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Tag 6

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Die Nacht war wieder nicht gut, ich konnte lange nicht einschlafen und bin immer wieder aufgewacht. Vor Kälte. Die Füße sind bis zum Morgen überhaupt nicht warm geworden. Der Allgemeinzustand hat sich allerdings etwas verbessert, der Schwindel hat nachgelassen, das Ohrensausen klingt nicht mehr wie das Heulen eines Flugzeugs im ständigen Startmodus. Außer dem Herz, das regelmäßig Signale ans Gehirn sendet, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, machen sich jetzt auch die Nieren bemerkbar, die vor allem auf den Rücken ausstrahlen. Die Fußsohlen sind eiskalt. Oft auch die Hände. Die Knie erinnern sich an das chronische Rheuma und knacken wie bei einem alten Mann. In der Leiste hat sich ein bohrender Schmerz eingestellt, entweder sind das die Gelenke oder die Lymphknoten, es ist noch nicht klar. Der Magen grummelt von Zeit zu Zeit unzufrieden. Das Gehirn sendet daraufhin ermutigende Signale an die Organe: Haltet durch, das muss so sein, alles wird gut. Und so sind eigentlich alle ganz gelassen. Das Unterbewusstsein spielt langsam verrückt, es spürt, dass seine Zeit gekommen ist, wenn nämlich einer der wichtigsten Instinkte – der Hunger – die Oberhand gewinnt, dann kann es das Bewusstsein von der Führung verdrängen. Noch ist es nicht so weit, und ich hoffe, dass es noch ein bisschen dauert. Jetzt aber flutet das hinterhältige Unterbewusstsein das Gehirn mit Essenspropaganda und bombardiert es mit verschiedenen Bildern von Speisen, die der Körper irgendwann in seinem Leben zu sich genommen oder auch einfach nur gesehen hat oder es erfindet einfach irgendwas unglaublich Leckeres. Noch zeigt das keine Wirkung. In einem Menschen hausen viele Dämonen, die ihm ständig ihren Willen aufzwingen wollen. Ich habe die gefährlichsten dieser Gesellen längst vertrieben, die anderen müssen nach meiner Pfeife tanzen. Aber vielleicht nutzen sie die Situation jetzt aus und nehmen Rache. Mal sehen. Die Versuchung mit dem Essen, das fast den ganzen Tag bei mir in der Zelle rumsteht, funktioniert jedenfalls nicht.

Die Miliz pflegt nun mir gegenüber einen distanzierten Ton, außer zum Diensthabenden habe ich keinerlei Kontakte – wenn ich im Lager unterwegs bin, werden alle Hofkäfige9 eingefroren und alle Personen angehalten.

Heute habe ich die Zelle geputzt. Bislang stand das jeden Tag auf dem Plan, und einmal in der Woche war Großreinemachen, aber jetzt beschränkte ich mich auf ein paar Mal pro Woche – es ist irgendwie dämlich, auf allen Vieren mit dem Lappen über den Boden zu kriechen, Energie ist wichtiger als absolute Sauberkeit. Dabei habe ich auch die Fensterklappe geöffnet, um zu lüften, das mache ich sowieso mehrmals am Tag. Ich brauche immer frische Lust, in Kälte und Muff zu hocken, ist doppelt belastend.

Am Morgen hat sich das Wetter wieder verschlechtert: Nebel, Sprühregen, Nässe. Der Norden. »Bei uns ist es drei Monate im Jahr kalt, und der Rest ist voll für’n Arsch«, wie es ein Typ von hier neulich beschrieb.

Das Auftragen des Essens hat sich vollends zu einem Ritual entwickelt. Der Diensthabende öffnet die Tür und verkündet feierlich, dass die Zeit gekommen sei, das Essen einzunehmen. Der Suppenkapo in Weiß trägt die Speisen herein und stellt sie auf den Tisch. Beide Seiten verabschieden sich höflich, und die »Gäste« ziehen sich zurück. Ich hebe den Teller auf die obere Pritsche – weg von mir, direkt vor das allsehende Auge. Wenn ich das Brot und den Teller mit dem Brei oder der Suppe anfasse, habe ich komischerweise nicht das Verlangen, das zu essen. Das hat sicher mit meinem festen Vorsatz zu tun oder kommt daher, dass der Hungerstreik noch nicht allzu lange dauert. Wir werden sehen. Der Allgemeinzustand hat sich heute übrigens stabilisiert, nur im Mund hatte ich plötzlich einen unangenehmen Geschmack – vielleicht verdaut sich der Magen mittlerweile selbst. Zwischen Gürtel und Bauch hatte am Anfang der Woche nur der Mittelfinger Platz, mittlerweile passt die ganze Faust dazwischen.

