Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 8

Kapitel 2

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Carolyn saß in dem kleinen Kabuff, das ihr als Büro diente, und als ihr Magen zu knurren anfing und sie Sodbrennen bekam, schaute sie auf ihre Armbanduhr. Es war schon nach eins und sie hatte sechs Tassen Kaffee getrunken und seit gestern Abend nichts mehr gegessen.

Sie zog die unterste Schublade ihres Schreibtisches heraus, in der sie ihre Notration aufbewahrte: einen Stapel Protein-Riegel und einen Sechserpack Mineralwasser. Sie mochte nur Protein-Riegel mit Erdnussbutter, die schwer aufzutreiben waren. Als das Telefon läutete, ließ sie den Riegel auf ihren Schreibtisch fallen, nahm den Hörer ab und erkannte sofort die unverwechselbare Stimme ihres sechs Jahre jüngeren Bruders.

»Ich habe für heute Abend ein paar Leute eingeladen«, sagte Neil. »Nichts Besonderes. Es gibt nur Wein und Käse. Wir wollen besprechen, welche Bilder wir nächste Woche ausstellen. Dazu hätte ich gern deine Meinung gehört.«

»Du weißt doch, dass ich montagabends zur Uni gehe«, sagte Carolyn. »Warum hast du dich gestern Abend nicht bei Mom blicken lassen? Du hast nicht mal angerufen und dein Handy war ständig belegt.«

»Das tut mir Leid«, sagte Neil. »Ich hab’s total vergessen. War Mom böse?«

»Nur ein bisschen sauer«, entgegnete Carolyn. »Schließlich bist du ihr Goldjunge, der zeitgenössische Michelangelo. Mom hätte dich nur noch mehr vergöttert, wenn du Priester geworden wärst.«

»Gott bewahre!«, sagte Neil lachend. »Ich rufe sie gleich an und entschuldige mich. Wie geht es dir? Du klingst nicht so gut.«

Im vergangenen Jahr hatte der Verwaltungsbezirk seine Beamten mit Kopfhörern ausgestattet, den Carolyn jetzt aufsetzte, damit sie telefonieren und gleichzeitig essen konnte. »Hast du heute schon die Zeitung gelesen? Der Mann, der das achtjährige Mädchen vergewaltigt hat, stand unter meiner Bewährungsaufsicht.«

»Herrgott«, sagte Neil. »Wie kannst du dich nur um diese Scheißkerle kümmern?«

»Das Kümmern ist nicht das Problem, sondern sie unter Kontrolle zu behalten.«

»Mach dir keine Sorgen, Schwesterchen«, sagte er. »Ehe du dich versiehst, bist du Anwältin. Und fünf Jahre später Richterin. Dann triffst du alle Entscheidungen. Du kennst doch Buddy Chambers, den angesehenen Scheidungsanwalt? Er kauft meine Bilder und ich habe ihm von dir erzählt. Er glaubt, dass du eine großartige Richterin wärst.«

»Ich habe doch nur Spaß gemacht, als ich sagte, ich würde gern Richterin werden«, sagte Carolyn, peinlich berührt. »Bitte, sprich mit deinen Freunden nicht über mich. Ich bin schon froh, wenn ich das Examen bestehe.«

Mit dem Knopf am Kopfhörer unterbrach Carolyn die Verbindung. Die Geschwister standen sich so nahe, dass beide wussten, wann eine Unterhaltung beendet war. Um Zeit zu sparen, verzichteten sie immer auf die Abschiedsfloskeln. Die meisten Leute fanden das merkwürdig. Doch seit dem Tod ihres Vaters vor fünf Jahren hatten Mutter und Kinder eine erhöhte Sensibilität füreinander entwickelt. Sobald einer von ihnen in Schwierigkeiten steckte, rief unweigerlich eines der beiden anderen Familienmitglieder an. Ihre Fähigkeit, die Nöte des anderen zu spüren, hatte ihren Ursprung in der stärksten Kraft des Universums – in der Liebe.

