Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 15

Kapitel 9

Оглавление

Vierzig Minuten später kam Neil am Steuer eines dunkelroten Porsche in Carolyns Zufahrt gerast.

Die Polizei war bereits wieder fort und sie saß wartend auf der Veranda. Mit Mitte dreißig ähnelte ihr Bruder ihrem Vater – große, ausdrucksvolle braune Augen und ein schmales, scharf geschnittenes Gesicht. Seine jungenhafte Art weckte in Frauen den Wunsch, ihn entweder zu bemuttern oder ins Bett zu zerren. Neil war so schlank, dass er aussah, als hätte er seit Monaten keine anständige Mahlzeit mehr zu sich genommen. Carolyn wünschte sich, sie hätte seinen Stoffwechsel. Er konnte essen, was er wollte, und nahm kein Gramm zu.

»Warum hast du so lange gebraucht?«, fragte sie und starrte ihn wütend an.

»Ach, ich hatte noch etwas zu erledigen. Wie üblich«, sagte Neil grinsend. »Ich musste wegen gestern Abend noch was nachholen.«

»Und das Übliche heißt wohl Melody, oder?«, meinte Carolyn. »Du warst noch ein Kind, da hat Mutter schon gesagt, dass du Tag und Nacht verwechselst. Du hast nachts geschrien und den ganzen Tag geschlafen. In dieser Hinsicht hast du dich kein bisschen verändert – nur mit einem Unterschied: Jetzt malst du nachts und schläfst tagsüber mit Frauen. Ich wünschte, ich könnte so leben wie du. Denn mein Leben ist eine einzige Katastrophe.«

»Komm mit ins Haus«, sagte Neil. »Wie war das mit dieser Explosion?« Er warf einen Blick über die Schulter und fügte hinzu: »Wo ist dein Auto? Ich dachte, es sei kaputt.«

»Die Polizei hat es mitgenommen«, antwortete Carolyn. »Das habe ich dir doch am Telefon erklärt. Hast du mir denn nicht zugehört?«

»Nicht wirklich«, gab Neil zu und hielt ihr die Haustür auf. »Ich bin erst heute früh um sieben ins Bett gekommen. Als du mich gestern angerufen und gebeten hast, mit John und Rebecca auswärts zu essen, habe ich alles stehen und liegen lassen. Melody und ich waren mit ein paar Leuten zum Dinner verabredet. Stattdessen hat sie sich eine Pizza kommen lassen und allein ferngesehen. Dafür hatte sie etwas gut bei mir und deshalb habe ich so lange gebraucht ...«

»Erspar mir die Einzelheiten«, sagte Carolyn und stellte sich vor, wie Brad und Neil zusammensaßen und über ihre Eroberungen redeten. Wie konnte eine Frau mit dem Gesicht und Körper eines Engels auch noch Porsche fahren? Das war nicht fair.

Als die beiden im Haus waren, legte Neil seiner Schwester den Arm um die Schultern. Dann tätschelte er ihren Rücken, gähnte und sagte: »Es kommt schon alles wieder in Ordnung. Machst du mir einen Kaffee?«

Carolyn erinnerte ihn daran, dass sie die Kaffeekanne zerbrochen hatte, und brühte ihm eine Tasse Pulverkaffee auf. Er trank ein paar Schlucke und goss den Rest in die Spüle.

»Komm«, sagte er, »wir fahren irgendwohin und frühstücken.«

»Dafür habe ich keine Zeit«, entgegnete Carolyn und erzählte ihm, was während der vergangenen vierundzwanzig Stunden alles passiert war. »Ich muss ein Auto mieten, Neil. Aber ich habe kein Geld und keine Papiere, da meine Handtasche in dem Motelzimmer verbrannt ist. Du kannst mir mit deiner Kreditkarte zwar ein Auto mieten, aber ich muss meinen Führerschein vorlegen, damit du mich als Fahrerin eintragen lassen kannst.«

»Wo musst du denn hin?«, fragte er. »Ich fahre dich. Allerdings muss ich bis drei meine Bilder in der Galerie in L. A. abliefern. Die sind schon im Van, sonst wäre ich damit gekommen. Ich wollte nicht riskieren, dass meine Arbeiten bei einem eventuellen Unfall Schaden nehmen.«

Carolyn musste daran denken, wie verzweifelt Daniel gewesen war, als er die Pläne für seine Erfindungen in dem Motelzimmer hatte zurücklassen müssen. Sie war wütend, weil die Polizei ihn ohne ihr Einverständnis wegen angeblichen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen eingesperrt hatte.

