Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 18

Kapitel 12

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Carolyn hatte mit Engelszungen geredet, damit ihr Arline Shoeffels Assistent, Raul Morales, einen Termin während der Mittagspause des Gerichts gab.

Mrs. Shoeffel gehörte nicht zu jener Spezies von Richtern, die sich von kriecherischen Anwälten mittags in die teuersten Restaurants Venturas einladen ließ. Sie war die oberste Richterin des County geworden, weil sie fähig und in moralischer Hinsicht untadelig war. Eine ihrer Hauptaufgaben bestand außerdem darin, die unzähligen Fälle termingerecht einzuteilen und abzuarbeiten. Eine Aufgabe, die fast so unmöglich war, als wollte jemand einen führerlosen Zug aufhalten.

Zum Glück hatte Carolyn die Richterin vor ein paar Tagen persönlich kennen gelernt, als sie abends auf dem Parkplatz deren Auto wieder flott machte. Denn vom Privatleben der Richterin war so gut wie nichts bekannt. Die Öffentlichkeit wusste nur, dass sie nie geheiratet hatte, nie zu Wohltätigkeitsveranstaltungen ging und ihren Lunch jeden Tag in einer Papiertüte mitbrachte. In vieler Hinsicht war sie wie ein Phantom. Nur die unter ihr arbeitenden Richter hatten regelmäßig Kontakt zu ihr.

Vor ihrem Termin um dreizehn Uhr dreißig fuhr Carolyn zu einem Geschäft, um Handys für Rebecca und John zu kaufen. Sie freute sich, als der Verkäufer ihr sagte, dass die Telefone nichts kosteten, doch ihre Freude wurde gedämpft, weil sie dafür einen Vertrag über ein halbes Jahr unterschreiben musste. Trotzdem nahm sie die Handys und legte sie in den Kofferraum von Professor Leightons BMW. Auf ihrer Fahrt zum Gericht hätte sie aus Angst, den Termin zu versäumen, beinahe ein Rotlicht überfahren.

»Komme ich zu spät?«, keuchte sie, als sie ins Vorzimmer stürmte.

Raul Morales, ein New Yorker, wandte den Blick von seinem Bildschirm ab und musterte sie. Er war ein attraktiver Mann, Anfang dreißig, der wahrscheinlich ein besserer Jurist als die meisten Anwälte war. Er trug ein blau gestreiftes gestärktes Hemd, eine schwarze Weste und dunkle Hosen, dazu blitzblank polierte Schuhe.

»Ja«, sagte er und sah Carolyn missbilligend an. »Waren Sie gerade joggen?«, fragte er. »Vielleicht sollten Sie sich wenigstens die Haare kämmen.«

Dann gab er ihr ein Papiertaschentuch, während sie tat wie ihr geraten. »Außerdem transpirieren Sie. Es muss warm draußen sein. Das kommt wohl von dem Santa-Ana-Wind, wie? Letzte Woche habe ich noch ein Jackett getragen. Aber heute früh war es wie im Sommer.«

»Sie leben nicht mehr in New York. In Kalifornien haben wir jede Woche eine andere Jahreszeit.«

Carolyn wischte sich den Schweiß vom Gesicht, während er die Richterin über die Gegensprechanlage anrief.

»Ich habe Ihnen nur fünf Minuten versprochen«, sagte er und deutete auf die geschlossene Tür. »Sie hat in einer Viertelstunde einen anderen Termin und noch nicht einmal gegesssen. Also rate ich Ihnen, möglichst schnell zu reden.«

Erst als Carolyn direkt vor Arline Shoeffels Schreibtisch stand, hob die Richterin den Kopf.