Neil lebte in einer völlig anderen Welt als Carolyn. Er war zwar kein zweiter Michelangelo, wie ihre Mutter ihren Freundinnen gegenüber gern prahlte, aber ein äußerst talentierter Maler, dessen Bilder zu Carolyns Freude allmählich beachtet wurden und Anerkennung fanden.

Jetzt nahm sie den Kopfhörer ab und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Akte von Daniel Metroix zu. Er hatte als Jugendlicher vor einer Bowlingbahn drei Kids im Teenageralter angegriffen, wobei zwei leicht verletzt worden waren. Doch den Dritten, Tim Harrison, hatte Metroix angeblich vorsätzlich töten wollen, indem er ihn vor ein herankommendes Auto stieß. Der Fahrer hatte nicht mehr rechtzeitig bremsen können und den Jungen überfahren. Deswegen war Metroix des Totschlags angeklagt und verurteilt worden.

Ein derartiges Delikt, das während einer Prügelei unter Jungen derselben Altersgruppe geschehen war, hätte höchstens als Körperverletzung mit Todesfolge geahndet werden dürfen, dachte Carolyn. Der Tod des Jungen war höchstwahrscheinlich ein Unfall gewesen. Die Begründung und Einordnung dieser Tat hatte jedoch im Ermessen des Staatsanwalts gelegen. Die beiden anderen Jungen hatten unter Eid ausgesagt, dass Metroix sie angegriffen und Tim Harrison absichtlich vor das Auto gestoßen habe.

Und noch etwas fand Carolyn an diesem Fall rätselhaft: Warum hatten die drei sportlichen, durchtrainierten jungen Männer, alles Footballspieler, Metroix nicht überwältigt? Drei gegen einen, das war doch eine ziemliche Übermacht. Aus einem an den hinteren Deckel geklebten Umschlag nahm Carolyn drei Polizeifotos vom Täter, die noch am Abend seiner Festnahme gemacht worden waren. Metroix’ Gesicht war blutig, angeschwollen und blau-violett verfärbt. Sein Blick wirkte teilnahmslos und desorientiert. Im Polizeiprotokoll stand, die beiden anderen Jungen hätten während der Prügelei nur geringfügige Verletzungen erlitten.

»Ihre Zwei-Uhr-Verabredung ist hier«, verkündete Kathy Stein über die Gegensprechanlage. »Wo soll ich den Mann hinbringen?«

»Ach ja«, sagte Carolyn. »In Zimmer vier. Es ist doch Daniel Metroix, oder?«

»Ja«, antwortete Kathy barsch mit ihre tiefen, rauen Stimme. »Das hat er jedenfalls gesagt. Soll ich mir seinen Ausweis zeigen lassen?«

»Nein, nein«, sagte Carolyn schnell. »Das ist nicht nötig.«

Sie wartete ein paar Minuten, um der Rezeptionistin Zeit zu geben, Metroix in den Besprechungsraum zu bringen. Die Abteilung für Bewährungs- und Gerichtshilfe des Verwaltungsbezirks Ventura nahm den ganzen dritten Stock eines dem Bezirksgericht direkt gegenüberliegenden Gebäudes ein. Zu dem im selben Amtsgebäude untergebrachten Gefängnis gab es vom Hauptgebäude aus keinen anderen Zutritt als den durch einen unterirdischen Gang, wenn die Häftlinge ins Gericht gebracht werden mussten. Die Fenster des Raums mit den abgeteilten Kabinen, die den Bewährungshelfern als Büros dienten, gingen auf den Hof und den Parkplatz hinaus. Auf der anderen Seite des Flurs lag eine Reihe kleiner Räume, alle ausgestattet mit einem Tisch, vier Stühlen und einem Telefon, um Diktate zur Schreibzentrale zu vermitteln. Diese Räume wurden auch für Gespräche mit Angeklagten benutzt, die auf Kaution freigelassen wurden und auf ihren Prozess warteten, oder mit Opfern von Verbrechen und Zeugen und anderen Personen, die etwas mit dem jeweiligen Fall zu tun hatten. Besprechungen mit Angeklagten, denen eine Kaution verwehrt worden war, führten die Bewährungshelfer im Gefängnis. Dass sich die Haftanstalt im selben Gebäude befand, sparte allen am Prozess Beteiligten Zeit und lange Wege.

