Читать книгу Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten - Nancy Taylor Rosenberg - Страница 9

Kapitel 3

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Kurz vor Beginn der Vorlesung über Strafrecht am Montagabend kniete sich im Hörsaal ein gut aussehender junger Mann mit blonden langen Haaren neben Carolyn.

»Ein Freund von mir gibt am Samstagabend eine Party«, sagte David Reynolds mit charmantem Lächeln. »Darf ich Sie dazu einladen? Sollte die Party ein Flop werden, können wir verschwinden und bei mir weiterfeiern.«

Carolyn warf schnell einen Blick in die Runde. Sie vergewisserte sich, dass niemand zuhörte, und hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, in der ersten Reihe Platz zu nehmen, weil sie glaubte, mehr zu lernen, wenn sie Augenkontakt zu dem Dozenten hatte. Denn während der Vorlesung machte sie sich selten Notizen, sie verließ sich lieber auf ihr Gedächtnis, ihre schnelle Auffassungsgabe und Konzentrationsfähigkeit.

David saß ihr direkt gegenüber. Die meisten Studenten bevorzugten Plätze in den hinteren Reihen, um möglichst unbemerkt an ihren Referaten arbeiten zu können oder Antworten auf Fragen im Computer nachzulesen.

»Wie alt sind Sie?«, fragte Carolyn David.

»Einunddreißig«, antwortete David und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ist das wichtig für Sie? Das Alter ist doch nichts als eine Zahl.«

»Dieselbe Diskussion hatten wir doch schon letzte Woche«, sagte Carolyn. »Ihrem Aussehen nach sind Sie höchstens ein paar Jahre älter als mein Sohn.«

»Sie machen einen großen Fehler«, flüsterte er noch hastig, weil jetzt die Dozentin den Hörsaal betrat. »Mit mir hätten Sie viel Spaß.«

David hatte während des Frühjahrssemesters von der juristischen Fakultät der Universität in Los Angeles nach Ventura gewechselt, wo in Paukkursen der gesamte Lehrplan für das Juraexamen durchgearbeitet wurde. Carolyn vermutete, dass der Wechsel von der weitaus renommierteren Universität in Los Angeles entweder aus finanziellen Gründen geschehen war, oder weil David mehr Zeit auf Partys als bei Vorlesungen verbracht hatte. Da der Hörsaal voller intelligenter, junger, gut aussehender Frauen war, musste sich Carolyn jedoch eingestehen, dass ihr Davids Angebot schmeichelte. Brad war der erste Mann gewesen, mit dem sie nach ihrer Scheidung geschlafen hatte, obwohl sie wusste, dass ihre Beziehung nicht von Dauer sein würde. Und jetzt ließ sie allein der Gedanke an den fantastischen Sex mit ihm erröten.

Arline Shoeffel, die Dozentin, war gleichzeitig vorsitzende Richterin am Bezirksgericht von Ventura County. Sie war groß, gertenschlank, Mitte vierzig und hatte kurz geschnittenes rotes Haar. Ihre helle Haut war mit Sommersprossen übersät und sie trug eine Schildpattbrille. Ihr geblümtes Kleid verriet, dass sie an Mode überhaupt nicht interessiert war und es nur trug, weil sie etwas anziehen musste. Carolyn vermutete, dass es mindestens zwanzig Jahre alt war.

»Guten Abend«, sagte Mrs. Shoeffel, trat an das Pult vor der Klasse und lehnte sich dagegen. »Legen Sie Ihre Referate bitte während der Acht-Uhr-Pause auf meinen Schreibtisch. Heute Abend werden wir kurz über den Unterschied zwischen Straf- und Zivilrecht sprechen. Mr. Reynolds«, sagte sie, »kann der Tatbestand eines Verbrechens vom Gericht definiert oder festgestellt werden?«

»Klar«, sagte David und bedachte Carolyn mit einem strahlenden Lächeln.