»Setzen Sie sich«, sagte sie und nahm ihre Brille ab. »Ich habe mir Sorgen gemacht, weil Sie gestern Abend nicht in der Vorlesung waren. Ich habe von dieser Explosion gehört. Wie geht es Ihnen?«

Carolyn setzte sich nicht, noch beantwortete sie die Frage. Stattdessen sagte sie: »Ich bin in einer prekären Lage. Und wenn ich nicht um das Leben eines meiner Schützlinge fürchten müsste, wäre ich nicht hier.«

Dann fasste sie kurz und präzise den Fall Metroix samt jüngster Entwicklung zusammen.

»Was Sie mir berichtet haben, hört sich ganz so an, als sollte man der Sache auf den Grund gehen«, sagte die Richterin. »Stellen Sie alle bekannten Fakten zusammen und schicken Sie mir diesen Bericht. Nach der Vorlesung nächste Woche gehen wir eine Kleinigkeit essen. Dann können wir uns über Metroix unterhalten.«

»So lange kann ich nicht warten«, sagte Carolyn und stützte ihre Hände auf den Schreibtischrand. Eindringlich fuhr sie fort: »Ich komme erst wieder zum Unterricht, wenn der oder die Täter dingfest gemacht wurden, denn ich kann meine Kinder nicht allein im Haus lassen. Diese Leute wissen, wo ich wohne. Sie sind schon bei mir gewesen.«

»Ich verstehe, was Sie befürchten«, sagte die Richterin nachdenklich. »Wäre es nicht besser, Mr. Metroix würde in Schutzhaft genommen?«

»Nein«, antwortete Carolyn. »Er wurde bereits im Gefängnis in eine Schlägerei verwickelt. Ohne dass er etwas dazu konnte, wie er mir sagte. Es geht auch nicht allein darum, dass ich Metroix für unschuldig halte. Er ist außerdem ein begabter Erfinder. Einige seiner Projekte könnten so wertvoll sein, dass ein Gefängnisbeamter davon profitiert hat.«

»Warum halten Sie Mr. Metroix für einen Erfinder?«, fragte Arline Shoeffel. »Sie sagten doch, er sei geisteskrank.«

Nicht das schon wieder!, dachte Carolyn. Denselben Vorurteilen waren Menschen mit dem Parkinson-Syndrom ausgesetzt.

»Haben Sie schon mal von John Forbes Nash gehört?«, fragte Carolyn deshalb.

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, antwortete die Richterin und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Was hat dieser Mann mit Mr. Metroix zu tun?«

»Nash war Mathematiker und schizophren und erhielt 1994 für seine Spiel- und Entscheidungsstheorie den Nobelpreis für Wirtschaft.« Sie machte eine Pause, um die Bedeutung ihrer Worte zu unterstreichen. »Metroix arbeitet an einer Erfindung, die der nationalen Sicherheit dienen kann. Mir mangelt es aber an der nötigen Kompetenz, das beurteilen zu können. Das kann nur ein Wissenschaftler. Mein Vater unterrichtete Mathematik und meine Mutter ist Diplomchemikerin, deshalb bin ich mir sicher, dass es sich bei Metroix’ Erfindungen um etwas Bedeutendes handelt.«

»Ein wirklich komplexer Fall«, sagte Arline Shoeffel und ließ ihren Blick über die Decke wandern. »Und er scheint mir nach Ihrer Schilderung tatsächlich der näheren Betrachtung wert.«

Sie drehte sich um und griff nach dem kaliforischen Strafgesetzbuch, das hinter ihr im Bücherregal stand.

Raul steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Richter Ashcroft hat einen Termin in einer Viertelstunde.«

»Ja, gut.«

»Aber Sie müssen erst noch essen.«

»Sie sind nicht meine Mutter, Raul!«, wies Arline ihn zurecht und warf ihm einen strafenden Blick über ihre Brillengläser zu. »Und stören Sie mich nicht noch einmal. Wenn ich länger brauche, muss Ashcroft eben warten.«

»Soll ich gehen?«, fragte Carolyn, weil Raul sie so böse ansah, als mache er sie für den Rüffel seiner Chefin verantwortlich.