Die der Gerichtshilfe zugeteilten Beamten besaßen in der Regel mehr Kompetenzen als Bewährungshelfer. Dazu gehörte vor allem die Fähigkeit, komplexe Strafgesetze zu interpretieren, wie Brad Preston betont hatte. Da die Gesetze des Staates Kalifornien immer komplizierter wurden, gehörte es zu den Aufgaben einer Gerichtshelferin oder eines Gerichtshelfers, zu schwierigen Fällen mit mehreren Anklagepunkten und Opfern einen klaren und übersichtlichen, im Durchschnitt zwischen zwanzig und fünfzig Seiten umfassenden Bericht zu verfassen.

Die Abteilung des Außendienstes, dessen vorrangige Aufgabe darin bestand, Straffällige zu überwachen, hatte im ganzen Verwaltungsbezirk verstreut Büros. Diese Beamten waren in der Regel derart mit Arbeit überlastet, dass sie nicht zu schaffen war. Eine nachlässige Ermittlung der Abteilung Gerichtshilfe konnte zu ernsthaften Problemen führen, doch bei einer fehlerhaften Überwachung hatte allein der Beamte die Verantwortung für den Tod eines Kindes, die Misshandlung einer Ehefrau oder für Kindesmissbrauch und versuchten Mord wie im Fall von Eddie Downly. Den Mitarbeitern des Amts war die Problematik nur zu bekannt – aber es gab einfach nicht genügend Beamte zum Überwachen der ständig zunehmenden Zahl von Straftätern.

Die Situation der Gerichts- und Bewährungshilfe des bundesstaatlichen Amtes war sogar noch kritischer, da diese Beamten Personen betreuten, die nach Verbüßung ihrer Strafe für begangene Gewalttaten aus dem Gefängnis entlassen worden waren.

Carolyn stieß die Tür zum Besprechungsraum auf, in dem Daniel Metroix wartete. Sie schloss sie hinter sich, umklammerte mit der rechten Hand jedoch weiterhin den Türknauf. Fotos boten nicht immer ein gutes Bild von dem wahren Aussehen einer Person.

Der Mann, der an dem kleinen runden Tisch saß, trug ein hellblaues Jeanshemd, Jeans mit schwarzem Ledergürtel und seine Füße steckten in neuen Tennisschuhen. Sein hellbraunes Haar war ordentlich geschnitten. Im Gefängnis hatte er offensichtlich Bodybuilding betrieben, da sich sehnige Muskeln unter dem Hemd abzeichneten. An diesem Mann erinnert nichts mehr an den schmächtigen Halbwüchsigen auf dem Polizeifoto, dachte sie. Sein Blick wirkte ausdruckslos und kalt. Doch dann entdeckte Carolyn darin ein gewisses Funkeln.

»Wie ist es Ihnen denn so ergangen, in all den Jahren?«, fragte er, stand auf und streckte seine Hand aus.

Carolyn hatte keine Ahnung, wovon Daniel Metroix redete. Kannte sie diesen Mann? Obwohl sie ungefähr im selben Alter waren, stand in seiner Akte, dass er die Tremont und nicht die Ventura High School wie sie besucht hatte.

