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Tag 8
ОглавлениеDer achte Tag brach an. Wie in der Bibel oder bei Thornton Wilder. Die erste ruhige Nacht, ich habe fast gar nicht gefroren, sogar meine Füße sind warm geworden. Obwohl die Temperaturen in der Druckkammer und außenbords unverändert sind. Ich habe ganz gut geschlafen, nachdem ich erst lange wach lag. Ich habe mir die ganze Zeit vorgestellt, was ich alles mit den Kindern koche, wenn wir wieder zusammen sind. Illusionen und Trost für Gehirn und Magen.
Mein Allgemeinbefinden ist eigentlich auch ganz in Ordnung. Allerdings ist bei Weitem nicht alles verschwunden, was mir Sorgen macht. Weder die Schwäche noch der Schwindel noch das Ohrensausen noch der ganze andere lästige Kram, aber der Körper reagiert nicht mehr so stark, er hat sich daran gewöhnt. Er reagiert nur, wenn etwas Neues dazukommt oder vorhandene Beschwerden stärker werden, das ist aber im Moment nicht der Fall, also vorläufig Feuerpause an vorderster Front.
Eine Woche ist seit dem Beginn des Hungerstreiks vergangen. Wie lange werde ich durchhalten? Diese Frage interessiert sicher nicht nur die Milizionäre, sondern auch meine Unterstützer jenseits des Zauns und natürlich auch mich selbst. Wir werden sehen. »Wir werden sehen«, sang einst D’Artagnan in einem sowjetischen Film, »wer in welchen Kanonenstiefeln am Ende des Tages die Knie beugt.« Der Musikwart lässt im Flur den ganzen Tag Pop laufen. Nicht zum Aushalten. Ein Glück, dass es nicht so richtig bis zu mir dringt. Die ganze Woche kein einziger vernünftiger Song. Jetzt habe ich vage bekannte Töne gehört. Ich bin zur Tür gegangen und habe genauer hingehört. Das ist tatsächlich »Für die Wächter« von Boombox. Ein guter alter Song. Ich habe zugehört und mich nicht von der Stelle gerührt. Drei Minuten Vergnügen. Wie unterscheidet man einen guten Song von einem schlechten? Ein guter Song veraltet nicht. »Für die Wächter« ist nicht veraltet, kein einziger Takt.
Überhaupt bedeutet mir Musik sehr viel. Gute Musik. Die Lieder von Viktor Zoi haben meine Persönlichkeit wahrscheinlich stärker geprägt als alle Personen in meinem Umfeld zusammen. Deswegen kann ich es überhaupt nicht leiden, wenn er schlecht gecovert wird. Ich kann mich noch erinnern, das war auf einem großen Filmfestival in Minsk, auf der Abschlussveranstaltung, da wollte ein bekannter russischer Schauspieler, der aus der Ukraine kam – als Programmhighlight – das geschätzte Publikum mit seinem stimmlichen Talent erfreuen. Mit seinem Talent war es nicht weit her, aber die Leute taten so, als gefiele es ihnen, schließlich war es die Abschlussgala, und danach würde es einen Empfang geben. Als er als drittes Stück »Gruppa krowi« von Zoi sang, verlor ich schon nach dem ersten falschen Ton die Nerven. Ich stand auf und ging raus. Das war gar nicht so einfach: ein riesiger Saal mit tausend Leuten, und ich saß in der zweiten Reihe in der Mitte, zwischen anderen Teilnehmern, die Hälfte musste zusammenrücken, um mich durchzulassen. Den Sänger brachte das nicht raus (obwohl: schlechter ging’s eigentlich gar nicht mehr); als ich über den breiten Mittelgang dem Ausgang zustrebte, setzte er noch einen drauf und sang mir verdrehte Zeilen einer weiteren Strophe hinterher. Keine schöne Erinnerung.
Es gibt auch schöne Erinnerungen, allerdings nicht mit Zoi. Nach einer schweren und schlaflosen Nacht im Arrest saß ich im Büro des Ermittlers im früheren Geheimdienst der Krim. Ich hatte gerade einen Anwerbeversuch abgelehnt und mich stattdessen für die zwanzig Jahre entschieden. Routiniert besiegelte der Ermittler das Protokoll und mein Schicksal, ich saß in Handschellen da und wartete darauf, in die Zelle zurückgebracht zu werden. Das Radio lief. Leise. Ein ukrainischer Sender, den man offenbar noch nicht abgeschaltet hatte. Da kam auf einmal »Wojnow sweta« von Ljapis. Die inoffizielle Hymne des Maidan. Hier, auf der Krim, die schon besetzt war, in meiner Situation. Als hätte mir jemand ein Zeichen geschickt: »Halte durch, Junge, alles wird gut.« Ich habe mich gleich besser gefühlt. Ich hatte niemanden verraten. Weder mich noch die anderen. Noch das Land, noch die hundert Jungs, die es seinerzeit auf der Instytutska erwischt hatte. Der Ermittler sagte, ich hätte mein Schicksal selbst besiegelt. Ich war der Meinung, dass ich die einzig richtige Entscheidung getroffen hatte. Und die Musik, die da aus den Lautsprechern kam, gab mir recht.
Ich war beim Arzt. Gewicht, Blutdruck, Puls, Temperatur – das Gewicht sinkt. Ich wiege noch knapp über 80 Kilo. Das Thermometer zeigt 36,2 Grad. »Du kühlst aus«, stellt der Arzt fest. Wir haben darüber diskutiert, bei welcher Raumtemperatur es sich am besten hungern lässt. Ich bin der Meinung, dass es sich im Warmen besser hungert, da der Körper keine zusätzliche Energie aufwenden muss, um die Temperatur zu halten. Der Arzt glaubt, man könne einen Hungerstreik bei Kälte besser durchstehen, dann würden sich nämlich die Stoffwechselprozesse im Körper verlangsamen, Anabiose und so. Was nun stimmt, ist unklar. Jeder bleibt bei Seinem: Er sitzt im T-Shirt in seinem warmen Sprechzimmer, ich in meiner eiskalten Zelle.
Der für die Rechtsaufsicht zuständige Staatsanwalt ist gekommen, hat sich von mir eine Erklärung der Gründe für den Hungerstreik geben lassen und meine Höhle und meine Krankenakte in Augenschein genommen. Die unwichtigen Dinge und Mängel habe ich in der Erklärung nicht erwähnt. Ich kämpfe nicht dagegen. Mein Hauptkampffeld ist woanders.