»Falsch«, widersprach die Richterin und sah ihn streng an. Dann ließ sie den Blick über die Studenten schweifen und fixierte Carolyn. »Mrs. Sullivan ...«

»Verbrechen können vom Gericht weder definiert noch festgestellt werden. Das ist Aufgabe der Legislative des jeweiligen Bundesstaates. Den Gerichten obliegt es, von Fall zu Fall zu entscheiden, welches Verbrechen der oder die Angeklagte begangen hat.« Carolyn dachte kurz nach, ehe sie fortfuhr: »Die Interpretation des vom Gesetz vorgeschriebenen Strafrechts obliegt den Gerichten des jeweiligen Staates.«

»Ausgezeichnet«, lobte Mrs. Shoeffel, wandte sich der Tafel zu und schrieb darauf das Thema des nächsten Referats, ehe sie ihre Vorlesung wieder aufnahm.

Als um neun Uhr Schluss war, blieb Carolyn noch im Hörsaal und überarbeitete auf ihrem Laptop die beiden letzten Absätze ihres Referats. Auch während der Pause hatte sie daran gefeilt. Da sie den Text jedoch nicht ausdrucken konnte, speicherte sie ihn auf einer Diskette und schrieb mit einem schwarzen Filzstift ihren Namen darauf. Dann steckte sie den Laptop in ihren Rucksack und legte die Diskette auf Richterin Shoeffels Schreibtisch, in der Hoffnung, die Richterin nähme an, sie habe die Diskette übersehen, als sie die Arbeiten der anderen Studenten während der Pause eingesammelt hatte.

Auf dem Weg zu ihrem Auto auf dem Parkplatz sah Carolyn Arline Shoeffel vor einem silberfarbenen Acura stehen. Dabei sah die Richterin immer wieder nervös auf ihre Armbanduhr. Zwar hatte es aufgehört zu regnen, trotzdem war der Abend kalt und feucht. Zuerst ging Carolyn einfach weiter, doch dann schlängelte sie sich zwischen den geparkten Autos hindurch und näherte sich der Richterin.

»Ich weiß nie, wie ich Sie ansprechen soll«, fing Carolyn schüchtern an. »Soll ich Professorin oder Richterin sagen? Es ist nicht ungefährlich für eine Frau, sich hier aufzuhalten. Warten Sie auf jemanden?«

»Mein Wagen springt nicht an«, sagte Arline Shoeffel. Sie trug einen beigen Trenchcoat und klopfte mit ihrem Regenschirm genervt auf den Asphalt. »Den Automobilclub habe ich schon vor einer halben Stunde angerufen.«

»Liegt’s vielleicht an der Batterie, Mrs. Shoeffel? Ich habe ein Anlasserkabel in meinem Auto. Soll ich versuchen, Ihren Wagen zu starten?«

»Nennen Sie mich doch bitte Arline«, sagte die Richterin. »Ich danke Ihnen für Ihr Angebot, aber bestimmt kommt gleich der Pannendienst.«

»Ich habe schon mal über eine Stunde auf Hilfe gewartet«, sagte Carolyn. »Lassen Sie mich doch einen Blick unter die Motorhaube werfen. Genau an dieser Stelle wurde letztes Jahr eine Studentin vergewaltigt.«

»O ja, ich erinnere mich«, entgegnete die Richterin. »Sie hieß Maggie McDonald.« Nach einem prüfenden Blick über den Parkplatz fügte sie hinzu: »Dieser Platz müsste viel besser beleuchtet sein. Das hätte schon letztes Jahr geschehen sollen. Hier ist es viel zu dunkel. Ich spreche morgen sofort mit dem Verwaltungsrat der Schule und stelle einen entsprechenden Antrag.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich versuche, Ihren Wagen zu starten?«, fragte Carolyn, nahm ihren Rucksack von den Schultern und streckte die Hand nach der Tür des Acura aus.