Als Carolyn nicht reagierte, ließ Daniel, offensichtlich enttäuscht, seine Hand sinken und sagte: »Entschuldigen Sie bitte. Wir haben früher einmal im selben Haus gewohnt. Aber das ist so lange her, dass Sie sich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern.«

»Nein«, sagte Carolyn, jetzt neugierig geworden. »Wo haben Sie denn gewohnt?«

»In dem Mietshaus mit den Sozialwohnungen an der Maple Street«, sagte er. »Ich glaube, das Haus hieß Carlton West. Ein ziemlich hochgestochener Name für so eine miese Bruchbude.« Mit gesenktem Blick fügte er hinzu: »Jedenfalls hat das meine Mom gesagt. Sie haben im selben Stockwerk wie wir gewohnt und wollten immer, dass ich mit Ihnen spiele.«

»Sie irren sich«, sagte Carolyn schroff. »Ich habe nie in diesem Haus gewohnt.«

Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und bedeutete Metroix, sich wieder zu setzen. Auch nach ihrer Heirat hatte sie ihren Mädchennamen behalten. Brad hatte Recht damit, dass Ventura eine Kleinstadt war, aber irgendetwas an Metroix beunruhigte sie zutiefst. Im Gefängnis saßen ziemlich viele Menschen, die sie dorthin geschickt hatte. Doch Metroix konnte keinen persönlichen Groll gegen sie hegen, da sie zurzeit seiner Verurteilung noch zur High School gegangen war. Vielleicht hatte er ihr Foto gesehen, das gelegentlich in der Presse erschien. Oder hatte sie gegen einen Zellengenossen ermittelt, mit dem er noch telefonisch Kontakt und mit dem er über seine neue Bewährungshelferin gesprochen hatte? Wollte Metroix mit seinem Gerede, sie würden sich kennen, sie gefügig machen? Im Internet konnte man Daten über jeden Menschen abrufen. Sie hatte gelogen, als sie gesagt hatte, ihre Familie habe nie im Carlton West gewohnt. Aber Metroix konnte sich unmöglich an sie erinnern, denn damals war sie erst fünf und er neun Jahre alt gewesen.

Carolyn sah, dass er auf ihre linke Hand starrte. Sie hatte sich vor sieben Jahren scheiden lassen.

»Was hat er getan?«

»Wer?«

»Ihr Mann«, sagte Daniel. »Was hat er getan, dass Sie aufgehört haben, ihn zu lieben? Sie waren doch mal verheiratet, oder?«

»Ich bin hier, um über Sie und nicht über mein persönliches Leben zu sprechen«, sagte Carolyn scharf, denn sie musste sich unbedingt sofort Autorität verschaffen. Sie legte Metroix’ Akte vor sich auf den Tisch, klappte sie auf und nahm das Formular mit den Bewährungsauflagen heraus.

»Sie haben drei Jahre Bewährung«, erklärte sie, »und eine der Bedingungen lautet, dass Sie sich einmal im Monat hier im Amt melden müssen. Haben Sie das verstanden?«

Daniel nickte und kippte seinen Stuhl nach hinten.

»Mit Hausbesuchen müssen Sie auch ohne vorherige Ankündigung rechnen.«

»Und was ist, wenn ich kein Zuhause habe?«

»Wo wohnen Sie denn?«

»Ich bin eben erst in die Stadt gekommen«, erklärte er.

»Aber Sie wurden doch schon vor zwei Wochen entlassen.«

»Ich wollte erst mal meine Freiheit genießen und mich ein bisschen umsehen. Ein paar Tage war ich in L. A. In meinen Entlassungspapieren steht, dass ich mich hier erst Ende des Monats persönlich melden muss, nach telefonischer Vereinbarung. Das habe ich getan und die Lady am Telefon hat mir gesagt, ich solle mich heute Nachmittag hier einfinden.«

Großartig, dachte Carolyn. Es gibt Menschen, die einen Großteil ihres Lebens in einer Anstalt verbracht haben und mit dem Leben in Freiheit nicht mehr zurechtkommen. Manche begehen sogar deswegen Selbstmord.

