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Tag 1

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Um sechs Uhr morgens, nach dem Wecken, habe ich dem Beamten die Hungerstreik-Erklärung übergeben. Der ist wütend geworden und hat das Blatt Richtung Nachttisch geschleudert. Es ist allerdings nicht weit genug geflogen, sondern auf dem Boden gelandet. Milizionäre mögen es nicht, wenn jemand in den Hungerstreik tritt. Dann hat er mich in die Dienststube geschleift.

Der diensthabende Major ist auch erst mal ausgeflippt, hat sich aber dann zusammengerissen und einen auf verständnisvoll gemacht. Fünfzehn Minuten hat er mit mir überwiegend in Monologform gesprochen und ist zum Schluss auf die Ukraine gekommen, er stammt zwar ebenfalls von da, ist aber mittlerweile ein glühender Putin-Anhänger. Anschließend hat er mich zur Tür begleitet und mir mitgeteilt, ich solle meine Erklärung vor dem Frühstück abgeben und die Leute nicht am frühen Morgen schon verrücktmachen. Er hat sich natürlich geärgert, dass es ausgerechnet in seiner Schicht zu diesem Zwischenfall gekommen ist, alle ärgern sich, wenn in ihrer Schicht etwas Unangenehmes passiert, als würden am Jahresende dafür schlechte Noten verteilt. Also gut, das Frühstück ist um acht, dann warte ich eben so lange.

Ich wurde in die Abteilung zurückgebracht und um acht wieder in die Dienststube, da war die Natschalstwo, die Leitung, da, um mit mir zu reden. Also haben wir geredet. Als die Beamten hörten, dass ich – wenn auch utopische – politische Forderungen stelle, waren sie sichtlich erleichtert. Sie baten mich, eine schriftliche Erklärung abzugeben, dass ich keine Beschwerden gegenüber dem Lager erhebe. Ich habe das abgelehnt: Meine Worte reichen ihnen nicht, sie brauchen unbedingt ein Papierchen, hinter dem sie sich verstecken können. In diesem System vertraut man niemandem, einem Knacki sowieso nicht, aber auch niemandem andern. Ich solle doch, schlugen sie mir vor, auf meinen Anwalt warten und die Entscheidung mit ihm zusammen treffen. Ich habe das abgelehnt: Meine Entscheidung ist gefallen, meinen Anwalt brauche ich dazu nicht. Sie wollten sich noch einmal vergewissern, dass ich keine Beschwerde gegen das Lager einreichen will. Ich bestätigte das ein weiteres Mal und verwies darauf, dass ich in den ganzen vier Jahren Haft noch keine einzige Beschwerde eingereicht hätte. Keine Ahnung, ob sie mir geglaubt haben, jedenfalls war das Gespräch zu Ende. Ich kam ins Stakan, das ist so ein vergitterter Käfig, in dem sie einen stehen und warten lassen. Ein Gitterkäfig in der Dienststube. Ich musste vier Stunden stehen. In der Zeit kam praktisch die ganze Leitung vorbei, einer nach dem anderen. Ein und dieselben Fragen und Antworten. Sie waren höflich, haben mir nicht gedroht, sondern mich nur vor den Folgen gewarnt, vor allem für meine Gesundheit. Haben mich beschuldigt, ich würde mit anderen Häftlingen ein Komplott schmieden und mit ihnen verdächtige Dinge anstellen. Haben behauptet, ich ließe mich ausnutzen. Darauf habe ich ihnen geantwortet, ich würde alles allein machen und ließe mich nicht manipulieren. Die stundenlangen Gespräche endeten alle mit demselben Dialog: »Wir haben dich nicht hier eingesperrt!« – »Ich kämpfe ja auch nicht gegen euch!«

