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2. Der Zustand der Pflichtverteidigung
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Die Pflichtverteidigung hat keinen guten Ruf. Unter juristischen Laien hält sich hartnäckig die Auffassung, die Pflichtverteidigung sei eine Art Verteidigung „zweiter Klasse“. Dies sieht das Gesetz zwar nicht vor. In der Praxis bewahrheitet sich diese kritische Einschätzung allerdings nur allzu oft. Die Gründe für den oft beklagenswerten Zustand des Institutes der Pflichtverteidigung liegen auf der Hand.
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Zum einen ist die Pflichtverteidigung für Rechtsanwälte, die sich auf Strafverteidigungen spezialisiert haben, finanziell unattraktiv. Zwar hat der Gesetzgeber mit dem Erlass des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) die Vergütung für die Pflichtverteidigung nicht unerheblich erhöht. Dennoch ist die Tätigkeit zu den gesetzlichen Gebühren des Pflichtverteidigers auch jetzt noch nicht einmal kostendeckend. Um überhaupt die Kosten einer durchschnittlichen Strafrechtskanzlei tragen, die Renten- und Krankenversicherung bezahlen und dann noch einen eigenen Verdienst erarbeiten zu können, muss der Anwalt mit einem Stundensatz von mindestens 125 € netto rechnen.[6] Viele gute Verteidiger drängen sich also gar nicht erst nach Pflichtverteidigungsmandaten. Werden sie vom Gericht bestellt, bearbeiten sie das Mandat zwar nicht absichtlich nachlässig. Der zeitliche Einsatz für das Pflichtverteidigermandat ist jedoch in vielen Fällen limitiert. Schließlich haben die Verteidiger daneben Wahlmandate, insbesondere solche mit vereinbarten Zeithonoraren, zu bearbeiten, von deren Einnahmen sie den Kanzleibetrieb aufrechterhalten und ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen. Für die Pflichtverteidigung bleibt dann mitunter nicht so viel Bearbeitungszeit, wie eigentlich für eine optimale Verteidigung erforderlich wäre.
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Zum anderen gibt es Kollegen, die versuchen, fast ausschließlich von Pflichtverteidigungen zu existieren. Diese Verteidiger bekommen in der Regel den größten Teil der Mandate durch gerichtliche Beiordnung, ohne zuvor als Wahlverteidiger für den Angeklagten tätig geworden zu sein. Sie befinden sich somit in finanzieller Abhängigkeit von den Gerichtsvorsitzenden, die sie mit Verteidigerbestellungen bedenken. Sie müssen sich bei jeder Verfahrensaktivität, die sie erwägen, gleichzeitig fragen, ob sie hierdurch nicht den Vorsitzenden verärgern und sich damit die Chance weiterer Beiordnungen verspielen könnten. Denn es ist schlichtweg ein Märchen, dass die Vorsitzenden der Spruchkörper qualifizierte und versierte Verteidiger schätzen. Sie schätzen in der Regel vielmehr so wenig Arbeit wie möglich und damit einen „kurzen Prozess“, von ihnen irreführend als „effizientes Verfahren“ bezeichnet. Ein Verteidiger, der tatsächlich die Rechte des Angeklagten durchzusetzen versucht und insbesondere nachhaltig auf die Einhaltung der den Mandanten schützenden Formen der Strafprozessordnung drängt, wird als Störenfried, als „Konfliktverteidiger“, begriffen. Er bereitet dem Gericht nämlich aus dessen Sicht nur „unnötige Arbeit“. Dies führt dann dazu, dass aus Rücksicht auf weitere Beiordnungen viele aussichtsreiche Verteidigungsaktivitäten unterbleiben und sogar erfolgversprechende Rechtsmittel nicht eingelegt werden. Hilbers/Lam bezeichnen dieses Phänomen zutreffend als „Beiordnungsprostitution“[7]. Ein Teil dieser Kollegen verfügt zudem auch nicht über eine hinreichende Qualifikation als Verteidiger.
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Ein extremer Ausdruck dieses Phänomens ist die widerspruchslose Hinnahme der Beiordnung ohne Stellung eines Aussetzungsantrages zur Vorbereitung der Verteidigung in Fällen, in denen in laufender Hauptverhandlung der „Wahlpflichtverteidiger“, der das Vertrauen des Angeklagten genießt, wegen Terminkollisionen entpflichtet wird.
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Es liegt an den Verteidigern, den bedenklichen Zustand der Pflichtverteidigung nachhaltig zu verbessern. Auch die fachlich guten und engagierten Verteidiger sollten sich nicht davor scheuen, Pflichtverteidigermandate anzunehmen und diese mit demselben Einsatz zu bearbeiten wie Wahlmandate.[8]
Teil 1 Das Mandat des Strafverteidigers › II. Die Pflichtverteidigung › 3. Die Fälle der notwendigen Verteidigung