»Sie können nicht auf der Straße leben«, sagte sie. »Wenn Sie keine Unterkunft oder genügend Geld haben, müssen Sie im Obdachlosenheim wohnen.«

Daniel griff in seine Jeanstasche und zog einen zerknitterten Zettel heraus. »Im Bus hat mir ein Mann die Adresse dieses Motels gegeben. Sobald ich hier fertig bin, nehme ich mir dort ein Zimmer. Es heißt Seagull und liegt an der Seaward Avenue. Was meinen Sie? Soll ich’s mir mal ansehen?«

»Ich leite kein Reisebüro. Rufen Sie mich an und teilen Sie mir mit, ob Sie dort bleiben, damit ich Ihre Lebensumstände überprüfen kann.« Carolyn nahm ihren Palm Pilot, ihr elektronisches Notizbuch, heraus. Heute Abend musste sie in ihrem Jura-Seminar ein Referat abgeben, bezweifelte jedoch, damit rechtzeitig fertig zu werden, denn sie hatte vorgehabt, während ihrer Mittagspause daran zu arbeiten.

»Wir vereinbaren einen Termin für morgen Nachmittag um halb sechs.«

So kann ich auf dem Weg vom Büro nach Hause am Motel vorbeifahren, dachte sie.

»Gut«, sagte Daniel mit dem Desinteresse eines Mannes, der es gewohnt ist, herumkommandiert zu werden.

Carolyn ließ ihren Palm Pilot auf dem Tisch liegen und las Daniel weitere Punkte seiner Bewährungsauflagen vor. »Zu den Bedingungen zählen auch Alkohol- und Drogenabstinenz.«

»Und was bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass Sie weder Bars noch andere Gaststätten aufsuchen dürfen, in denen Alkohol ausgeschenkt wird.«

»Ich trinke keinen Alkohol.«

»Dann haben Sie ja kein Problem damit«, sagte Carolyn. »Sie müssen sich auch einem Drogentest unterziehen, wann immer ich das für nötig halte.«

»Meinen Sie damit illegale Drogen?«, fragte Daniel und kippte seinen Stuhl wieder nach vorn. »Ich muss wegen meiner Krankheit Medikamente nehmen.«

»Was haben Sie für eine Krankheit?«, fragte Carolyn.

Brad hatte erwähnt, dass Metroix während seiner Haft in Chino eine Geisteskrankheit vorgetäuscht habe, aber sie hatte keinen Vermerk darüber in der Akte entdeckt. Allerdings hatte sie nur ein paar Stunden Zeit gehabt, sich mit diesem Fall zu beschäftigen.

»Schizophrenie«, antwortete Daniel. »Ich kann Ihnen das Rezept für das neue Medikament zeigen. Ich muss es mir einmal im Monat selbst spritzen. Jetzt, wo ich draußen bin. Im Gefängnis habe ich die Spritze auf der Krankenstation bekommen.«

»Wann wurde diese Krankheit zum ersten Mal bei Ihnen diagnostiziert?«

»Während meines vorletzten Jahrs auf der High School«, antwortete Daniel und sein anmaßendes, beinahe bedrohlich wirkendes Benehmen machte einer gewissen Traurigkeit Platz. »Ich war drei Monate im Camarillo State Hospital. Lieber würde ich wieder ins Gefängnis zurückgehen, als noch einmal in dieser Hölle zu landen.«

»Zeigen Sie mir bitte das Rezept«, sagte Carolyn und streckte ihre Hand aus. Er fischte wieder ein zerknittertes Stück Papier aus seiner Jeanstasche und gab es ihr. »Bleiben Sie hier«, fügte sie hinzu und stand auf. »Ich muss davon eine Kopie für Ihre Akte machen.«

Nachdem sie im Kopierraum, ein paar Türen weiter den Flur hinunter, eine Fotokopie gemacht hatte, ging sie schnell in den Besprechungsraum zurück und gab Daniel Metroix sein Rezept wieder. Das Medikament – Decentan Depot – kannte sie nicht, denn mit Psychopharmaka war sie nicht sehr vertraut. Carolyn notierte sich den Namen des Präparats und nahm sich vor, die Wirkungsweise des Medikaments im Internet nachzulesen. Eine neue Behandlungsmethode für Schizophrenie war immer interessant.