»Mein Nachbar hat mir freundlicherweise seinen Zweitwagen angeboten. Darauf werde ich wohl zurückkommen müssen. Im Gefängnis könnte es etwas länger dauern und jetzt ist es schon nach eins.«

»Will dir etwa jemand was antun?«, fragte Neil besorgt. »Bist du okay?«

»Ich hätte dich nicht schon wieder mit meinen Problemen belästigen dürfen. Ich weiß doch, wie beschäftigt du im Augenblick bist. Aber es kommt schon wieder alles in Ordnung.«

»Moment mal!«, sagte Neil und hob die Hand. »Ich gebe ja zu, dass ich kaum Zeit für dich hatte, aber wenn jemand dir Schwierigkeiten macht, dann sag mir, wo ich den Kerl finde, damit ich ihn mir vorknöpfen kann. Niemand tut meiner Schwester etwas an.«

Er nahm Carolyn in die Arme und drückte sie fest an sich.

Sie bohrte ihm den Finger in die Rippen und sagte: »Ich spüre jeden einzelnen Knochen. Isst du auch ordentlich?«

»Wie ein Vielfraß«, sagte er. »Kümmere dich nicht um mich. Sag mir lieber, wer dir Ärger macht. Melody kann die Bilder nach L. A. bringen. Wir nehmen uns diesen Mistkerl vor.«

Carolyn stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrem Bruder einen Kuss auf die Stirn. Sie waren immer füreinander da gewesen. Dann nahm sie seine Hand und streichelte jeden einzelnen Finger. Er hatte große, fast grobe Hände. Vor Jahren hatte sie einen Kunstband mit den Bildern und Skulpturen Michelangelos gekauft und besonders die Fähigkeit des Künstlers bewundert, die derbe Kraft eines körperlich arbeitenden Menschen darzustellen. Damals hatte sie ihrem Bruder gesagt, seine Hände glichen denen Michelangelos. Da ihre Mutter diese Bemerkung irrtümlich auf Neils Malerei bezogen hatte, verkündete sie seitdem überall, ihr Sohn sei der zeitgenössische Michelangelo.

»Mit diesen Händen wirst du niemanden verprügeln«, sagte Carolyn und ließ seine Hand los. »Vergiss nicht, dass ich eine Waffe habe. Sollte mich jemand bedrohen, erschieße ich ihn einfach.«

»Es hat mir Spaß gemacht, gestern Abend mit deinen Kindern zusammen zu sein«, sagte Neil und fügte mit jungenhaftem Lächeln hinzu: »Aber du schuldest mir trotzdem noch einen Kuchen.«

»Muss ich ihn unbedingt selbst backen?«, entgegnete Carolyn lachend. »Ich kaufe dir lieber einen, wenn du willst.«

»He«, entgegnete Neil zwinkernd, »abgemacht ist abgemacht.«

Am Mittwochnachmittag um Viertel nach zwei stellte Carolyn Paul Leightons zehn Jahre altes BMW-Cabrio auf dem Parkplatz vor dem Regierungsgebäude ab. Auf dem Weg zum Gefängnis nahm sie ihren Dienstausweis aus der Jeanstasche. Glücklicherweise steckte dieser Ausweis immer in ihrem Aktenkoffer, sonst wäre er zusammen mit ihren anderen Papieren verbrannt. In der Bank hatte man ihr schon nach einer Viertelstunde eine neue Karte ausgehändigt, aber es würde wohl länger dauern, bis sie einen neuen Führerschein und eine neue MasterCard bekam.

»Ich möchte Daniel Metroix sprechen«, sagte sie zu dem Vollzugsbeamten hinter der Glasscheibe und hielt ihren Ausweis hoch.

»Er ist auf der Krankenstation, Officer Sullivan«, sagte Chris McDougal. Carolyn schätzte den schwarzen Deputy auf Ende zwanzig.

»Warum wurde er dort eingeliefert?«, fragte sie. »Wegen seiner Verletzungen von gestern Abend?«

»Moment mal«, sagte der Deputy und klickte zu einer anderen Akte im Computer. »Hier steht, er sei vom Good Samaritan Hospital hierher verlegt worden. In unserem Bericht steht nichts von Verletzungen. Heute Morgen ist er durchgedreht und hat randaliert.«

»O nein!«, rief Carolyn. Wahrscheinlich war Daniel ausgeflippt, als er sich im Gefängnis wiederfand. Vielleicht war es auch Zeit für seine monatliche Injektion. Falls er sie nicht erhalten hatte, konnte er einen psychotischen Schub erlitten haben. Sie versuchte sich zu erinnern, was Daniel ihr über das neue Medikament erzählt hatte. Ihr fiel nur ein, dass es gespritzt wurde. Jedes intravenös injizierte Psychopharmakon kann bei abruptem Absetzen zu ernsten Störungen beim Patienten führen.

