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Tag 9

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Das Leben stabilisiert sich langsam und läuft in gewohnten Bahnen. Die Tage folgen aufeinander wie eine kopierte Seite der anderen. So ist es immer in diesem System, wenn man an einem neuen Ort Fuß gefasst hat. Tagsüber fühle ich mich einigermaßen, nur die Schwäche macht mir zu schaffen, besonders morgens, es kostet mich Kraft, das Bett zu machen und die Zähne zu putzen. Nachts friere ich schon weniger. (Letzte Nacht habe ich allerdings wieder lange wach gelegen und mir vorgestellt, dass ich mit meinen Kindern eine Wanderung mache.)

Das Ritual des Auf- und Abtragens der Balanda wird ständig erweitert. Jetzt trägt der Suppenkapo außer der weißen Kochjacke noch Gummihandschuhe. In dem halben Jahr, in dem ich in der Kantine gegessen habe, konnte ich bei keinem seiner Kollegen je Handschuhe entdecken, ohne größere Sorgfalt wanderten da die Finger von einem Teller zum nächsten. Und plötzlich wird auf Etikette Wert gelegt. Es dauert wahrscheinlich nicht mehr lange, und der Suppenkapo rückt in Kochmütze oder zumindest Barrett an.

Draußen ist Wind aufgekommen. Ein starker, kalter, schneidender Wind. Er rüttelt an der Scheibe, es klingt wie ein Stöhnen und Quietschen. Wer an einem großen Fluss im Norden lebt, weißt Bescheid. Wenn die Eisdecke reißt, wenn der Fluss aufbricht, wird eine große Menge Kälte frei, und dann bilden sich gegen Frühjahrsende starke Winde. So war es in Jakutsk, wo die Lena fließt. So ist es auch hier in Labytnangi am Ob. Der Wind weht eine Woche oder länger, und danach wird es warm. So haben mir zumindest die Einheimischen den Sachverhalt erklärt, und so ist es auch meistens. Wenn der Wind vorbei ist, wird es also endlich warm.

Das nächste Gespräch mit dem nächsten Leiter. Los ging’s ganz förmlich – Befinden, Beschwerden, Haftbedingungen, dann ging’s um banalere Dinge: Warum machst du das eigentlich, ändern kannst du sowieso nichts, du ruinierst dir bloß die Gesundheit, für immer und ewig usw. Dann kam wieder die Politik: Ein Saustall ist das da bei euch, die Ukraine fällt sowieso bald auseinander, du wirst doch nur ausgenutzt, solange sie dich brauchen, bist du gut genug, dann lassen sie dich fallen. Ich habe es aufgegeben, auf diese Floskeln irgendetwas zu erwidern, ich warte einfach, bis die übliche Tirade zu Ende ist. Dieser Mensch ist in seinem ganzen Leben noch nie in der Ukraine gewesen, war weder auf dem Maidan noch bei der Besetzung der Krim dabei und will mir als Experte erzählen, wie es dort wirklich aussieht. Das klassische Wissensrepertoire eines russischen Milizionärs, das sich aus der Rezeption lokaler Fernsehkanäle speist. Sogar 1:1 dieselben Formulierungen. Die ganzen vier Jahre, die ich hier bin, ein und dieselbe Leier. Noch ist die Ukraine allerdings nicht auseinandergefallen und noch hat mich niemand vergessen. Es steht also unentschieden. Wir beendeten unser Gespräch.

Ich war beim Arzt. Der hat mich zwei Tage nicht gesehen und sagt, ich sei eingefallen. »Du trocknest aus.« Er empfiehlt mir, mehr Wasser zu trinken. Was, noch mehr? Ich trinke ja schon sechs Tassen heißes Wasser pro Tag. Das sei zu wenig, sagt er, aber mehr schaffe ich nicht. Der Doktor ist sehr aufmerksam und fürsorglich, sogar einen Pickel auf der Stirn nimmt er ernst. Wie mir die Sonderbehandlung und Effekthascherei in diesem System auf die Nerven geht, um den einen springen alle rum und der andere muss sich die Pulsadern aufschneiden, damit er zum Zahnarzt darf, weil er die Schmerzen nicht mehr aushält. Gleichheit und Gerechtigkeit kannst du im Gefängnis voll vergessen.

Auf dem Weg »nach Hause« mischte sich Hagel in den Wind. Er flog fast parallel zum Boden und stach in die Augen. In Labytnangi ahnt wahrscheinlich niemand, dass die Leute woanders im Mai zum Picknick ins Grüne fahren.

Kaum habe ich an die Fressluke geschlagen, kommt der Wasserwart schon mit dem dampfenden Wasserkocher, er weiß immer schon im Voraus, was ich von ihm will. Er ist höflich und lächelt, aber auf persönliche Gespräche lässt er sich nicht mehr ein, offensichtlich hat er neue Anweisungen erhalten.

Ich lese Murakami zu Ende. Man verdirbt sich natürlich die Augen, wenn man bei diesem funzligen Licht in der Zelle liest, und ich habe schon vor längerer Zeit festgestellt, dass sich mein Sehen über die Jahre im Knast verschlechtert hat. Aber so lange ich noch etwas erkennen kann, lese ich weiter. Da stellt sich die philosophische Frage, was besser ist: als belesener Mensch im Dunkeln oder sehend in der Umnachtung der eigenen Unwissenheit zu sitzen? Ich bin hier vielen Menschen begegnet, die erst in der Einzelzelle angefangen haben zu lesen, vor Langeweile, und kaum waren sie entlassen, sind sie wieder in ihre alten Gewohnheiten verfallen: Tschifir trinken, rauchen, leeres Geschwätz. Ich habe meine Entscheidung schon längst getroffen.

Ich bin fertig mit Murakami. Ein sehr gutes Buch, wahrscheinlich eines seiner besten. An bestimmten Stellen erinnert es mich an David Lynch, nur eben in gedruckter Form. Murakami ist natürlich breiter. Ich denke, bei einem guten Autor oder Regisseur erwachsen alle Werke irgendwie aus einem Universum, und je größer, vielfältiger und ganzheitlicher das ist, umso begabter ist der Künstler. Murakami verfügt auf jeden Fall über eine eigene Welt, und ich finde sie spannend. Ein großes Dankeschön an ihn. Als ich das Buch zugeschlagen habe, war es, als würde ich mich von einem guten Freund verabschieden, mit dem ich eine Woche zusammen war, weil ich abreisen muss. Abgereist ist allerdings eher er, ich bleibe hier.

Haft

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