Die Tatsache, dass dieses Medikament injiziert werden musste, stellte ein Problem dar. Sie würde sich mit Brad über ihre weitere Vorgehensweise beraten. Überraschend war jedoch, dass die Bewährungsauflagen keine regelmäßige psychiatrische Betreuung vorschrieben. Auf diese Art unverzeihlicher Versäumnisse stieß sie beinahe jeden Tag. Sie würde bei Gericht beantragen, dass die ärztliche Begleitung nachträglich verfügt wurde.

Carolyn griff über den Tisch und packte Daniels linken Unterarm. Er wich zurück und es sah kurz so aus, als wollte er sie schlagen. »Rollen Sie den Hemdsärmel hoch!«, befahl Carolyn.

»Wozu?«

»Ich muss prüfen, ob Sie Einstichstellen in den Armen haben.«

Sie untersuchte beide Arme und fand nichts. Selbst im Gefängnis war Rauschgift jederzeit erhältlich. Verbrecher erfanden die verrücktesten Geschichten, um Drogen konsumieren zu können. Daniel Metroix könnte seine Krankheit als Vorwand benutzen und sich anstatt des verschriebenen Medikaments Heroin oder andere Drogen spritzen und somit seine Abhängigkeit vertuschen. Bei ihren zukünftigen Treffen einmal im Monat würde sie darauf bestehen, dass er sich das Medikament in ihrem Beisein injizierte. Auch wenn er keine Einstichstellen an den Armen hatte, konnte er drogenabhängig sein. Es gab Junkies, die sich das Zeug in den Penis spritzten.

»Sie können die Ärmel jetzt wieder runterrollen«, sagte Carolyn und überlegte, ob sie eine Möglichkeit hatte, von diesem Fall entbunden zu werden. Sollte bei Daniel Metroix eine monatliche Ganzkörperuntersuchung nötig sein, musste ihm ein männlicher Betreuer zugeordnet werden.

»Kommen wir zum Ende der Formalitäten«, fuhr Carolyn fort. »Sie müssen den Umgang mit straffällig gewordenen Personen meiden und sich eine Arbeit, eine feste Anstellung suchen. Sollten Sie eine Straftat begehen, verstoßen Sie gegen Ihre Bewährungsauflagen.«

Sie schob ihm das Formular zur Unterschrift zu. »Das ist das Standardverfahren, Daniel. Wenn Sie eine dieser Bedingungen nicht erfüllen, wird das als Verstoß gegen die Auflagen gewertet und Sie landen wieder im Gefängnis. Da Sie zu einer Haftstrafe von zwölf Jahren bis lebenslänglich verurteilt worden sind, möchten Sie das doch sicher vermeiden, oder? Haben Sie noch Fragen?«

»Ja«, sagte Daniel und unterschrieb das Formular, ohne es zu lesen.

Carolyn ignorierte ihn, griff wieder nach ihrem Palm Pilot und gab Termine für die nächsten vier Monate ein. Datum und Zeit notierte sie dann auf einer ihrer Visitenkarten und reichte sie Daniel.

»Sollte ein Notfall eintreten oder Sie einen dieser Termine nicht einhalten können, müssen Sie mich so schnell wie möglich anrufen. Ist das klar?«

»Ja«, sagte Daniel. »Wegen der Anstellung ...«

Carolyn wich seinem Blick aus. Irgendetwas an ihm machte ihr Angst. Außerdem galt es im Umgang mit auf Bewährung freigelassenen Straftätern jeden persönlichen Kontakt zu vermeiden. Bei der Vorbereitung ihrer Berichte über Ersttäter, die auf ihren Prozess warteten, über Vergewaltiger, Mörder oder andere Gewalttäter versuchte sie allerdings das Vertrauen der Delinquenten durch verständnisvolles, freundliches Verhalten zu gewinnen und trug manchmal sogar kurze Röcke und Pumps bei den Vernehmungen, in der Hoffnung, den Angeklagten Geständnisse entlocken zu können, die das Strafmaß erheblich erhöhten.

