Читать книгу Haft - Oleg Senzow - Страница 9
ОглавлениеIch habe nie Tagebuch geführt, noch nicht mal während der Pubertät, da machen das ja viele. Das hier ist mein erstes und wohl auch mein letztes Tagebuch. In vielerlei Hinsicht. Später möchte ich auch noch Aufzeichnungen machen, genauer gesagt Notizen zu konkreten Projekten. Das ist aber noch lange hin, im Moment sitze ich hier in der Zelle, also werde ich darüber nicht schreiben. Ich verrate meine Pläne sowieso nicht gern. Nicht etwa, weil ich so verschlossen oder gar wortkarg bin, sondern weil es mir einfach peinlich wäre, etwas anzukündigen, das dann nicht klappt, peinlich vor allem für mich selbst, und wenn alles gelingt wie angekündigt, wäre es für die anderen ja keine Überraschung mehr.
Den Entschluss, Tagebuch zu schreiben, habe ich am dritten Tag meines Hungerstreiks gefasst. Es ist schwierig, die Wahrheit zu schreiben und erst recht die Wahrheit über sich selbst, aber ich werde mir Mühe geben. Ich wollte immer lesbar, authentisch und interessant schreiben. Ob mir das bisher gelungen ist, weiß ich nicht, aber jetzt hält mich ja nun wirklich nichts ab. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Idee mit dem Tagebuch gekommen bin, da war ein erster Gedanke, dann gab es ein paar Sätze, es kamen weitere hinzu, neue Gedanken, und da habe ich beschlossen, alles aufzuschreiben, eigentlich war das gar nicht geplant. So ist das bei mir immer, zumindest bei den kreativen Dingen, aber eigentlich auch im normalen Leben. Der Autor existiert ja nicht getrennt von seinem Leben. Sein Schaffen ist ein Teil davon.
Nachdem ich meinen Entschluss gefasst hatte, habe ich lange überlegt, ob ich die beschriebenen Blätter verstecken oder ob ich offen damit umgehen soll. Ich habe mich für Letzteres entschieden, ich habe ja nichts zu verbergen. Ich versuche, das Lager nicht so oft zu erwähnen, damit sie mir nicht vorwerfen, ich würde das Wach- und Sicherheitssystem der Anstalt beschreiben, und mir die Hefte unter diesem Vorwand wegnehmen. Ich werde mir Mühe geben, aber die Chancen, dass das Heft die Lagermauern überwindet und nach draußen gelangt, sind trotzdem ziemlich gering. Genauso wie meine, das zu erreichen, weswegen ich in den Hungerstreik getreten bin. Aber warten wir es erst einmal ab, eine Chance gibt es immer, für das Tagebuch und auch für mich. Weil ich weiß, dass das alles wahrscheinlich nie jemand lesen wird und dass die Sache womöglich ein trauriges Ende nimmt, schreibe ich authentischer. Wie es so schön in einem Lied von Jurij Schewtschuk heißt: »Je näher die Leute dem Tod sind, umso reiner ist ihr Herz.«
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