solle aus dem Saal geführt und erschossen werden, gibt es nicht wenige Richter, die sich eine Schrotflinte kaufen würden.«

»Das ist doch Quatsch«, sagte Carolyn und errötete vor Verlegenheit. »Ich empfehle immer ein Strafmaß, das begründet und angemessen ist. Deshalb richtet sich das Gericht danach. Und die Richter kennen mich und wissen, dass ich meine Arbeit ernst nehme.«

»Nein«, widersprach Brad, »das ist kein Quatsch, das ist Macht.«

»Selbst wenn ich Macht im Gericht hätte – davon kann ich meine Rechnungen nicht bezahlen. Warum, glaubst du wohl, strenge ich mich so an und studiere Jura?«

»Damit du dir deine Überstunden bezahlen lassen kannst? Willst du zur Märtyrerin werden?«

»Du weißt genau, was Sache ist, Brad«, konterte Carolyn, erstaunt über seine Bemerkung. »Bei den gegenwärtigen Budgetkürzungen würde das zur Entlassung von Mitarbeitern führen. Dann müssten wir noch mehr als bisher arbeiten.«

»Zugegeben, ich teile dir mehr schwierige Fälle zu als deinen Kollegen«, sagte Brad und stützte seinen Kopf in die Hand. Da er sich nicht die Zeit für einen Haarschnitt genommen hatte, fiel ihm sein blondes Haar in die Stirn und verlieh seinem Gesicht einen trügerisch unschuldigen Ausdruck. »Sicher, das ist nicht fair. Aber mir bleibt keine andere Wahl. Du bist eine der wenigen, die die Komplexität eines Strafmaßes versteht. Gäbe ich einen Fall mit zwanzig Anklagepunkten, mehreren Opfern und dutzenden von strafverschärfenden Umständen einem deiner Kollegen, bliebe die meiste Arbeit an mir hängen.«

Da täglich neue Fälle auf Carolyns Schreibtisch landeten, konnte sie ihre Termine nur einhalten, wenn sie jede Akte sofort durcharbeitete. Beamte, die ihre Arbeit verschleppten, lieferten entweder schlampige Berichte ab oder mussten Nächte durcharbeiten, um rechtzeitig fertig zu werden. Da Carolyn noch andere Verpflichtungen hatte, konnte sie sich auf ihrem Schreibtisch gestapelte Akten nicht leisten.

Einen auf Bewährung entlassenen Straftäter zu betreuen, war bei weitem nicht so kompliziert wie eine Vorermittlung. Vorausgesetzt, der auf Bewährung freie Täter verstieß nicht geben die Auflagen, genügte eine monatliche Überprüfung. Andererseits barg die Überwachung eines Delinquenten auch Gefahren. Schon nach einem flüchtigen Blick in diese Akte erkannte Carolyn sofort, dass Brad sie in eine heikle Lage gebracht hatte. Und genau das konnte sie im Augenblick überhaupt nicht gebrauchen.

»Bei diesem Metroix-Fall werden alle Beteiligten jeden meiner Schritte mit Argusaugen überwachen«, sagte sie.

»Das siehst du vollkommen richtig«, meinte Brad Preston ironisch und klopfte mit einem Kugelschreiber gegen seine Zähne. »Metroix hat einen Jungen getötet, dessen Vater ein hohes Tier bei der Polizei ist. Sollte er in einen Abwasserkanal fallen, nageln fünfzig Cops den Deckel zu.«

»Ich bin mir darüber im Klaren, dass es sich bei dem Opfer um Charles Harrisons Sohn handelt. Ich bin sogar mit Liam Armstrong ausgegangen, als wir noch auf der High School waren.«

»Wer ist denn Liam Armstrong?«

»Einer der beiden anderen Jungs, die überlebt haben«, erklärte Carolyn und erinnerte sich an den maßlos von sich eingenommenen Football-Spieler, der sie bei ihrer zweiten Verabredung zum Sex hatte zwingen wollen.