»Nein, natürlich nicht«, entgegnete Richterin Shoeffel und gab Carolyn die Autoschlüssel. »Eigentlich wollte ich bei verschlossenen Türen im Wagen warten. Aber ich hatte Angst, der Fahrer des Abschleppwagens könnte mich übersehen. Für eine Frau in meiner Position gebe ich wohl kein gutes Beispiel ab, wie?«

Carolyn steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte ihn um. Sie hörte nur ein Klicken. Nach einem weiteren Versuch stotterte der Motor kurz und starb wieder ab. Nachdem sie das Gaspedal ein paar Mal durchgetreten hatte, wartete sie eine Weile und startete wieder. Dieses Mal sprang der Motor gleich an.

Die Richterin stand am offenen Fahrerfenster und sah Carolyn zu.

»Lassen Sie den Motor ein paar Minuten laufen, ehe Sie losfahren«, riet Carolyn ihr. »Ich glaube, es liegt am Anlasser, oder die Benzinpumpe funktioniert nicht richtig. Wenn der Motor nicht wieder abstirbt, können Sie dem Pannendienst absagen. Ich fahre dann bis zu Ihrem Haus hinter Ihnen her.«

»Es gefällt mir gar nicht, Ihnen derartige Umstände zu machen.«

Carolyn winkte lächelnd ab, ehe sie sagte: »Ich habe eine Diskette mit meinem Referat auf Ihren Schreibtisch gelegt. Zur Pause war ich noch nicht fertig damit und bin deswegen länger geblieben. Da ich allein erziehende Mutter mit zwei Kindern und einem aufreibenden Beruf bin, mache ich mir vielleicht zu große Hoffnungen, mein Studium erfolgreich abschließen zu können.«

»Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen«, entgegnete Arline und hob Schweigen gebietend eine Hand. »Wären Sie mir nicht zu Hilfe gekommen, hätte ich mich wahrscheinlich in einer gefährlichen Lage befunden. Haben Sie von dem Mädchen gehört, das letztes Wochenende vergewaltigt wurde?«

»Ja«, sagte Carolyn, nahm ihren Rucksack vom Beifahrersitz und stieg aus. »Die Polizei hat den Täter identifiziert. Und ich bin zufällig seine Bewährungshelferin.«

»Großer Gott«, sagte Arline und sah Carolyn schockiert an. »Kein Wunder, dass Sie keine Zeit hatten, Ihr Referat zu schreiben. Wie erleichtert Sie sein müssen, dass die Polizei ihn so schnell gefasst hat.«

»Er wurde festgenommen? Sind Sie sicher? Wann denn?«, fragte Carolyn aufgeregt.

»Ich habe die Nachricht heute Abend ein paar Minuten vor Vorlesungsbeginn im Radio gehört. Sein Name ist Edward Downly. Heißt so der Mann, der Ihrer Bewährungsaufsicht unterstand?«

»Ja«, sagte Carolyn nur und dachte: Wenigstens kann ich heute Nacht ruhig schlafen, weil sich der Schnelle Eddie nicht mehr auf der Suche nach einem neuen Opfer auf der Straße rumtreibt. Sie fragte sich jedoch, warum weder Brad noch jemand vom Polizeirevier ihr mitgeteilt hatte, dass Downly verhaftet worden war. Vielleicht hatte sich die Richterin geirrt und im Radio war nur die Identität des Täters bekannt gegeben worden.

Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, checkte ihre Mailbox und hörte Brads Nachricht ab: »Hab ich dir nicht gesagt, dass er geschnappt wird, ehe es dunkel wird? Die Cops haben ihn in einer seiner Stammkneipen an der Ecke Clairmont und Owens aufgegriffen. Die hattest du in seiner Akte vermerkt.«

»Gott sei Dank«, sagte Carolyn zu Richterin Shoeffel und steckte das Handy wieder in ihre Tasche. »Es ist schrecklich, wenn ein Mann, für den man verantwortlich ist, so eine abscheuliche Tat begeht.«

»Wie geht es dem Mädchen?«, fragte Arline mitfühlend und legte Carolyn ihre Hand auf die Schulter.

