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Tag 5

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Die Nacht war übel. Weil ich gestern tagsüber ein paar Stunden geschlafen hatte, habe ich lange wachgelegen, und außerdem hatte ich schrecklich kalte Füße. Ich hatte zwar Socken an und lag unter der Decke, trotzdem sind die Füße zu Eisklumpen erstarrt. Vielleicht schafft es das Herz nicht, das Blut bis dahin zu pumpen, vielleicht liegt es auch an der Kälte, die Hände sind jedenfalls unter der Decke warm geworden und waren nicht mehr blau. Ich glaube, wenn ich liege, macht die Pumpe besser mit, dann ist es nicht so anstrengend wie im Sitzen oder Stehen. Als ich nachts mal rausmusste – aufgesprungen bin ich eigentlich nicht –, ist mir schlecht geworden, so ein Flimmern wie kurz vor der Ohnmacht. Ich habe es nur mit Ach und Krach wieder zurück ins Bett geschafft. Halb so schlimm, danach konnte ich mich ja ausruhen.

[…]

Halb sieben erschienen der Diensthabende und der Suppenkapo7 und brachten mir meine Ration direkt in die Zelle. Meine dreimal täglich auf dem Registriergerät erfasste Verweigerung der Essensaufnahme genügte nicht mehr, sie beschlossen, mich zu versuchen wie Jesus. Auf meine Frage, was dieser Zirkus solle, hieß es: »Das Essen wird dir zugeteilt, ob du es isst, ist deine Sache. In zwei Stunden holen wir es wieder ab.« Na, wenigstens nicht erst in zwei Tagen. Sie denken, der Anblick des Essens lässt mich schwach werden. Die Balanda verströmt keinen allzu starken und appetitlichen Geruch, außerdem habe ich Schnupfen, weil es in der Zelle so kalt ist, der Geruch ist also gar kein Problem. Damit mich das Essen auf dem Tisch, an dem ich sitze, lese und schreibe, nicht stört, stelle ich es weg, auf die obere Liege, direkt unter die Videokamera. Der Sack ist übrigens sehr gut, er ist lang, aus Winkelstahl geschweißt und hat eine Holzauflage. Wie praktisch! Trotz meiner Größe habe ich genug Platz, und er ist nicht kalt. Alle Zellen, in denen ich bislang saß, auch die Einzelzellen, hatten Eisenbetten, die kurz und unbequem waren. Auf denen schläft man miserabel und friert sich alles Mögliche ab, zumal die Matratzen in den Arrestzellen und Durchgangsgefängnissen furchtbar sind. Damit verglichen ist das hier schon fast ein königliches Lager.

Seit dem zweiten Tag, an dem ich meine Sachen einschließlich zweier Bücher bekommen habe, lese ich Murakami. Ich mag den Autor, habe schon viel von ihm gelesen und fand das meiste gut. Das jetzige Buch heißt »Die Chroniken des Aufziehvogels«. Murakami hat einen unnachahmlichen Stil, er schreibt einfach, im Wesentlichen über den Alltag, das Leben, die Beziehungen, ein bisschen Mystik und Philosophie sind auch dabei. Das ergibt einen coolen Mix. Hemingway schreibt auch einfach, aber seine Einfachheit ist anders, irgendwie rau, wie eine abgetragene Armee- oder Jägerjacke. Murakamis Einfachheit erinnert eher an das Hemd eines Schülers, Studenten oder kleinen Beamten. Habe ich eigentlich einen Stil, und wie ist er? Sein eigenes Schaffen kann man ja selbst nur schwer beurteilen. Ich bin ziemlich selbstkritisch, aber ich schreibe trotzdem weiter, wahrscheinlich weil ich einfach Spaß daran habe. So wie auch jetzt: Ich hatte mir das mit dem Tagebuch gar nicht vorgenommen und habe trotzdem angefangen, und eigentlich geht es ja ganz gut, wie gut, ist schwer zu sagen, aber vielleicht auch nicht nötig. Aber wie nenne ich denn nun mein Werk? »Tagebuch eines Hungerstreiks« oder »Chroniken eines Hungerstreiks«? Der erste Titel ist genauer, der zweite schöner. Sollen doch die Lektoren entscheiden. Wenn der Text überhaupt bei ihnen ankommt. Wenn ich es wirklich bis zur Redaktion des Textes schaffe, werde ich nichts mehr ändern, es kann ruhig so bleiben, wie es ist, das ist dann authentischer und ehrlicher.