»Nein«, antwortete die Richterin. »Die tägliche Arbeit als oberste Richterin ist nicht annähernd so aufregend, wie man meinen könnte. Oft ist sie sogar langweilig. Was nun das Gefängnis betrifft«, fuhr sie fort, »so steht hier in Paragraf 2812, dass es ungesetzlich ist, wenn ein Gefängnis irgendeinen von einem Häftling hergestellten Gegenstand verkauft, es sei denn, dieser Verkauf ist legal.« Sie blätterte um. »Weiterhin heißt es in Paragraf 2717, Absatz 1, dass der Direktor einer Haftanstalt mit einer Firma außerhalb des Gefängnisses ein Joint Venture eingehen kann.«

»Genau davon sprach Stephen Lackner«, sagte Carolyn. »Doch Metroix erzählte mir, dass er dem Direktor nicht nur die Rechte an seinen Erfindungen schriftlich abgetreten hat, sondern er betonte ausdrücklich seine Arbeit an dem Exoskelett.«

»Sollte dieser Gefängnisdirektor in irgendeiner Weise persönlich von Mr. Metroix’ Erfindungen profitiert oder sogar nur versucht haben, sie zu verkaufen, so ist das strafbar. Ein Verstoß gegen Artikel 2708.«

Arline sah Carolyn an und lächelte. »Sie haben da wohl in ein Wespennest gestochen. Wenn das stimmt, was Mr. Metroix Ihnen erzählt hat, können wir diesen Mann vor Gericht stellen.«

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Carolyn aufgeregt.

Inzwischen studierte Arline einen anderen Paragrafen. »Würden Sie sagen, dass dieses von Mr. Metroix angeblich erfundene Videoüberwachungssystem zur Sicherheit des Gefängnisses beigetragen hat?«

»Unstreitbar.«

»Dann lesen Sie einmal den Paragrafen 2935, wenn Sie wieder in Ihrem Büro sind«, sagte die Richterin. »Allein deswegen hätte Mr. Metroix ein Jahr Strafe erlassen werden müssen. Ich sehe mir das Ganze noch einmal gründlich an, wenn ich die nötigen Unterlagen habe. Ich rufe Sie dann an, sobald ich entschieden habe, wie es weitergeht. Rufen Sie mich nicht an.«

»Danke, Arline«, sagte Carolyn überglücklich. Sie hatte das erhebende Gefühl, heute ihren ersten Fall als Anwältin vor Gericht vertreten zu haben. »Sie wissen gar nicht, was mir das bedeutet.«

»Guten Tag, Carolyn«, sagte die Richterin kühl und entließ sie.

Der Schnelle Eddie lag zusammengerollt auf der untersten Pritsche in seiner Zelle. Er fühlte sich schwach vor Hunger, denn er war sehr heikel, was das Essen betraf; und von dem Fraß im Knast bekam er immer Magenschmerzen. Jetzt hatte er seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Und der Besuch dieser Schlampe Sullivan bereitete ihm noch mehr Magenschmerzen.

In manchen Dingen hatte sie gelogen. Unverschämt gelogen. Als er die Kleine vergewaltigt hatte, hatte er einen Gummi benutzt. Er war doch nicht so blöde, sein Sperma als Beweis zu hinterlassen.

Aber Luisa hatte ihm zu schaffen gemacht, auch wenn sie so klein war. Sie hatte sich gesträubt und ihn gekratzt. Doch ihre Nägel waren so weich gewesen, dass man die Spuren kaum sehen konnte.

Sullivan hatte ihn einschüchtern wollen, dabei hatten sie keine Beweise außer der Zeugenaussage der Kleinen. Aber solche Aussagen konnte ein geschickter Anwalt leicht ins Wanken bringen. Dann fielen die Kids um.