»Die Ärzte glauben, dass die Kleine wieder ganz gesund wird«, antwortete Carolyn und jetzt herrschte zwischen den beiden Frauen ein unausgesprochenes Verständnis. »Physisch, jedenfalls. Da Downly sein Opfer auch gewürgt hat, war eine Schädigung des Gehirns zu befürchten. Aber eins steht fest: Sie wird sich in ihrem Leben nie mehr sicher fühlen. Dieser Kerl stand unter meiner Beobachtung. Und ich habe nichts gemerkt.« Mit den Fingern wischte sie sich eine Träne aus dem linken Auge. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie mit meinen Sorgen belaste. Dabei tragen Sie weitaus mehr Verantwortung als ich.«

»Gäbe es nur eine Möglichkeit, diese schrecklichen Verbrechen zu verhindern«, entgegnete Arline und setzte sich ans Steuer ihres Wagens. »Eines Tages werden wir statt Straßenlaternen an jeder Ecke überall Überwachungskameras haben.«

Da Carolyn in Gedanken noch bei Eddie Downly war, reagierte sie nicht gleich auf die Bemerkung der Richterin. »Wird es Ihrer Meinung nach dazu kommen?«, fragte sie schließlich. »Ich weiß nur, dass dieses Überwachungssystem in einigen europäischen Städten zu bemerkenswerten Erfolgen geführt hat.«

»Ich sehe keine andere Möglichkeit«, entgegnete Arline. »Die Todesstrafe ist kein wirksames Abschreckungsmittel, denn Gewalttäter denken kaum an die Folgen, geschweige denn die Konsequenzen ihrer Verbrechen. Wird solchen Personen jedoch bewusst, dass jeder ihrer Schritte überwacht wird, führt das unweigerlich zur Senkung der Kriminalitätsrate.«

Mittlerweile war es schon nach zehn und Carolyn musste nach Hause. Ihre Tochter schlief jetzt zwar normalerweise schon, aber sie wollte noch etwas Zeit mit ihrem Sohn verbringen.

»Wo wohnen Sie denn?«, fragte Carolyn.

»In den Skyline Estates«, entgegnete Arline. »Sie sagten, Sie fahren hinter mir her, damit ich auch sicher nach Hause komme. Darf ich mich dafür mit einem Abendessen revanchieren? Mittags, während der Sitzungspausen, habe ich leider meistens Besprechungen.«

»Das ist wirklich nicht nötig«, winkte Carolyn ab. »Ich hole jetzt mein Auto. Es ist ein weißer Infinity.«

»Warten Sie, Carolyn«, rief Arline durchs offene Fahrerfenster. »Ich möchte Ihnen noch sagen, dass Sie in meinen Vorlesungen sehr gute Arbeit leisten. Aus Ihnen wird mal eine ausgezeichnete Anwältin. Und das sage ich nicht aus Höflichkeit oder weil Sie mir heute Abend geholfen haben.«

»Danke«, sagte Carolyn, winkte und lief zu ihrem Wagen. Wie schön, dass dieser Tag, der so katastrophal begonnen hat, doch noch positiv endet, dachte sie. Dem Gericht werde ich ein entsprechendes Strafmaß für Eddie Downly vorschlagen. Dabei zählte sie in Gedanken bereits alle Anklagepunkte auf. Und den Rest würden die Mithäftlinge besorgen. Selbst die hartgesottensten Verbrecher verabscheuen Kinderschänder. Und Downly würde nur mit viel Glück die Torturen seiner Mitgefangenen im Knast überleben.