»Ich muss unbedingt zu ihm«, sagte sie. »Ich bin seine Bewährungshelferin und habe das Recht, mit ihm zu sprechen, auch wenn er auf der Krankenstation liegt.«

»Hören Sie«, sagte McDougal, »als dieser Kerl zu toben anfing, mussten ihn fünf unserer Leute überwältigen und beruhigen.«

»Holen Sie bitte Ihren Vorgesetzten«, sagte Carolyn. »Und dann will ich seine Einlieferungsakte sehen.«

Hinter der Trennwand aus Glas hielten sich noch andere Beamte auf. McDougal verschwand, kam kurz darauf mit einem Schnellhefter zurück und knallte ihn in die Durchreiche. Dann sagte er ins Mikrofon: »Sergeant Cavendish kommt gleich runter und spricht mit Ihnen.«

»Ich warte«, sagte Carolyn, öffnete den Schnellhefter und blätterte die Akte flüchtig durch. Dann nahm sie auf einem der Plastikstühle für Besucher Platz, öffnete ihren Aktenkoffer und nahm ein Entlassungsformular heraus.

Ihre Annahme, dass der Staatsanwalt die Sache nicht weiter verfolgen und keine Anklage erheben würde, hatte sich bestätigt.

Ein Officer kann eine Person zwar auf Verdacht festnehmen, muss dann jedoch formal Anzeige erstatten. Und der Festgenommene muss binnen vierundzwanzig Stunden einem Untersuchungsrichter vorgeführt werden.

Carolyn war noch damit beschäftigt, das Formular auszufüllen, als ein Koloss mit kantigem Kinn vor sie hintrat und fragte: »Sind Sie Officer Sullivan?«

»Ja«, entgegnete Carolyn und stand auf. »Hier ist das Entlassungsformular für Daniel Metroix. Übergeben Sie mir den Inhaftierten bitte so schnell wie möglich.«

»Wollen Sie ihn denn nicht wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen verklagen?«, fragte Sergeant Cavendish erstaunt.

»Nein«, entgegnete Carolyn und drückte ihren Aktenkoffer und den Schnellhefter an ihre Brust. Cavendish war bestimmt über einsneunzig groß, einhundert Kilo schwer – ein Muskelpaket, das Carolyn an einen Neandertaler erinnerte. Sie spürte, dass er seine Mitmenschen – vor allem kleine und weibliche Beamte wie sie – gern einschüchterte.

»Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen Ärger mit ihm hatten«, fuhr sie fort. »Daniel Metroix ist schizophren und braucht sein Medikament.«

»Hören Sie, Lady«, sagte Cavendish, »bei der Hälfte der Leute hier drin tickt’s nicht richtig im Kopf. Ihr Junge hat einen meiner Wärter angegriffen. Wir können selbst Anzeige gegen ihn erstatten.«

»Das wäre gar nicht klug, Sergeant«, sagte Carolyn mit gestrafften Schultern.

»Ach ja?«, sagte der Sergeant und verzog spöttisch einen Mundwinkel. »Wie das?«

»Weil er ohne rechtliche Grundlage festgenommen wurde«, erklärte Carolyn in der Hoffnung, den Sergeant so weit bluffen zu können, dass er Daniel entließ. »Ich war gestern Abend während der Explosion in dem Motel bei ihm. Ich bin seine Bewährungshelferin und niemand kann ihn wegen eines Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen anklagen – außer mir oder meinem Vorgesetzten. Und ich habe Detective Hank Sawyer sowie Officer White dahingehend informiert, dass ich keine Anklage erheben werde. Außerdem hat laut Vorschrift jeder Insasse das Recht auf eine entsprechende medizinische Betreuung. Und Daniel Metroix hätte entweder heute Morgen oder gestern Abend eine zur Stabilisierung seines Leidens notwendige Injektion bekommen müssen.«

»Hat ein Arzt diese Injektion verordnet, als der Gefangene vom Hospital hierher verlegt wurde?«, fragte Cavendish, nicht mehr so aggressiv wie zuvor. »Denn ohne einen offiziellen Vermerk in der Akte können wir das Medikament nicht verabreichen.«

»Entschuldigen Sie mich, bitte«, sagte Carolyn und eilte in Richtung Damentoilette.