Er hatte sie gar nicht erwürgen wollen, sondern mit einer Plastiktüte über dem Kopf ersticken. Denn wenn die Opfer noch um sich schlugen, konnte er sich nicht an ihnen vergehen. Und als er das kleine Mädchen aus dem Auto geworfen hatte, war er sicher gewesen, dass sie tot war.

Luisa Cortez war etwas ganz Besonderes gewesen und Eddie hatte deshalb so viel Anstand besessen, sie auf dem leeren Grundstück in der Nähe ihres Hauses zu deponieren, weil er wusste, dass sie dort gefunden werden würde. Hätte er gewusst, dass sie noch lebte, hätte er sie an irgendeinem gottverlassenen Ort begraben. Aber ihr Körper war schon ganz kalt und schlaff gewesen. Mit einem Waschlappen hatte er sie abgewaschen, um sicherzugehen, dass er keine Haare oder andere Indizien an ihr zurückließ. Und als er sein Ohr auf ihre Brust gelegt hatte, war es ihr Herzschlag gewesen, den er irrtümlich für seinen gehalten hatte.

Aber Luisa hätte sowieso ein beschissenes Leben gehabt.

Eine Welle sexueller Erregung überkam ihn. Ach, wie süß sie mit ihrem seidigen schwarzen Haar in dem hübschen Kleid ausgesehen hatte, als sie singend über den Bürgersteig hüpfte!

Er hörte eine tiefe Stimme seinen Namen rufen und dann schwang die elektronisch gesicherte Zellentür auf.

»Edward James Downly«, sagte ein groß gewachsener Wärter. »Beweg deinen Arsch! Du wirst auf Kaution entlassen.«

Eddie sprang auf. Träumte er? Denn der Richter hatte die Hinterlegung einer Kaution abgelehnt. Zudem musste ihn Sullivan noch wegen Nichteinhaltens der Bewährungsauflagen angeklagt haben.

»Kommst du jetzt, oder was?«, fragte der Wärter, Kaugummi kauend.

Eddie setzte sich kichernd in Bewegung und ging über endlose Gänge hinter dem Wärter her, bis sie den Entlassungstrakt erreicht hatten. Er wartete hinter einer auf den Fußboden gemalten Linie, bis der Deputy in einem käfigartigen Gelass seinen Namen rief.

Eddie ging zu dem Fenster in dem Käfig.

»Eine Lewis, ein braunes Strickhemd, eine Boxershort, zwei Socken, ein Paar Tennisschuhe«, sagte der Beamte und stapelte die Sachen ordentlich auf einen Haufen. »Als Nächstes haben wir da eine Brieftasche mit dreiundsechzig Dollar und fünfzig Cent in Münzen, eine Sonnenbrille und ein Nokia-Handy.«

Er reichte Eddie ein Forumular. »Unterschreib da unten, dann kannst du gehen.«

Eddie kritzelte seinen Namen auf die angegebene Stelle und der Deputy deutete auf die Tür des Umkleideraums. Wenn das ein Traum war, so liebte er diesen Traum. Fünf Minuten später trat er auf die sonnige Straße hinaus, setzte seine Sonnenbrille auf und zog sein Handy aus der Tasche. O, Wunder, es funktionierte noch!

Wenn das nicht mein Glückstag ist, dachte Eddie. Wäre ich ein Spieler, würde ich jetzt schnurstracks zum Pferderennen gehen.

Daniel verschlief das Gratis-Frühstücksbüfett im Comfort Inn. Er duschte und zog das gestern Abend gekaufte T-Shirt und die Jogginghose an. Dann verbrachte er den Rest des Morgens damit, aus dem Gedächtnis seine Berechnungen und Aufzeichnungen für das Exoskelett zu rekonstruieren.