»Gewöhn dich schon mal daran, deinen Arsch hinzuhalten, Downly«, sagte Carolyn grimmig, schaltete die Alarmanlage aus und stieg in ihren Infinity. Als Neunzehnjähriger war der Schnelle Eddie noch ein schlanker, junger Mann mit glatter Haut und etwas weichen, ziemlich weiblichen Gesichtszügen. Die Machos würden ihn lieben und vor seiner Zelle Schlange stehen. Doch zuerst würde er brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt werden.

Das zweistöckige Haus stand im North Hollywood-Viertel von Los Angeles. Der Fahrer parkte seinen schwarzen Jeep Cherokee am Randstein und zog die Handbremse an, damit der Wagen nicht den Hügel hinunterrollte. Die beiden Männer stiegen aus und gingen den mit Steinplatten belegten Weg zur Haustür hoch. Der Größere, ein dunkelhaariger Mann Ende vierzig mit ordentlich getrimmtem Backen- und Schnauzbart, stieß sich den Kopf an einem Ast.

»Der Scheißgarten ist ja völlig verwildert, Pete. Ich komme mir vor wie in einem Dschungel«, sagte Boyd Chandler wütend und zerbrach den dicken Ast, als wäre er ein Zweig. Chandler trug ein blaues Strickhemd und dunkle Hosen. »Der Chief könnte doch wenigstens die Bäume stutzen lassen.«

»Er ist doch die meiste Zeit sinnlos betrunken«, entgegnete Pete Cordova. Er war klein, hatte eine olivfarbene Haut, ergrauendes Haar und trug Jeans und ein schwarzes Sweatshirt. »Wahrscheinlich sieht er die verdammten Bäume nicht einmal.«

»Auch wenn er ein Schluckspecht ist«, wies Boyd seinen Kumpel zurecht, »ist er schließlich noch immer stellvertretender Polizeipräsident von Los Angeles.«

Die beiden traten auf die Veranda. Während Pete auf die Türklingel drückte, nahm Boyd ein Päckchen Kaugummi aus seiner Tasche, steckte ein Stück in den Mund und sagte: »Wie gern ich jetzt eine Zigarette rauchen würde.«

»Ich weiß gar nicht mehr, wann du aufgehört hast zu rauchen«, sagte Pete.

»Vor drei Jahren.«

»So lange ist das schon her. Und du bist immer noch süchtig?«

»Klar«, entgegnete Boyd. »Es gibt Bedürfnisse, auf die man nie mehr verzichten möchte. Hat man erst einmal davon gekostet. Du weißt schon, was ich meine.«

Pete lachte nur.

Eine hübsche Latina öffnete ihnen die Tür, senkte den Blick und forderte die beiden Männer mit einer Handbewegung zum Eintreten auf.

»Mr. Harrison erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer«, sagte die Haushälterin. »Möchten Sie Kaffee oder kaltes Sodawasser?«

»Bring uns ein paar Bier, Süße«, sagte Boyd, ließ den Blick über ihren wohlgeformten Körper schweifen und starrte dann auf ihren üppigen Busen. Unter dem dünnen Stoff ihres weißen Baumwollkleides zeichneten sich ihre Brustwarzen deutlich ab.

»Tut mir Leid«, sagte die junge Frau. »Mr. Harrisons Arzt hat Alkohol im Haus verboten.«

Die beiden Männer sahen sich an. Dann flüsterte Boyd: »Wie sich die Dinge doch ändern. Wenn er nüchtern ist, kriegen wir noch mehr Ärger.« Den Blick auf die schwingenden Hüften der jungen Frau gerichtet, fügte er hinzu: »Ob der Chief dieses Klasseweib fickt?«

»Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete Pete. »Diese Frau ist eine Lady, Mann. Was sollte sie wohl mit einem ausgebrannten alten Saufsack wie Harrison anfangen?«

Boyd und Pete gingen in das nur schwach beleuchtete Zimmer. Harrison lag mit weit gespreizten Beinen in seinem Ruhesessel aus braunem Leder. Der Achtundfünfzigjährige starrte seine Besucher aus wässerigen Augen, die einmal haselnussbraun gewesen waren, hinter dicken Brillengläsern an. Unter einem Frottee-Bademantel trug er einen Pyjama und seine Füße steckten in pelzgefütterten Hausschuhen. Der Boden neben dem Ruhesessel war mit Zeitungen übersät und auf dem kleinen Beistelltisch standen lauter Fläschchen mit Tabletten.

