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Vorwort
ОглавлениеDer Schriftsteller Andrej Kurkow schrieb in seinem Vorwort zu Oleg Senzows Buch »Leben« Folgendes: »Gewiss werden Ihnen beim Lesen dieses Buches Fragen kommen, die Sie dem Autor gern stellen würden. Rechnen Sie nicht so bald mit der Möglichkeit, diese Fragen auf einer Lesung in Berlin oder zur Frankfurter Buchmesse von ihm beantwortet zu bekommen.« Es war Februar 2019. Doch er sollte nicht recht behalten. Am 7. September desselben Jahres hat Oleg Senzow, verurteilt zu zwanzig Jahren wegen vermeintlichem Terrorismus, die Strafkolonie IK-8 (genannt Eisbär) im russischen Labytnangi am Polarkreis Gott sei Dank verlassen.
Als Oleg Senzow endlich freikam, war ich erleichtert, aber gleichzeitig aktivistisch schon sehr ausgebrannt. Ich hatte einfach genug von der Tänzerei vor den Botschaften und dem Überzeugen der Öffentlichkeit und Medien, dass Menschenrechte wichtig sind. Und dass wir Tschechen, jetzt, da wir frei sind, uns auch für die Welt und Menschenrechte interessieren können, dass es sogar unsere Pflicht ist. Als Senzow in März 2020 wegen des Filmfestivals »One World« Prag besuchte und ich ihn getroffen habe, ist mir trotzdem ein bisschen schwindlig geworden. Jemand, über den ich so viel nachgedacht habe, den ich nicht kannte und nie kennenlernen würde, verkörperte sich vor mir. Ein Verhältnis fast vergleichbar mit dem zu literarischen Figuren, um die man sich Sorgen macht und mit denen man sich freut, wenn es dazu einen Grund gibt.
Ich kenne Oleg Senzow nicht, ich habe nie mit ihm gesprochen, ich habe ihn also nie gefragt, ob er unsere Briefe bekommen hat und von unseren Demos wusste. Von der Dichterin und Fotografin Liu Xia, der Witwe des chinesischen Menschenrechtlers Liu Xiaobo, weiß ich, wie anstrengend es ist, durch die Welt zu reisen und sich überall bedanken zu müssen. Freiwilliger unbezahlter Aktivismus ist ja auch so eine Sache, die man nicht nur für die Welt tut, sondern auch für sich selbst. Und man soll es nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen.
»Haft« zu lesen ist für mich ein psychosomatisches Erlebnis – genauso wie damals die ganzen einhundertfünfundvierzig Hungertage durch Medien, soziale Netzwerke und vor allem durch die Informationen von Senzows Anwalt mitzuerleben. Es mag pathetisch klingen, aber ich erinnere mich bis heute daran, wie ich mich schämte, dass ich gegessen habe, etwas Kleines oder auch Großes, etwas Gutes oder auch nicht so Tolles, aber auf jeden Fall, dass ich esse. Und ER nicht. Was soll man dazu sagen?
Das Buch ist aus mehreren Gründen interessant. Erstens, man ist dabei. Man weiß, wie es ausgeht. (Er nicht: »Aber warten wir es erst einmal ab, eine Chance gibt es immer, für das Tagebuch und auch für mich.«) Trotzdem ist man buchstäblich körperlich davon bewegt. Die Schilderung davon, wie sein Körper langsam den Dienst versagt, ist einfach, aber sehr eindringlich. Zweitens, es passiert wirklich nicht viel, aber so ist es halt im Leben allgemein. Ich mag Texte, in denen nichts und gleichzeitig alles passiert, Texte, die einfach ein detailreiches Protokoll davon sind, was gerade passiert: »Es ist schwierig, die Wahrheit zu schreiben und erst recht die Wahrheit über sich selbst, aber ich werde mir Mühe geben.« Man ist dabei. Man lebt durch den Augenblick. Und das ist für mich Literatur.
Drittens finde ich spannend, dass Oleg im Gefängnis viel gelesen hat. Man ist durch die Lektüre seiner Chronik auch in anderen Chroniken: Murakami, Steinbeck usw. Die Notizen über seine Lektüre zeugen auch von der Masse der Zeit, die er dort verbringen musste. Einer Zeit, die normalerweise so kostbar ist. Im Gefängnis bekommt man aber plötzlich eine andere Beziehung zur Zeit. »Vier Monate Hungerstreik sind vorbei. Ich fühle mich wie in einem dunklen Wald. Woher ich komme und wohin ich gehe, wo der Weg ist – alles ist unklar. Ich bewege mich tastend weiter. Das Ziel und der Weg liegen hinter hohen umzingelnden Bäumen verborgen. Gehen muss ich dennoch – hier stehenzubleiben, würde erst recht zu nichts führen.«
Ich bin sehr glücklich darüber, dass Oleg Senzow Oleg Senzow geblieben ist – wenigstens meiner Meinung nach und nach allem, was ich verfolgen kann. Bei einigen befreiten politischen Häftlingen sieht man, wie Ruhm und plötzliche Macht sie verändern, sie wollen sich plötzlich auf Verhandlungen mit dem Teufel selbst einlassen. Senzow wusste, dass er ein Filmemacher ist, der Pech hatte und von Putins Regime als Terrorist bezeichnet wurde. Er macht jetzt weiterhin Filme und engagiert sich gleichzeitig für andere politischen Häftlinge. Er tut das, was er gut kann.
Am meisten bewegen mich an der »Haft« Kleinigkeiten: die Schilderung der Aufseher, die manchmal aus ihrer Rolle fallen, der Briefe, in denen sich Leute Senzow mit ihren Problemchen anvertrauen, der Wetterlage, die in Labytnangi am Polarkreis extrem ist und die Gesundheit des Häftlings zusätzlich angreift. Und die Schilderung der Träume. Eine Freundin und ich haben ja an alle möglichen ukrainischen sowie russischen politischen Häftlinge eine kurze Anleitung zur Traumdeutung geschickt. Und sofort muss ich daran denken, dass ich wieder einen Stapel von solchen Briefen schicken soll, und schäme mich dafür, dass ich es nicht schon längst getan habe.
Deswegen möchte ich mit demselben Plädoyer abschließen wie Andrej Kurkow: Schreiben Sie an die politischen Häftlinge. Und denken Sie nicht nur an die ukrainischen. Es gibt auch zahlreiche russische, weißrussische (und auch andere …), die Hilfe brauchen. Das ist das Wenigste, was ein Westeuropäer tun kann. Sich damit rausreden, das man nicht Russisch kann, funktioniert dank Internet nicht mehr. Und jetzt schreibe ich etwas, was Sie lieber nicht in die Briefe schreiben sollten: Героям слава! (Ruhm den Helden!)
TEREZA SEMOTAMOVÁ
PRAG, JUNI 2021