Diese Arbeit konnte Jahre in Anspruch nehmen und selbst wenn es ihm gelang, musste er Tests machen und das Ganze auf seine Funktionsfähigkeit überprüfen. Den Fortbewegungsmechanismus des gesamten Apparats hatte er bereits verbessert, doch soviel er wusste, hatte man bis jetzt noch nicht das optimale Material für den Anzug entwickelt. Die Exoskelette, die er aus technischen oder militärischen Fachzeitschriften kannte, waren eigentlich nichts anderes als eine Art schwerfällige, roboterartige Rüstungen. Doch die Verbesserung militärischer Kampfanzüge interessierte ihn überhaupt nicht. Sein Wunsch war es, gelähmten oder verkrüppelten Menschen zu helfen, wieder möglichst mobil zu werden.

Als er seinen Stift hinlegte, sagte er sich, dass er es nicht zulassen durfte, sich von dem Verlust seiner jahrelangen Arbeit entmutigen oder gar besiegen zu lassen. Er hatte gegen seine Krankheit gekämpft und seine Gefängnisstrafe abgesessen. Aber vielleicht verdiente er das alles und seine Qualen würden bis in alle Ewigkeit dauern?

Daniels Magen knurrte. Er sah auf die Uhr, es war schon halb zwei. Carolyn hatte versprochen, ihn heute Morgen anzurufen. Sie hatte ihm befohlen, im Motelzimmer zu bleiben und sich das Essen kommen zu lassen. Doch die Speisekarte sagte ihm nicht zu. Also beschloss er, zu Saul’s Bagels zu gehen, das dem Seagull Motel gegenüber lag. Da hatte er schon öfter gegessen und es hatte ihm geschmeckt. Außerdem brauchte er frische Luft. Und was hatte es schon für einen Sinn, aus dem Gefängnis entlassen worden zu sein, wenn er den ganzen Tag in einem Hotelzimmer verbringen musste?

Er steckte seinen Schlüssel ein und hängte das »Bitte nicht stören«-Schild an die Tür, wie Carolyn ihm geraten hatte. Mit dem Aufzug fuhr er in die Lobby und da er nicht wusste, wo er war, fragte er den Rezeptionisten nach dem Weg. Das Bagel-Café war etwa zwanzig Block entfernt; und wenn er dorthin lief, hatte er vielleicht weniger Angst.

Während des Joggens überlegte er, was er essen wollte. Das Wasser lief ihm bei dem Gedanken an ein heißes Pastrami-Sandwich mit saftigem Krautsalat bereits im Mund zusammen. Und damit er etwas in seinem Zimmer zu essen hatte, würde er ein paar Bagels und Donuts mitnehmen. In letzter Zeit hatte er eine Vorliebe für etwas Süßes entwickelt. Denn das Essen im Gefängnis war scheußlich und immer kalt gewesen.

Gutes Essen war eines der Dinge, die Daniel jetzt besonders genoss. Vor allem, weil er sich durch das Geld seiner Großmutter alle diesbezüglichen Wünsche erfüllen konnte.

Vor sich sah er jetzt die große Neonschrift von Saul’s Bagel und lief mit ruhigen Schritten weiter darauf zu.

Im Gegensatz zum Gefängnis musste er in der Stadt beim Laufen auf den Verkehr aufpassen, was er noch nicht gewöhnt war.

Das Gefängnis war ein seltsamer Ort, sozusagen eine eigene Welt in der Welt. Im ersten Jahr hatten seine Mithäftlinge ihn gemobbt und Dinge mit ihm gemacht, die so fürchterlich waren, dass er darüber nicht sprechen konnte. Aber noch ehe der Gefängnisdirektor ihn unter seine Fittiche nahm, hatten seine Mitgefangenen ihn gemieden, weil Gerüchte umgingen, er sei geisteskrank. Und mit einem Verrückten wollte niemand etwas zu tun haben.

Daniel wartete an einer Ampel, wobei er auf der Stelle weiterlief. Autos fuhren an ihm vorbei. Dann rollte ein schwarzer Geländewagen nahe an der Bordsteinkante heran und Daniel sah kurz in das Gesicht eines Mannes, der sich aus dem Fenster lehnte.