»Ventura ist wirklich ein Kaff«, sagte Brad und trank noch einen Schluck Kaffee. »Ich bin froh, dass ich hier nicht aufgewachsen bin. Wie kommst du mit deinen anderen Fällen voran?«

Ventura mag eine Kleinstadt sein, aber sie ist einzigartig, dachte Carolyn. Die im Jahr 1782 um die Mission San Bonaventura entstandene Siedlung hatte sich ihren ursprünglich spanischen Charakter mit seinen Adobe-Gebäuden und Häusern mit Bootsstegen größtenteils bewahrt. Und von den Anwesen an den Berghängen bot sich ein herrlicher Blick aufs Meer. Eine Fahrstunde nördlich von Santa Barbara gelegen – der Stadt der Millionäre, Polofelder und unberührten Strände – gehörten die Bürger von Ventura eher der Mittelklasse an und waren hart arbeitende Leute.

»Also«, unterbrach Brad da ungeduldig ihre Gedanken, »ich höre. Bekomme ich nun deinen Bericht, oder muss ich ihn aus dir rausprügeln?«

Carolyn war kurz versucht, Brad anzulügen und ihm zu sagen, sollte er ihr den Metroix-Fall übertragen, würde dasselbe passieren wie mit Downly. Im Amt gab es andere, jedoch auch mit Arbeit überlastete kompetente Beamte. Aber jemand musste den Fall übernehmen und es würde Brad ein Gefühl der Sicherheit geben, wenn er sie als Bewährungshelferin einsetzte – trotz des schrecklichen Verbrechens, das Downly begangen hatte. Eigentlich hatte sie erwartet, dass sich Brad von ihr distanzierte, aber so funktionierte dieser Mann nicht. Er lebte gern am Abgrund. Immer auf Nummer sicher zu gehen, hatte er ihr einmal gestanden, sei schrecklich langweilig.

»Gestern habe ich den Abschlussbericht zur Dearborn-Schießerei diktiert«, antwortete Carolyn. »Wie besprochen, habe ich strafverschärfende Maßnahmen empfohlen. Der Perkins-Raub ist schon bei den Akten. Und was die Sandoval-Schießerei betrifft, so habe ich die Fakten zusammengefasst. Letzte Woche habe ich im Gefängnis mit dem Angeklagten gesprochen. Heute Nachmittag besuche ich Lois Mason, das Opfer. Da Sandoval zwei Vorstrafen wegen bewaffneten Raubüberfalls hat, wird der Staatsanwalt in drei Punkten Anklage erheben.«

»Großartig«, sagte Preston und zog einen Mundwinkel hoch. »Das bedeutet, es gibt ein Arschloch weniger auf der Straße. Wie konnte Sandoval nur eine alte Lady niederschießen, der er die Handtasche stehlen wollte?«

»Sie hat sich gewehrt«, erinnerte Carolyn ihn. »Das war’s dann, bis auf ein paar weitere unbedeutende Sachen.« Effizient zu sein hatte seine Nachteile. Ihr wurde doppelt so viel Arbeit aufgebürdet wie den meisten ihrer Kollegen. »Du kannst mir also auf den Schreibtisch knallen, was immer reinkommt, Brad. Aber das wirst du sowieso tun.«

»Mir bleibt keine andere Wahl«, sagte er, sichtlich erleichtert, dass es auch ein paar gute Nachrichten gab. Er hatte zwölf neue Fälle zu verteilen und keinen verfügbaren Beamten. Bei mindestens vier davon würde er Carolyn Sullivans Namen auf den Aktendeckel schreiben und für die restlichen acht musste er noch Bearbeiter suchen.

»Halt mich im Fall Downly auf dem Laufenden«, sagte sie und stand auf.