»Haben Sie schon einen Job in Aussicht?«, fragte sie.

»Ich besitze fast siebzigtausend Dollar«, erklärte Daniel, mit wieder gewonnenem Selbstvertrauen. »Da muss ich mich doch nicht gleich um Arbeit bemühen.«

Carolyn blinzelte ein paarmal. Dieser Kerl kam eben erst aus dem Knast und hatte mehr Geld auf dem Konto als sie. Am liebsten hätte sie ihm aus reiner Bosheit sofort einen Verstoß gegen die Bewährungsauflagen verpasst. »Wie kamen Sie in den Besitz einer derart hohen Summe?«

»Durch eine Erbschaft«, sagte Daniel lächelnd. »Meine Großmutter hat mir zehntausend Dollar hinterlassen. Kurz nachdem ich in den Bau musste, ist sie gestorben. Ein Anwalt hat das Geld für mich als Treuhandvermögen angelegt und jetzt gehören mir siebzig Riesen. Ist das nicht Zucker?«

Carolyn schenkte ihm ein falsches Lächeln und wurde wieder ernst. »Ich brauche den Namen des Anwalts, um mich zu vergewissern, dass Sie auf legitime Art und Weise an dieses Vermögen gekommen sind.«

»Kein Problem«, sagte Daniel und kratzte sich an der Wange. »Seine Telefonnummer habe ich nicht dabei, aber sie steht im Telefonbuch von Ventura. Er heißt Leonard Fletcher.«

»Trotzdem müssen Sie einer geregelten Arbeit nachgehen«, sagte Carolyn und starrte auf einen Punkt über seinem Kopf. »Eine feste Anstellung gehört zu den Bedingungen für Ihre Freilassung in die Gemeinschaft. Haben Sie denn nicht zugehört, als ich Ihnen die Bewährungsauflagen vorgelesen habe?«

»Wohl nicht«, sagte Daniel Schulter zuckend. »Ich habe noch nie in meinem Leben gearbeitet. Als mich die Bullen verhaftet haben, war ich erst siebzehn. Meinen Schulabschluss habe ich im Gefängnis gemacht. Darüber hinaus habe ich mir alles, was ich kann, selbst beigebracht. In Physik und Mathe bin ich ziemlich gut. Ich kann auch zeichnen, aber hauptsächlich Konstruktionspläne für Maschinen und Geräte. Was für eine Art Arbeit muss ich mir denn suchen?«

»Irgendeine«, entgegnete Carolyn und spielte mit dem Manschettenknopf an ihrem linken Handgelenk. Hat er wirklich gesagt, er sei gut in Physik, oder bilde ich mir das ein?, überlegte sie. »Sie können als Tankwart, Kellner oder Putzmann arbeiten.«

»Warum muss ich denn arbeiten, wenn ich kein Geld brauche?«, fragte Daniel jetzt lauter, weil ihm seine vertrackte Lage allmählich bewusst wurde.

»Weil eine feste Anstellung Bestandteil Ihrer Bewährungsauflagen ist«, erklärte ihm Carolyn noch einmal. »Gäbe es für Sie darin eine Klausel, dass Sie die nächsten drei Jahre auf einem Pfahl sitzen müssen, würden Sie das entweder tun oder wieder im Gefängnis landen. Nicht ich habe die Regeln gemacht. Ich bin nur damit beauftragt, dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden.«

»Dann muss ich mir wohl einen Job suchen«, sagte Daniel. »Wie viel Zeit bleibt mir dafür?«