»Setzt euch!«, befahl Charles Harrison und deutete zum Sofa. Nachdem er die beiden eine Weile mit eisigem Blick fixiert hatte, sagte er langsam, jedes Wort abwägend: »Ich habe darauf vertraut, dass ihr euch um die Sache kümmert. Metroix sollte hinter Gitter verrotten.«

Boyd räusperte sich und hätte dabei fast seinen Kaugummi verschluckt. Er nahm ihn aus dem Mund und legte ihn in einen Aschenbecher. »Wir haben die Leute von der Bewährungshilfe unter Druck gesetzt, Chief«, erklärte er. »Das Problem dabei ist, dass dieses Jahr drei neue Mitarbeiter eingestellt wurden.«

»Habt ihr auch mit denen gesprochen?«

»Wir haben’s versucht«, mischte sich jetzt Pete ein, der seinen ehemaligen Vorgesetzten eher Mitleid erregend als bedrohlich empfand. Er hatte Charles Monroe Harrison in dessen besten Jahren erlebt, einen gut aussehenden, gebildeten und redegewandten Mann auf dem Höhepunkt seiner Karriere – ein aufsteigender Stern in der Welt der Exekutive. Doch nach dem Tod seines siebzehnjährigen Sohnes war Harrisons Leben zerbrochen. Madeline, seine Frau, hatte wegen eines »chronischen Erschöpfungssyndroms« Jahre in einem Sanatorium verbracht. Heutzutage, dachte Pete, gibt es für jede Krankheit einen schicken Namen. Denn Mrs. Harrison hatte schlicht und einfach einen Nervenzusammenbruch erlitten. Und Charles Harrison hatte seinen Kummer in Alkohol ertränkt. Und so wie er heute Abend aussah, würde der Alkohol ihn umbringen.

»Wir haben alles getan, was wir konnten, Chief«, sagte er jetzt. »Die für Metroix zuständigen Bewährungshelfer regelmäßig zum Abendessen eingeladen ... ihnen gesagt, wie gefährlich der Kerl sei und dass sein psychologisches Profil eindeutige Hinweise enthalte, dass er wahrscheinlich wieder töten würde, sollte er entlassen werden. Wir haben ihnen sogar das Foto von Tim im Football-Dress gezeigt.«

Pete verstummte, da er sah, wie Harrison von Gefühlen überwältigt mühsam nach Luft rang, und redete erst weiter, als sich der Vizepräsident etwas beruhigt hatte.

»Die Sache ist doch jahrelang ziemlich gut gelaufen, bis wir es mit dieser Frau zu tun bekamen, eine der Neuen in der Bewährungshilfe. Als Erstes wollte sie unsere Ausweise sehen und als wir zugeben mussten, dass wir offiziell nicht mehr im Polizeidienst sind, hat sie uns einfach die Tür vor der Nase zugeknallt.«

»Ja«, stimmte Boyd zu und zuckte nervös die Schultern. »Ich habe sie später noch einmal angerufen und um eine weitere Unterredung gebeten. Als wir Druck auf sie ausüben wollten, hat uns ihr Mann mit seiner Knarre vom Grundstück gejagt.«

»Ich habe euch Idioten doch gesagt, dass ein derartiges Vorgehen nur das Gegenteil bewirkt. Womit habt ihr der Frau gedroht? Dass ihr ihr die Beine brechen würdet?«