Der tägliche Gang zum Krankentrakt. Ich habe es nicht weit, nur bis ins Nachbargebäude, eine halbe Minute. Draußen scheint die Sonne, die Temperaturen steigen spürbar. Der Polarwinter geht zu Ende. Vielleicht wird es dann auch in meinem Verlies wärmer. Gewichtskontrolle, Puls, Blutdruck, eine weitere Urinprobe. 82 Kilo, Azeton und Eiweiß im Urin. Der Kommentar des Arztes: »Nichts Außergewöhnliches«, alles wie erwartet, so ist es nun mal im Hungerstreik. Er wollte wissen, wofür ich zwanzig Jahre bekommen habe. Eine gute Frage. Das würde mich auch mal interessieren.

Hin und zurück werde ich vom DGLL8 begleitet. Er kontrolliert auch alle zwei Stunden die Anwesenheit und steht dem feierlichen Auftragen der Tagesration und deren Abtragen zwei Stunden später vor. Dieser Vorgang hat heute Formen eines Rituals angenommen. Der Suppenkapo, der an der Essenausgabe normalerweise nicht mal den Buschlat ablegt, schlüpft jetzt in eine weiße Uniformjacke – wie ein richtiger Koch –, und in diesem Aufzug trägt er unter der Aufsicht des Diensthabenden den Teller in die Zelle. Gefängnis-Feng-Shui oder Zirkus mit Pferdenummer. Wenn jetzt nur noch der DGLL, der in seiner Schicht eigentlich für das ganze Lager zuständig ist, zu mir Zutritt hat, wird die Sache langsam ernst. Offenbar ist die Miliz unzufrieden und zieht die Zügel an. Über Funk bringen sie jetzt jeden Tag einen einstündigen Vortrag zu den Internen Durchführungsbestimmungen, das hat es in den letzten Tagen nicht gegeben. Das Hin und Her mit dem Wasserkocher geht indessen weiter. Ein anderer Vollzugsbeamter hat auf meine Nachfrage bezüglich des konfiszierten Wasserkochers mit dem Verweis auf eine Verfügung der Leitung reagiert. Obwohl er ganz genau weiß, dass das eine Regelverletzung ist. Dieses System hat ein distinktives Merkmal: Wenn es einen Fehler gemacht oder eine offensichtliche Dummheit begangen hat, rudert es nicht zurück, sondern hält verbissen an der Entscheidung fest, woraus neue Fehler und Dummheiten resultieren, und zwar auf allen Ebenen, egal ob es nun um den Wasserkocher geht oder um eine zwanzigjährige Haftstrafe. Zum Glück kriege ich vom Schlüsselwart wenigstens immer mein heißes Wasser, manchmal ist es allerdings nur lauwarm, weil er nicht versteht, dass ich das Wasser nicht nur trinken, sondern mich auch daran wärmen will. Ich habe versucht, ihm das zu erklären, aber er ist im Moment nicht scharf auf ein Gespräch mit mir – er spürt, dass sich da über mir was zusammenbraut, also verschwindet er so schnell wie möglich in seinem unterirdischen Labyrinth.

7Häftling, der in der Kantine arbeitet und die Balanda austeilt.

8DGLL für Diensthabender Gehilfe des Lagerleiters von DPNK – Deschurnyj Pomoschtschnik Natschalnika Kolonii

Haft

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