»Dreißig Tage«, sagte Carolyn. »Wenn wir uns in einem Monat wieder sehen, sollten Sie eine feste Anstellung haben. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass Sie in einem Motel wohnen wollen, ganz gleich, wie viel Geld Sie jetzt haben. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie nächsten Monat nicht nur einen Job, sondern auch eine feste Bleibe haben.«

»Warum kann ich nicht in einem Motel wohnen?«, fragte Daniel und sah sie verdutzt an. »Steht das auch in den Bewährungsauflagen, die Sie mir eben vorgelesen haben?«

»Nein«, entgegnete Carolyn. »Das ist nicht nötig, weil gewisse Dinge einer Einschätzung der Situation unterliegen – meiner Einschätzung. Und ich rate Ihnen dringend, sich eine Wohnung zu suchen. Wenn Sie länger in einem Motel wohnen, geht Ihnen bald das Geld aus und Sie landen auf der Straße.«

Carolyn legte die Papiere in die Akte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz vor drei. Um vier hatte sie einen Termin mit dem Opfer im Sandoval-Fall und aus Gefälligkeit zugestimmt, die Frau zu Hause aufzusuchen.

»Wenn Sie später hier anrufen, hinterlassen Sie bitte die Telefonnummer des Motels sowie Ihre Zimmernummer. Sobald Sie einen festen Wohnsitz haben, müssen Sie mir das mitteilen. Dasselbe gilt für Ihre Jobsuche. Ich muss ständig über Ihren Aufenthaltsort und Ihre Tätigkeiten informiert werden. Ohne meine Erlaubnis dürfen Sie weder Ihren Arbeitsplatz wechseln noch die Stadt verlassen.«

»Auf Bewährung draußen zu sein, ist ja fast so schlimm wie noch im Knast zu sitzen«, sagte Daniel und knackte mit den Fingerknöcheln. »Im Gefängnis ist es vielleicht besser. Dort habe ich ein Dach über dem Kopf und kriege zu essen. Ich hatte sogar ein eigenes Labor und konnte arbeiten.«

Carolyn kritzelte Seagull Motel in Daniels Akte. Sollte er sich nicht melden, wusste sie wenigstens, wo sie mit der Suche nach ihm anfangen konnte. Als er das Labor erwähnte, blickte sie auf und fragte: »Was soll das heißen, Sie hatten ein eigenes Labor?«

»Ach«, meinte Daniel, »der Gefängnisdirektor hat mir erlaubt, in einer Abstellkammer ein provisorisches Labor einzurichten.«

Klar, dachte Carolyn. Dieser Mann ist ein kompletter Idiot. Jetzt erzählt er mir, dass er die letzten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens als Physiker in seinem eigenen Labor gearbeitet hat. Kein Gefängnisdirektor auf der Welt würde einem seiner Insassen diese Freiheit gewähren.

»Wir sehen uns morgen Nachmittag um halb sechs. Vergessen Sie nicht, Ihre Adresse zu hinterlassen.«

Carolyn wollte noch im Krankenhaus anrufen und sich nach dem Zustand der kleinen Luisa Cortez erkundigen. Ist Daniel Metroix fähig, ein ebenso schreckliches Verbrechen zu begehen?, überlegte sie kurz. Der Schnelle Eddie hatte ihr bewusst gemacht, welche gefährlichen Potenziale in jedem ehemaligen Häftling steckten. Und sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit so etwas nicht wieder passierte. Sollte sich einer ihrer Schützlinge auch nur den kleinsten Ausrutscher erlauben, würde sie sich einen Haftbefehl besorgen und ihn wieder hinter Gitter bringen.

»Solange ich auf Bewährung bin, gehöre ich also praktisch Ihnen«, sagte Daniel und musterte sie eiskalt. »Darum geht es doch, oder?«

»Sie haben’s kapiert«, sagte Carolyn. »Ist das nicht Zucker? Nur leider hätte ich lieber einen kleinen Hund. Am besten, Sie halten sich die nächsten drei Jahre allen Ärger vom Hals, dann sind Sie ein freier Mann.«

Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten

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