»Nicht direkt«, mischte sich Boyd jetzt mit einer vagen Handbewegung ein. »Aber ihr Sohn besucht die letzte Klasse der High School. Ich habe ihn beschattet und dabei ertappt, wie er mit seinen Freunden Hasch geraucht hat. Vorher habe ich mich nach seinen Schulleistungen erkundigt. Dieser kleine Scheißer bekommt ein Stipendium für eine dieser hochgestochenen Unis im Osten ... Harvard, glaube ich.«

»Princeton«, korrigierte Pete seinen Partner und dachte voll Neid: Könnte ich doch noch einmal von vorn anfangen. Der Tag, an dem er zum Polizeibeamten vereidigt worden war, gehörte zu den stolzesten Augenblicken in seinem Leben. Mehrere Mitglieder seiner Familie hatten im Polizeidienst schnell Karriere gemacht und als Latino-Cops einen hohen Status erreicht. Aber Pete hatte nur einen High-School-Abschluss und wenn ein Beamter nicht der Sicherheitspolizei zugeteilt wurde, zählten zehn Jahre Dienst als Cop wenig. Und er und Boyd befanden sich in einer noch schlimmeren Situation, denn sie waren aus dem Polizeidienst entlassen und zu einer Haftstrafe verurteilt worden.

»Ich habe ihr nur gesagt, dass auf der Uni ziemlich strikte Regeln bezüglich des Konsums von Rauschgift gelten«, erklärte Boyd, »und ihr Sohn sein Stipendium verlieren könnte.«

»Metroix hat schon eine viel längere Haftstrafe abgesessen als die meisten, die für eine solche Tat verurteilt wurden«, fügte Pete sichtlich nervös hinzu. »Und nicht nur das. Der Kerl war sogar mit dem Gefängnisdirektor dick befreundet. In seinem Bericht hat er Metroix als mustergültigen Gefangenen eingestuft.«

»Dieser Bastard hat meinen Sohn umgebracht!«, sagte Harrison mit erstarrter Miene. »Und ihr zwei Schwachköpfe wagt es, hierher zu kommen und mir zu erzählen, Metroix sei ein mustergültiger Gefangener gewesen? Geht mir aus den Augen!«, schrie er mit Speicheltröpfchen in den Mundwinkeln. »Ihr ekelt mich an. Ihr wart schon als Cops nichts wert und jetzt seid ihr völlige Nieten.«

Pete räusperte sich und warf Boyd einen fragenden Blick zu. Was sollten sie als Nächstes tun? Während ihres Streifendienstes hatten sie eines Nachts einen renitenten Einbrecher festgenommen und Boyd hatte den Mann, der mit Handschellen gefesselt war, so verprügelt, dass ein Gehirnschaden zurückgeblieben war. Um seinen Partner zu decken, hatte Pete in seinem Bericht falsche Angaben zum Tathergang gemacht, ohne zu wissen, dass mehrere Personen – darunter ein Reporter der Lokalzeitung – Zeugen dieses Vorfalls gewesen waren. Beide Polizisten waren zu drei Monaten Haft verurteilt worden. Am Tag ihrer Entlassung hatte Chief Harrison vor dem Gefängnis in seinem Wagen gewartet. Mit zwanzig Riesen Cash in einem Koffer. Seitdem hatte der Chief jedes Jahr mit zwanzig Riesen dafür gesorgt, dass Daniel Metroix im Knast blieb.

Im Laufe der Jahre waren die beiden Excops immer mehr in die Unterwelt abgedriftet und hatten sich mit dem organisierten Verbrechen und Drogendealern eingelassen. Weder Pete noch Boyd waren direkt an Diebstählen oder Drogendeals beteiligt, lieferten den Gangstern jedoch wertvolle Informationen über polizeiliche Ermittlungen, die sie von ihren verbliebenen alten Kontakten im Polizeidienst bekamen. Die Summe, die Harrison ihnen zahlte, war nichts als Peanuts für die beiden. Aber sie hatten aus Respekt für ihren ehemaligen Boss weiter für ihn gearbeitet.