Ich bin heute in die Banja gegangen. Nicht allein natürlich, sondern in Begleitung des Diensthabenden, die Häftlinge sagen immer von sich »bin gegangen« oder »bin gefahren«, wenn sie doch eigentlich gebracht oder gefahren wurden. Eine Illusion von Selbstständigkeit. Banja ist freilich eine Übertreibung – es ist ein größerer Waschraum mit zwei Dutzend Kannen und Bänken. Wenn sich hier eine ganze Truppe wäscht, gibt es Schlangen und ein riesiges Gedränge. Aber ich war allein. Getrennt von den anderen. Ich hatte zwanzig Minuten, um zu duschen. Das ist gut, mancherorts kriegt man nur fünfzehn Minuten, manchmal sogar nur zehn. Zehn Minuten Hochgenuss unter dem heißen Wasser. Ich habe mich geduscht und die Unterwäsche gewaschen. Mein Körper war dankbar, besonders meine Beine. Am Ende war mir ein bisschen schwindelig, das ist aber nicht so schlimm.

Danach habe ich mich gleich noch rasiert. Der Klingenwart hat mir meinen Rasierer und die Rasiercreme ausgehändigt – das hat er nämlich alles in Verwahrung, damit ich mir nicht aus Versehen die Pulsadern aufschneide. Beim Rasieren habe ich mich zum ersten Mal in dieser Woche im Spiegel angeschaut. In der Zelle gibt es nur einen kleinen Spiegel, der über dem Waschbecken in die Wand eingelassen ist, ziemlich weit unten, ich muss mich bücken, wenn ich mich darin sehen will. Weil ich so groß bin und sowieso nicht gern in den Spiegel schaue, habe ich hier in der Zelle noch gar keinen Blick hineingeworfen. Noch nicht einmal beim Zähneputzen. Obwohl ich keinen Zahnbelag habe, putze ich meine Zähne zweimal täglich, denn unter diesen Umständen verliert man schnell mal einen Zahn, diese Erfahrung musste ich vor Kurzem machen, und die Zähne wachsen ja leider nicht nach. Mein eigener Anblick war natürlich nicht sehr erfreulich: Die Backenknochen sind hervorgetreten, die Wangen eingefallen und zu Flecken geworden, die Augen liegen tief in den Höhlen, Falten haben sich in die Stirn gegraben, und die Stirn selbst ist nicht nur von geschwollenen Adern bedeckt, nein, sie drängt auch den Haaransatz zurück. Die Haare weichen, langsam und unweigerlich, und lassen nach dem Kampf nur kahles Terrain zurück. Nichts Erfreuliches, ich hätte mir den Anblick besser erspart. Ich musste daran denken, wie der Vater eines Freundes an Leberzirrhose erkrankt war und eines Tages mit seiner Familie zu uns zu Besuch kam. Alle unterhielten sich und lächelten ihm zu, als wäre nichts, als wüssten sie nicht, wie schlimm es um ihn stand. Auch er lächelte alle an mit seinem zahnlosen Mund im knochigen Schädel, nichts als die Augen waren ihm geblieben, und selbst die sahen so aus, als würden sie jeden Moment herausspringen. So weit war es bei mir zwar noch nicht, aber ich war schon auf dem besten Wege dahin.

9Kleine abgegrenzte Fläche vor einer Baracke, die für den Freigang, Appelle, Sport und andere Aktionen genutzt wird. »Alle Hofkäfige wurden eingefroren« bedeutet, dass sie abgeschlossen werden, falls sie offen waren, oder es wird untersagt, sie zu öffnen, das bedeutet, dass die Häftlinge für eine bestimmte Zeit nicht im Lager unterwegs sein dürfen.

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