»Alles wird gut, Baby«, sagte Brad aufmunternd und blätterte einen Stapel Telefonnotizen von letzter Woche durch. Dann hielt er inne und blickte auf. »In der Akte steht, dass Metroix versucht hat, ins Gefängniskrankenhaus verlegt zu werden, weil er angeblich unter paranoider Schizophrenie leidet. Jeder Verrückte, der mir bisher über den Weg gelaufen ist, behauptet aber, er sei geistig gesund. Ein Mann, der so lange gesessen hat, ist gefährlich. Pass auf dich auf.« Dann fügte er hinzu: »Und trag endlich deine verdammte Waffe.«

»Meine Waffe werde ich erst tragen, wenn du aufhörst, mich Baby und Schätzchen zu nennen«, fauchte Carolyn ihn an. »Du bist jetzt mein Vorgesetzter und was zwischen uns war, ist längst vorbei.«

»Ja, ja. Schon gut«, sagte er und legte eine Hand auf seinen Nacken. »Wir schlafen zwar nicht mehr miteinander, aber ich mag dich trotzdem. Sex mit Untergebenen ist sowieso verboten.«

»Wie ich höre, hast du es jetzt auf Amy McFarland abgesehen«, sagte Carolyn. »Gelten für sie nicht dieselben Regeln wie für mich? Pass bloß auf, dass du dir keine Anzeige wegen sexueller Belästigung einhandelst.«

Carolyn hatte seit ihrer Einstellung als Justizbeamtin mit Brad Preston zusammengearbeitet und sich anfangs gewundert, warum er nie geheiratet hatte. Erst nachdem sie mit ihm eine Affäre gehabt hatte, war ihr aufgefallen, dass sein Verhalten von einem bestimmten Muster geprägt war. Er liebte den Kick der Jagd. War eine Frau erst einmal in seinem Bett gelandet, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er das Interesse an ihr verlor. Amy McFarland arbeitete erst sei drei Monaten im Amt. Und Carolyn traute ihr nicht über den Weg.

»Ich bin nicht hinter Amy McFarland her. Wir albern nur manchmal ein bisschen rum. Was ist denn mit dir los, Carolyn? Wir hatten doch mal viel Spaß zusammen. Bist du etwa neidisch, weil ich befördert worden bin? Schließlich arbeite ich fünf Jahre länger als du in diesem Beruf und sollte eigentlich Amtsleiter sein. Stattdessen bin ich nicht mehr als ein etwas höher gestellter Beamter. Wäre es nicht wegen des Gehalts, würde ich sofort mit dir tauschen.«

»Das ist kompletter Unsinn, Brad«, sagte Carolyn herausfordernd. »Du besitzt so viele Immobilien, dass du auf der Stelle kündigen und besser als jeder normale Bürger davon leben könntest. Dein Vater war ein reicher Mann.«

»Diese spitze Bemerkung hättest du dir sparen können«, sagte Brad. »Aber wir könnten trotzdem zusammen Mittag essen, oder? Komm doch gegen zwölf bei mir vorbei.« Als Carolyn gehen wollte, hob er die Hand und fügte hinzu: »Ach, übrigens, ich habe Metroix für zwei Uhr hierher bestellt. Wir müssen uns sofort ein Bild von dem Kerl machen. Harrison ist zwar schon seit Jahren Vize-Polizeipräsident in Los Angeles, aber immer noch ein knallharter Scheißkerl. Wenn wir diesen Fall vermasseln, sind unsere beiden Karrieren im Eimer.«

»Vergiss das Mittagessen«, sagte Carolyn und warf ihm von der Tür her einen Blick über die Schulter zu. »Ich habe keine Zeit, weil mein Chef ein Irrer ist.«

»Du hast Mumm. Und das gefällt mir an Frauen«, sagte Brad und zielte mit dem Kugelschreiber auf sie. »Vielleicht sollte ich sofort kündigen, denn dann könnten wir dort weitermachen, wo wir aufgehört haben.«

»Nie im Leben«, sagte Carolyn und schloss die Tür hinter sich.

Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten

Подняться наверх