Die Waffe sah er nicht.

Der Knall dröhnte in seinen Ohren und ein stechender Schmerz durchfuhr ihn, nur Zentimeter von seinem Herzen entfernt.

Unzusammenhängende Bilder, Visionen gleich, blitzten in ihm auf.

Er sah ein niedliches, kleines Mädchen, das ihn anlächelte und ihm die Arme entgegenstreckte, damit er sie hochhob. Ihr Gesicht war so süß und sie sah ihn so zärtlich an, dass er am liebsten geweint hätte.

Er erinnerte sich an jenes Weihnachtsfest, als sein Vater ihm seine erste Armbanduhr geschenkt hatte. Sofort hatte er sie in seinem Zimmer auseinander genommen. Dann sah er das neue Fernsehgerät. In Einzelteile zerlegt, lag es auf dem Boden im Wohnzimmer. Und er sah das aufgedunsene Gesicht seiner Mutter über sich, als sie ihn mit einem Gürtel schlug.

»Warum machst du solche Sachen?«, schrie seine Mutter ihn an. »Warum musst du alles kaputtmachen? Dein Vater hat ein Jahr gespart, um uns diesen neuen Fernseher kaufen zu können.«

Der Gürtel schnitt in das Fleisch seiner Waden.

»Ich höre erst auf zu schlagen, wenn du mir antwortest. Letzte Woche hast du versucht, Mrs. Clairmonts Waschmaschine auseinander zu nehmen. Die Leute glauben, dass mein Sohn wahnsinnig ist.«

»Bitte, Mom. Schlag mich nicht mehr«, hatte Daniel geschluchzt. »Ich will doch nur herausfinden, wie die Dinge funktionieren.«

Als die Wunde immer stärker schmerzte, verblassten die Bilder.

Autofahrer traten abrupt auf die Bremse, als sie den Mann mitten auf der Straße stehen sahen. Aus seinem Oberbauch quoll Blut. Ein Autofahrer hupte. Eine Frau stieg aus ihrem Wagen und schrie, jemand solle den Notarzt rufen.

Daniels Körper krampfte sich zusammen. Erst als er an sich hinuntersah, bemerkte er das zwischen seinen Fingern hervorquellende Blut. Dann erinnerte er sich an das hasserfüllte Gesicht des Mannes, der sich mit ausgestrecktem Arm aus dem Autofenster gelehnt hatte.

Er taumelte noch ein paar Schritte weiter, dann sackte er auf dem Pflaster zusammen. Unter seinem Körper breitete sich eine Blutlache aus. Er blinzelte und versuchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

Die geistesgegenwärtige Frau kniete jetzt neben ihm und entfaltete ein großes Handtuch, das sie auf seine Wunde presste. Sie war schwergewichtig und ähnelte seiner Mutter.

»Halten Sie durch«, sagte die Frau, noch atemlos vom Laufen. »Auf Sie wurde geschossen. Aber alles wird wieder gut. Bleiben Sie ruhig liegen, bis der Notarzt kommt.«

»Schlägst ... du ... mich ... noch einmal?«

»Nein«, sagte die Frau mit Tränen in den Augen. »Sie dürfen nicht sprechen. Ich bete für Sie. Gott schickt Ihnen seine Engel. Die helfen Ihnen.«

Plötzlich überkam Daniel ein großer Friede. Die Frau war nicht seine Mutter. Ruth war tot. Sie lag mit den anderen Familienmitgliedern auf dem Queen-of-Angels-Friedhof. Einmal war er mit dem Bus nach Los Angeles gefahren und hatte sich das noch leere Grab angesehen, das seine Großmutter für ihn gekauft hatte.

Im Leben hat es für mich nie ein Heim gegeben, dachte Daniel. Aber im Tod werde ich jetzt wenigstens für immer eines haben.

Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten

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