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Tag 12

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[…]

Ich schaue aus dem Fenster. Es ist nicht groß, aber für eine Einzelzelle auch nicht zu klein. Ein Fenster mit Doppelrahmen und Doppelgitter, doch ich sehe trotzdem etwas. Die Aussicht ist mittelmäßig. Die Wand und das Dach der Baracke ein paar Meter weiter nehmen den größten Teil ein. Oben ist ein Stück Himmel. Der ist heute blau und von weißen Wolken durchzogen, keine grauschwarze Wolkenwand wie sonst. Immerhin ist ja Frühling. Wenn ich mich neben das Fenster stelle, sehe ich ein Stück Weg, auf dem manchmal Häftlinge in Reih und Glied marschieren oder ein Bediensteter vorbeiläuft. Zäune, Beete, die eher wie Sturzäcker aussehen, Stacheldraht. Etwas weiter weg sieht man noch eine Baracke, das Wirtschaftsgebäude und Versorgungsleitungen. Die Reste der Schneeberge, die dachten, die würden ewig hier liegen, was sich als falsch herausstellte, und die deswegen schwarz geworden sind vor Wut. Und direkt dahinter, etwas weiter unten, liegt die Stadt. Holzhäuser, Schuppen und Zäune, ebenfalls aus Holz, und weiter weg dann modernere Fünfgeschosser, die Rohre des Kesselhauses, andere Hochhäuser. Wegen der hinteren Baracke ist der Sperrstreifen, der das Lager von der Stadt trennt, nicht zu sehen, sodass der Eindruck entsteht, als befände sich das Lager mitten in der Stadt. Als müsste man bloß vor die Tür treten und auf dem schmalen Weg abwärts gehen, und schon stünde man in diesen Straßen, zwischen vereinzelten Autos und Menschen. Aber so ist es nicht. Das ist eine Illusion. Illusionen führen zu nichts.

In den verschiedenen russischen Gefängnissen, die ich in all den Jahren durchlaufen habe, hatte ich viele verschiedene Fenster, ich kann sie gar nicht alle zählen. Es war meistens schwierig, einen Blick nach draußen zu werfen, und wenn es doch ging, war die Scheibe meist so verstaubt, dass ich nichts erkennen konnte. Ein Fenster hatte so viele Gitter, dass ich selbst um die Mittagszeit, wenn die Sommersonne versuchte, zu mir vorzudringen, nur vier kleine Lichtpunkte auf dem Boden sah. In den Gefängnissen des russischen Geheimdienstes waren die Fenster auch klein, aber sauber, dafür allerdings mit einer dünnen Folie überzogen, meist befanden sie sich irgendwo oben in der Nähe der Zimmerdecke. Sie verrieten nur, ob draußen Tag oder Nacht war. In einer anderen Zelle ging das Fenster auf die Wand des Nachbargebäudes hinaus, es lag praktisch direkt an, drei Monate saß ich da im Halbdämmer, mit künstlichem Licht, und wusste mitunter nicht einmal, welche Tageszeit war. In seltenen Fällen fand ich in der Zelle ein normales, fast standardmäßiges Fenster vor. Ich kann mich an zwei solche Fenster erinnern. Aus beiden konnte ich die Stadt, die Natur, die weite Ferne und die untergehende Sonne sehen. Beide Male wurde mir ein solches Fenster zuteil, nachdem ich schwierige Zeiten in Stahlbetonhöhlen durchstehen musste, in denen ich schon vergessen hatte, was Sonnenlicht ist. Ich stand dann den halben Tag am Fenster und starrte auf die Landschaft. Kein freier Mensch würde dem auch nur die geringste Beachtung schenken: eine schmutzige Vorstadt, eine Straße, Steppe oder ein graues Wäldchen am Horizont. In diesem Moment waren sie für mich schöner als alle Gemälde dieser Welt.

An meinem jetzigen Fenster habe ich beim letzten Mal, nach meiner Ankunft, nur kurz gestanden, der Blick ist nicht so faszinierend, jetzt stehe ich sowieso selten am Fenster, vorher war ich in einem Lager, in dem ich den Himmel sehen konnte, und nicht in einem Keller. Ich habe am Fenster gestanden und leise Wyssozkis »Es ist noch nicht Abend« rezitiert. Das ging ans Herz, die Augen wurden feucht. Wyssozkis Gedichte haben es in sich, auch ohne Gitarre.

In den vielen Briefen, die ich früher bekommen habe, stand oft das Wort »Heldenmut«. Ich weiß nicht, ob ich heldenmütig bin, ich kann mich selbst schwer einschätzen. In einem Buch bin ich einmal auf eine Erklärung für dieses Wort gestoßen: Heldenmut ist, wenn jemand eine Sache in Angriff nimmt, obwohl er von vornherein weiß, dass sie scheitern wird. Ich falle nicht ganz unter diese Definition. Oft, ja sogar meistens habe ich Dinge in Angriff genommen, die andere für undurchführbar oder sogar für verhängnisvoll hielten. Ich war nie dieser Meinung, auch wenn ich damit allein dastand. Komischerweise hatte ich meistens früher oder später Erfolg. Es war mir auch egal, wie sich die anderen, die zunächst gezweifelt hatten, dann dazu äußerten, allerdings war ich, auch wenn ich mein Ziel erreicht hatte, danach nie richtig glücklich. Entweder war die ganze Aktion zu anstrengend oder ich hatte mich zu schnell an das Ergebnis gewöhnt oder was herausgekommen war, entsprach nicht ganz meinen ursprünglichen, idealen Vorstellungen, keine Ahnung. Wahrscheinlich hat das eher mit der Psyche zu tun: In der Vorstellung ist alles immer viel toller und angenehmer als in der Wirklichkeit. Vielleicht geht es allen Menschen so, vielleicht auch nur mir. Wir möchten glücklich sein, sind es aber nicht immer.

[…]

Draußen ist es wieder windig, gleichzeitig scheint die Sonne grell. Zwischenergebnis des Tages: Ich habe eine neue Gewichtsklasse erreicht: 79 Kilo.

Den ganzen Nachmittag dröhnte im Flur Rammstein in voller Lautstärke. Wahrscheinlich haben sie sich im ersten Stock mal wieder Problemfälle oder Neuzugänge vorgeknöpft. Grillrunde nennen sie das hier. Die laute Musik schluckt alle Töne, die bei dieser physischen und psychischen Akkordarbeit anfallen. Gegen Abend brach die Musik ab, draußen trampelte der Inspektor vorbei, um die »Bearbeiteten« abzuholen, die ihm, dem Lärm nach zu urteilen, auf der Treppe entgegengestolpert kamen, vielleicht hatte jemand nachgeholfen. Ein kurzer Dialog des eintreffenden Milizionärs und der beiden malträtierten Häftlinge fürs Registriergerät. Auf ein schwungvolles: »Klagen über die Gesundheit?« ein stockendes: »Nein, Bürger Natschalnik.« Die Gruppe entfernte sich. Die Erziehungsmethoden des russischen Strafsystems im aktiven Einsatz.

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