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Tag 2

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Wecken ist immer um sechs. Draußen wirbelt Schnee, aber in der Nacht habe ich nicht gefroren, das ist gut, das hätte mir gerade noch gefehlt, dass ich vor Kälte nicht schlafen kann.

Alle zwei Stunden kommt ein Beamter und erfasst mit einem Registriergerät, dass ich anwesend und nicht geflohen bin. Schon seit ich hier bin, seit einem halben Jahr also, trage ich den roten Streifen für »Flieger«4. Tagsüber registrieren sie dich wach, mit dem Familiennamen und allem Pipapo, nachts schlafend, dazu wird eine kleine Lampe am Registriergerät eingeschaltet. Manche Beamten leuchten dich aus einem gewissen Abstand an, um dich nicht zu wecken, andere zielen absichtlich ins Gesicht, um das Gegenteil zu bewirken. Ein Milizionär ist dem anderen Feind. Außer der Registrierung gibt es noch die Kontrolle. In meiner Zelle, die offiziell als GH5 bezeichnet wird, geht die Kontrolle schnell: Ein Bediensteter kommt und kontrolliert innerhalb von einer Minute, dass du da bist, zweimal pro Tag, morgens und abends. Das hat gewisse Vorteile, wenn du nämlich in einer Baracke lebst, musst du mit dem ganzen Lager auf dem Platz in Reih und Glied antreten, mit Musik, und warten, bis alle durchgezählt sind. Das dauert ungefähr eine Stunde und ist ziemlich anstrengend, besonders bei minus 20 Grad und Wind. Bei unter minus 25 Grad findet die Kontrolle in den Baracken statt, das ist natürlich viel angenehmer, kommt aber nur selten vor, nur bei wirklich starkem Frost.

Es gibt noch ein weiteres obligatorisches Ritual: die Essensverweigerung, auch sie wird per Registriergerät erfasst, dreimal pro Tag. Und einmal pro Tag findet die obligatorische Durchsuchung statt. Das ist auch schon alles, den Rest des Tages habe ich frei und kann machen, was ich will, ich versuche vor allem, warm zu werden. Es ist nicht erlaubt, sich auf den Sack6 zu setzen oder sich gar hinzulegen, darüber wacht die unermüdliche Videokamera in der Zimmerecke. Und auch der Schlüsselwart ist immer in der Nähe, auf seinem Posten. Auch wenn man ihn den ganzen Tag nicht sieht, ist er doch im rechten Moment zur Stelle.

Nach der Morgenkontrolle kamen der Lagerleiter und der Menschenrechtsbeauftragte. Hoch im Rang, Dienstgrad Oberst. Wer von beiden mich nun bewachen und wer mich schützen soll, ist schwer zu erkennen. Der Natschalnik trägt jedenfalls eine Karakulmütze, und der sich angeblich für mich einsetzen soll, eine einfache Mütze. Das ist der einzige Unterschied. Mein scheinbarer Fürsprecher ist sogar mehr besorgt um das Lager als der eigentliche Chef, er sagt, der Hungerstreik sei eine Ordnungswidrigkeit, und erzählt mir was von Zwangsernährung. Ich antworte, Zwangsernährung, das ist, wenn man festgehalten und mit dem Löffel gefüttert wird, das gilt als Folter, in Frage käme höchstens eine medikamentöse Unterstützung für den geschwächten Organismus. Das haben wir ausführlich diskutiert. Wahrscheinlich endet die Freundlichkeit der Milizionäre mit dem Rang des Majors. Und denjenigen, die sich für meine Rechte einsetzen sollen, geht sie total ab. Die »Freundlichkeit« der Ersteren ist allerdings auch höchst zweifelhaft und höchstwahrscheinlich nicht von Dauer.

Gegen Mittag wurde ich zu meinem Anwalt gebracht. Wir unterhielten uns zwei Stunden lang konstruktiv, wie er sich ausdrückte. Er fliegt heute zurück, nimmt Briefe von mir mit und auch eine unverschlossene Notiz mit der Erklärung des Hungerstreiks und den dazugehörigen Erläuterungen. Und vor allem einen Brief an meine Tochter. Gestern Abend wurde mir der langersehnte Brief von ihr und meiner Mutter ausgehändigt, und da gebe ich meinem Anwalt gleich die Antwort mit, meine Tochter verreist ja demnächst, da würde sie die Antwort auf dem normalen Postweg womöglich nicht mehr erreichen. An meine Mutter schreibe ich heute Abend und schicke den Brief mit der normalen Post, sie ist ja zu Hause und freut sich immer, wenn sie Nachricht von mir erhält. Nachdem ich gestern Abend die Briefe bekommen und ein paar Mal gelesen hatte, fühlte ich mich allerdings ziemlich niedergedrückt. Plötzlich wurde mir klar, wie lang die Liste derer ist, die ich unglücklich gemacht habe, und dass das alles Menschen sind, die mir nahestehen, die Spalte derer, die ich glücklich gemacht habe, ist gähnend leer.

[…]

Der heutige Abend war viel angenehmer – ich bekam die Sachen, um die ich gebeten hatte, und dazu noch einen kleinen Fernseher, um den ich nicht gebeten hatte. Außerdem wurde mir ein Heizlüfter in Aussicht gestellt, da das Thermometer beim Messen in der Zelle nur 16,5 Grad zeigte. Nach den offiziellen Festlegungen ist das ein halbes Grad über Minimaltemperatur, also eigentlich alles im grünen Bereich. Aber sie wollen mich nicht frieren lassen, das freut mich natürlich. Wenn der Anwalt da ist, kennt die Freundlichkeit der Milizionäre keine Grenzen. Ich habe nichts dagegen.

Vor dem Einschluss habe ich mir die Nachrichten angesehen, sonst lief auf den zwei Kanälen, die die Kiste hat, nichts Interessantes, also bin ich ins Bett gegangen. Der Schlüsselwart hat mir einen kleinen Heizlüfter gebracht, und in der letzten Stunde vor der Nachtruhe wurde es in der Zelle ein bisschen wärmer, aber über Nacht hat er mir den Lüfter wieder weggenommen. Ich habe Wasser heiß gemacht und gierig getrunken. Als ich mich etwas erwärmt hatte, beschloss ich, meine Sachen auszuziehen und in der Thermowäsche zu schlafen. Das sollte sich als Fehler erweisen.

4Obligatorische Kennzeichnung eines Häftlings, bei dem Fluchtgefahr besteht; seine Anwesenheit wird alle zwei Stunden kontrolliert.

5GH für Gesicherter Haftraum von BM – Besopasnoje Mesto, eine normale Isolierzelle, in die Gefangene gebracht werden, wenn von anderen Gefangenen oder Bediensteten eine Gefahr für ihr Leben ausgeht, im Haftalltag werden die Zellen für die verschiedensten operativen Ziele genutzt.

6Gefängnisbett, Pritsche

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