»Vergesst es«, sagte Harrison jetzt mit versagender Stimme, griff mit zitternder Hand nach einem Fläschchen auf dem Beistelltisch, schüttelte ein paar Pillen heraus, warf sie sich in den Mund und spülte sie mit Wasser hinunter. »Meine Leber ist kaputt. Und Alkoholiker kommen nicht als Erste auf die Warteliste für eine Transplantation. Doch ich darf nicht sterben, solange dieser Scheißkerl frei rumläuft. Habt ihr mich verstanden? Ich habe noch zweihundert Riesen auf meinem Wertpapierkonto.«

»Wie schön, dass Sie Geld genug haben, um einigermaßen gut leben zu können«, sagte Pete und stand auf. »Es gibt nur ein Problem, Chief: Boyd und ich, wir sind keine Auftragskiller.«

Pete wollte zu Harrison gehen, um ihm vielleicht ein letztes Mal die Hand zu schütteln. Er war kein böser Mensch, sondern nur ein todkranker Mann, der nie über den Verlust seines Sohns hinweggekommen war. Doch Pete blieb nach ein paar Schritten abrupt stehen, denn plötzlich sah er sich anstelle von Harrison. Und von Bitterkeit zerfressen. Was würde er tun, sollte jemand am Tod eines seiner Kinder schuld sein? Er machte auf dem Absatz kehrt und folgte seinem Partner zur Tür.

»Zweihundert Riesen sind eine Menge Geld«, rief Harrison ihnen, jetzt wieder mit kräftiger Stimme, nach. »Ich habe euch genau im Auge behalten und bin über jedes eurer Verbrechen und jeden Gauner, mit dem ihr euch eingelassen habt, seit ihr gefeuert wurdet, bestens informiert. Ein paar Anrufe genügen und ihr verbringt den Rest eures Lebens hinter Gitter. Aber wenn ihr mich jetzt im Stich lasst und zu dieser Tür rausmarschiert, kann es natürlich auch passieren, dass ihr nicht mal mehr lange genug lebt, um das Gefängnis von innen zu sehen.«

Pete Cordova hatte schon längst befürchtet, dass ihre Unterredung auf diese Weise enden könnte. Er hatte eine wunderbare Frau und zwei entzückende Töchter. Er und sein Partner durften keinesfalls riskieren, dass ihre Verbindungen zur Unterwelt aufgedeckt wurden, denn Chief Harrison hatte sowieso nichts mehr zu verlieren.

»Komm Boyd«, sagte er deshalb zu seinem Kumpel und zupfte ihn am Ärmel. »Wir gehen. Mit diesem Mann ist nicht mehr vernünftig zu reden. Ab sofort stehen Sie ganz alleine da, Chief.«

»Ihr kommt zurück«, krächzte Harrison und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen. »Und wenn nicht, finde ich einen anderen, der meinen Auftrag erledigt.«

Nachdem die beiden Männer aus dem Haus gegangen waren, sagte Boyd: »Ich wollte Metroix an dem Abend, als er Tim umgebracht hat, fertigmachen. Aber Greenly hat den Schwanz eingezogen. Es hätte uns allen viel Kummer erspart, wenn er auf mich gehört hätte.«

Pete Cordova hielt den Mund und ging zum Wagen. Jetzt war die Zeit gekommen, seinem Leben eine neue Wende zu geben. Das war er seiner Familie schuldig. Und als Erstes musste er sich von Boyd Chandler trennen. Er bezweifelte, dass Chief Harrison seine Drohung wahr machen und sie wegen ihrer illegalen Geschäfte anzeigen würde. Aber er traute Boyd nicht über den Weg und befürchtete, sein Partner könnte hinter seinem Rücken das Angebot des stellvertretenden Polizeipräsidenten annehmen. Denn zweihundert Riesen waren eine Menge Geld für einen notorischen Spieler wie Boyd.

Sullivans Gesetz/ Sullivans Rache/ Dunkler Garten

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