So viele nette Milizionäre habe ich nicht mal in Fernsehserien über nette Milizionäre gesehen. Nach drei Stunden im Stakan bekam ich sogar einen Hocker. Natürlich sind die Vollzugsbediensteten in Gefängnissen und Lagern keine Milizionäre, aber die Häftlinge sagen trotzdem oft »Miliz«, wenn sie kein Jargonwort verwenden können. Irgendwann gegen Mittag haben sie mich gefilzt und in eine Einzelzelle gebracht. Das war zu erwarten, wer in den Hungerstreik tritt, wird isoliert. Damit der Hungerstreik auch tatsächlich korrekt durchgeführt wird und man den renitenten Geist in der Nähe hat, um ihn entsprechend zu bearbeiten. Bearbeiten werden sie mich nicht, so viel ist klar, aber sie werden auf mich einreden und warten, bis ich von selbst aufgebe.

Die Zelle kannte ich, nach der Ankunft im Lager war ich hier gleichzeitig in Quarantäne und in Einzelhaft gewesen, fünfzehn Tage lang. Ein kleines, einzeln stehendes Gebäude des Sicherheitsdienstes, im ersten Stock sind ein paar Büros, unten ein paar Zellen und die Kleiderkammer. Die Zelle ist geräumig, wie für ein Double, zehn Quadratmeter, für einen Einzelnen ein richtiges Gemach, bis jetzt hatte ich immer irgendwelche winzigen Einzelzellen. Die Ausstattung war Standard: hochklappbare Doppelpritsche, Tisch mit Sitzbank, Hockklo, Waschbecken, kleines Regal. Und natürlich eine doppelt vergitterte Tür und ein schmales, doppelt vergittertes Fenster mit einer kleinen Lüftungsklappe. In der Ecke lauerte wie eine Spinne das allsehende Auge der Videodauerüberwachung. Knast all inclusive. Der einzige – tatsächlich schwerwiegende – Nachteil war der zwar große, aber kaum wärmende Heizkörper, die Zelle war ein Eckraum und deshalb kalt. Wie gemacht für lästige Hitzköpfe, hier konnten sie ein bisschen abkühlen. Das war ja auch der Sinn der Sache. Ich bekam Kleidung von hier, die genauso aussah wie meine, nur älter war, und die gleiche warme Unterwäsche. Warum auch immer. So ist es vorgeschrieben. Eine Logik sucht man in diesem System sowieso vergeblich. Hier geht’s nicht nach dem gesunden Menschenverstand, sondern nach den IDB1.

Ich habe mich schnell eingerichtet. Wie gesagt, kenne ich die Zelle ja schon, bis jetzt habe ich weder meine noch irgendwelche anderen Sachen bekommen. Ich schlage die Zeit tot, wärme mich an der lauen Heizung oder gehe in der Zelle auf und ab. Der hiesige Schlüsselwart hat mir vor dem Einschluss eine Matratze und Bettwäsche gegeben. Wir haben uns ein bisschen unterhalten. Der Schlüsselwart ist ein Häftling, der für die Verwaltung arbeitet, Sawchos und Aufseher in einem. Zertrümmerte Nase und Augen wie ein Folterknecht. Als ich vor einem halben Jahr hier in dieser Hütte2 saß, bin ich ihm zum letzten Mal begegnet. Dreizehn Jahre Knast, der hat alles gesehen. Er wollte wissen, warum ich das mache, er sucht nach verborgenen Motiven, Komplotts und den unweigerlichen Folgen. Sein Fazit am Ende des Tages: »Entweder bist du total bescheuert oder total schlau.«

Die Fressluke3 klappt zu. Einschluss. Ich lege mich in meinen Kleidern schlafen, ich habe den ganzen Tag gefroren. Der neue Ort, die Kälte, der Hunger, ich dachte, ich würde ewig nicht einschlafen, aber dann war ich ganz schnell weg.

1IDB für Interne Durchführungsbestimmungen von PWD, Prawila Wnutrennego Rasporjadka – die Regeln, an die sich der Gefangene zu halten hat. Hier und im Weiteren, falls nicht anders angegeben, die Anmerkungen des Autors.

2Zelle

3Kleines Fenster in der Zellentür zur Essensausgabe oder Kommunikation mit dem Wachdienst

Haft

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