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Tag 7

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Die Nacht verlief wie erwartet schlecht. Obwohl ich seit Langem in Unterwäsche und Häftlingskleidung schlafe und mich zudecke, friere ich, besonders an den Füßen. Die Decke ist eher ein dicker Überwurf, aber egal. In der Nacht macht sich noch ein weiterer Störfaktor bemerkbar. Die Zelle hat eine typische Gefängnistoilette: ein Loch im Boden, das mit einem Stöpsel an einer Schnur verschlossen wird, das Wasser kommt aus dem Waschbecken, was keine glückliche Konstruktion ist, und nicht vom Spülkasten über ein Rohr, wie es eigentlich sein sollte. Das wäre nämlich besser, effizienter. Aber der Spülkasten ist alt, die Konstruktion marode, er gibt ständig traurige Töne von sich: tropf, tropf oder energischer: klatsch, klatsch. Tagsüber hört man das so gut wie gar nicht, und es stört auch nicht. Auch wenn man schläft, hört man es nicht. Aber wenn man nachts wachliegt, gehen einem die Geräusche auf die Nerven. Reparaturversuche bringen auch keinen dauerhaften Erfolg. Der Kasten ist fünf Minuten still, und dann beginnt sein monotones Lied von Neuem. Manchmal stellt er seine Lebenszeichen von selbst ein, aber das hält meist nicht lange an.

[…]

Der Morgen begann wie gewöhnlich. Es ging mir ganz gut, aber ich fühlte mich sehr schwach. Ich schaffte es kaum, mein Bett zu machen, die Zähne putzte ich mir im Sitzen. Vielleicht würde es tagsüber besser werden, wenn ich erst mal in Schwung gekommen war. Als ich mich wusch, stach es in meinem Augenwinkel, eine harte Borke. Ich schaute in den Spiegel, und so war es auch: Das rechte Auge war ganz rot. Eine Bindehautentzündung als kleiner Bonus zu allem Übrigen. Wo habe ich mir die denn eingefangen? Ich hatte doch eigentlich die ganze Woche mit niemandem weiter Kontakt, und auf Sauberkeit achte ich auch unter allen Umständen. Ach, das geht schon vorbei, halb so schlimm.

Die Miliz hat das Servierritual um ein neues Element erweitert. Im Schlussteil. Der Diensthabende filmt den ganzen Vorgang mit seinem Registriergerät, und wenn der Suppenkapo das unberührte Essen an ihm vorbei aus der Zelle trägt, richtet er das Gerät auf den Teller und konstatiert: »Das Essen wurde nicht verzehrt.« Vorhang zu.

[…]

Ich lese immer noch Murakamis »Die Chroniken des Aufziehvogels«. Es gefällt mir. Ich mag Murakami und auch dieses konkrete Werk. Es gibt gute Bücher, die man verschlingt, und dann gibt es welche, die man langsam liest und sich das Vergnügen einteilt. Dieses Buch hier genieße ich langsam, Stück für Stück. Es ist ziemlich dick, und ich bin schon über der Hälfte. Ich merke, dass es diese Lektüre zu Wochenbeginn war, die mich dazu veranlasst hat, Tagebuch zu schreiben. Deswegen soll das Buch zu Ehren von Murakami »Die Chroniken eines Hungerstreiks« heißen. Da brauchen sich die Lektoren keine Gedanken mehr zu machen. Murakamis Protagonist hat im Übrigen drei Tage in einem trockenen Brunnen gesessen und gehungert und gefroren. Um sich selbst zu finden. Kommt mir bekannt vor. Gibt es tatsächlich jemanden, der glaubt, im Leben sei alles Zufall und ohne jeden Zusammenhang? Ich nicht. Der Hunger hat dem Protagonisten im Übrigen sehr zu schaffen gemacht, sein Magen hat gestochen und sich zusammengekrampft. Das ist bei mir nun überhaupt nicht der Fall, mein Magen ist ganz friedlich. Vielleicht hat das damit zu tun, dass ich einen gleitenden Übergang zum Hungerstreik hatte, mich vorbereitet und meine Ration immer weiter verkleinert habe? Vielleicht gibt es auch noch andere Gründe. Ich habe viel vom Heilfasten gehört, es aber selbst nie ausprobiert, allerdings durchaus schon mit dem Gedanken gespielt. Und nun bietet sich mir die kostenlose Gelegenheit. Reinigung des Organismus, Ausscheidung von Schlacken usw. Schlacken habe ich zwar noch keine ausgeschieden, aber warten wir mal ab. Wir sollten die ganze Sache zunächst nicht als politisch motivierte Aktion betrachten, sondern als Kur! Wer ist dafür? Ich sehe keine Hände!