In einer der Kabinen setzte sie sich auf den Klodeckel und klappte den Schnellhefter auf. In dem Entlassungsformular des Krankenhauses war in der Spalte »Nachbehandlung« nichts vermerkt. Wahrscheinlich war der Notarzt nicht mehr dazu gekommen, weil Hank Sawyer Daniel Metroix vorher festgenommen hatte.

Carolyn schrieb, dem Patienten sei um sechs Uhr heute früh eine Injektion zu geben, und da sie sich an das Medikament nicht erinnern konnte, notierte sie dahinter nur Psychopharmakon ad lib. Auf dem Weg nach draußen warf sie einen Blick in den Spiegel.

Du siehst nicht nur wie eine Stadtstreicherin aus, dachte sie, sondern jetzt wirst du auch noch kriminell.

Seit Daniel Metroix in ihr Leben gekommen war, stand ihre Welt auf dem Kopf. Eben hatte sie ein offizielles Dokument gefälscht und konnte nur hoffen, dass dieser Mann kein Täter, sondern ein Opfer war. Wenn nicht, besaß sie weniger Verstand als Cavendish.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie noch einmal zu dem Sergeant, als sie zurückgegangen war, und tat, als sei es ihr peinlich. »Aber wenn die Natur ruft ...«

Als er nach der Akte griff, wich sie schnell zurück. Sie wollte nicht, dass ihre Fälschung aufflog, ehe Sergeant Cavendish Metroix’ Entlassung angeordnet hatte. Wenn die Sache nicht so lief, wie sie es geplant hatte, musste sie noch einmal einen dringenden Gang zur Toilette vortäuschen.

»Daniel Metroix muss regelmäßig ein Psychopharmakon nehmen«, erklärte Carolyn. »Und bei Entzug kann es bei ihm zu gewalttätigen Reaktionen kommen. Sie können in diesem Fall vorgehen, wie es Ihnen richtig erscheint, Sergeant. Aber mit Ihrer Anklage wegen tätlichen Angriffs werden Sie nicht durchkommen, weil die Anordnung des Arztes nicht befolgt wurde. Es könnte sogar zu einer Anklage gegen die Gefängnisverwaltung kommen und ...«

»Das reicht«, sagte Sergeant Cavendish und seufzte. »Ich entlasse diesen Mann. Aber nur unter einer Bedingung.«

»Okay«, entgegnete Carolyn, »und die wäre?«

»Sie nehmen ihn in Gewahrsam«, sagte er. »Kommen Sie damit zurecht? Einer kleinen Lady wie Ihnen könnte er mächtigen Ärger machen.«

Und du bist ein großer blöder Hornochse, hätte Carolyn am liebsten gesagt, antwortete jedoch: »Das lassen Sie nur meine Sorge sein.«

»Geben Sie uns dreißig Minuten, dann gehört das Problem Ihnen.«

Als sich Sergeant Cavendish umdrehte und zur Sicherheitstür ging, hatte Carolyn die absurde Idee und fragte sich, wie ein Bestatter einen Mann von dieser Größe in einen Sarg legen wollte. Seine Muskeln waren so überentwickelt, dass es ihr unmöglich erschien, solche Arme und Beine flach auszustrecken, von seiner Größe ganz zu schweigen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. John und Rebecca würden in einer knappen Stunde von der Schule nach Hause kommen und sie war in einem derart morbiden Zustand, dass sie über Bestatter nachdachte. Und noch schlimmer: Was sollte sie mit Daniel anfangen? Er hatte sich gegen fünf Wärter gewehrt. Wenn er wegen der Ereignisse der vergangenen Nacht psychotisch geworden war, könnte er gefährlich sein. Als sie an ihre Pistole dachte, fiel ihr ein, dass auch die zusammen mit ihrer Handtasche und dem Dienst-Handy bei der Explosion im Motel verbrannt war.

Carolyn nahm ihr privates Handy aus ihrem Aktenkoffer, rief zu Hause an und hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie Rebecca versprochen hatte, zu Hause zu sein, wenn ihre Tochter von der Schule heimkam. John hatte versprochen, das Abendessen zu kochen. Und wenn ihr nicht schnell etwas einfiel, würden sie heute Abend einen Gast haben.

Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten

Подняться наверх