Tagsüber sind meine Füße nicht so kalt wie nachts unter der Decke, wahrscheinlich weil ich am Tag immer irgendwie in Bewegung bin. Ich habe die Fensterklappe geöffnet, um zu lüften. Die Luft draußen ist immerhin schon weniger stechend und eisig, warm würde ich sie aber auch noch nicht nennen. Der frisch gefallene Schnee auf den Wegen wurde weggefegt, ein Teil ist in der spärlichen Sonne getaut, aber in den Ecken türmen sich noch immer trübe, graue Haufen. Zwanzigster Mai. Angeblich kann es hier sogar im Juli schneien. Das möchte ich lieber nicht sehen.

Der unangenehme Geschmack im Mund wird stärker, außerdem fühlt sich die Mundhöhle trocken an. Das heiße Wasser hilft nur kurz. Leitungswasser möchte ich nicht trinken, außerdem ist es ungesund. Komischerweise hat schon etliche Tage keine Durchsuchung stattgefunden. Seit sie mir den roten Streifen für »fluchtverdächtig« aufs Namensschild geklebt haben, ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht gefilzt wurde. Am Anfang, als ich in dieser Zelle hier saß, waren sie besonders eifrig: haben das Unterste zuoberst gekehrt, mich bis auf die Unterhose oder ganz nackt ausgezogen und gründlich abgesucht. Später, in der Abteilung, hat ihr Eifer etwas nachgelassen. Und jetzt kommen sie gar nicht mehr. Merkwürdig. Das heißt aber nicht, dass das so bleiben muss.

Mein Traum von letzter Nacht ist mir wieder eingefallen, eigentlich ist es eher eine Aneinanderreihung verworrener Situationen ohne jeden Zusammenhang. Irgendwelche Leute, Autos, Busse, Züge, ich bin mit all dem unterwegs, allein, manchmal auch in Begleitung. Bahnhöfe, Gleise, Stationen. Ich sitze im Bus und habe die Füße auf der Rückbank gegen die Kopfstützen gelehnt. Meine Oma und meine Tante fahren auch mit, sie sitzen in einer anderen Reihe, meine Tante isst Eis, aber sie sehen ganz anders aus als meine richtigen Verwandten. Ich nehme die Füße herunter, weil sich das nicht gehört. Dann stehen wir auf dem Bahnhof an einem Gleis, meine Tante und meine Oma wollen sich in ihrem Tagebuch Notizen machen zu einem Jungen, der eben eine Heldentat vollbracht hat – er hat jemanden unter einem durchfahrenden Zug hervorgezogen. Der Junge und sein Vater stehen neben uns, aber einen Stift für die Notizen hat niemand. Obwohl um uns herum viele Leute stehen, springe ich über die Gleise auf den Nachbarbahnsteig, erkläre die Situation und frage einen vorbeilaufenden Hauptmann und seine Familie nach einem Stift. Dann springe ich zurück. Meinem Verhalten nach bin ich wohl in dem Traum auch noch klein. Für mich bergen Träume keine Zeichen und Omen. Sie haben eher etwas mit der Vergangenheit zu tun. Sind ein Mix aus Erinnerungen, durchlebten Gefühlen, verborgenen Gedanken oder Wünschen. Spannend sind Träume trotzdem.

Haft

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