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Gewaltanwendung und «ius ad bellum»

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Das irritierendste Merkmal des Völkerrechts nach 1648 ist zweifellos das «ius ad bellum» – das Recht zum Krieg der Staaten. Wie war es möglich, fragt man sich aus heutiger Sicht, dass eine Rechtsordnung eigenmächtige Gewaltanwendung für legal erklärte? Heute kennt die UNO-Charta in Artikel 2 Ziffer 4 ein Verbot der Gewaltanwendung. Selbst die Gewaltandrohung ist verboten, also das, was man früher als «gunboat diplomacy» bezeichnete. Man liess Kriegsschiffe auflaufen oder Armeen aufmarschieren und verlangte den Abschluss eines Vertrags. Wie aber konnte es sein, dass das Völkerrecht vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg ein Recht zum Krieg kannte, das zur Idee eines zivilisierten Verkehrs zwischen Staaten doch offensichtlich quer steht? Man muss sehr genau hinsehen, um darin einen Sinn zu erkennen. So paradox es klingt: Unter den Umständen der damaligen Zeit konnte eine Entrechtlichung und Entmoralisierung der Gewaltanwendung zur Beruhigung der Situation beitragen. Um dies zu verstehen, muss man beim mittelalterlichen Rechtsdenken beginnen. Im christlichen Universalreich und noch im 16. Jahrhundert verletzte willkürliche Gewalt gegen christliche Gemeinwesen die göttliche Ordnung. Eigenmächtige Gewaltanwendung war verboten. Es gab eine Lehre vom gerechten und rechtmässigen Krieg, die «bellum iustum»-Doktrin, die genau festlegte, unter welchen Voraussetzungen Gewalt ausnahmsweise zulässig ist.17 Vor allem brauchte es eine «iusta causa», einen Rechtfertigungstitel. Infrage kamen im Wesentlichen Selbstverteidigung und Wiederherstellung des Friedens, nicht etwa aber Eroberung. In Europa setzte diese Doktrin Expansionsgelüsten und Gewaltanwendung bis ins frühe 16. Jahrhundert einigermassen erfolgreich Grenzen. Zumindest hemmte sie die Gewalt.

Mit der Konfessionsspaltung veränderte sich die Grundkonstellation. Jede Konfession wähnte die religiöse Wahrheit auf ihrer Seite, die Bekämpfung der jeweils anderen war nun Kampf gegen Irrlehren verbreitende Häretiker. Die «bellum iustum»-Doktrin büsste unter solchen Vorzeichen ihre hemmende Rolle ein. Binnenchristliche Religions- und Bürgerkriege prägten in der Folge das 16. und 17. Jahrhundert bis 1648, und der Dreissigjährige Krieg, der wesentlich durch komplizierte Bündnisse und die Vorstellung der Unverhandelbarkeit religiöser Wahrheit verursacht wurde, war ein katastrophaler Gewaltexzess. Die «bellum iustum»-Doktrin war selbst zum Problem geworden. Jede Seite leitete aus ihr die Legitimation eigener Gewaltanwendung ab, weshalb Völkerrechtsgelehrte schon im 16. Jahrhundert versuchten, die «bellum iustum»-Doktrin zu lockern. Die Kompliziertheit der rechtlichen Verhältnisse war Teil des Gewaltproblems geworden. Der bedeutendste spanische Völkerrechtsgelehrte des 16. Jahrhunderts, Francisco de Vitoria (1483–1546), hatte die Frage aufgeworfen und teilweise auch bejaht, ob ein Krieg beiderseitig rechtmässig geführt werden könne. Jedenfalls gewann die Vorstellung immer mehr an Boden, dass der Krieg einem ritualisierten mittelalterlichen Duell ähnlich und bei Einhaltung bestimmter Formalien rechtlich beidseitig zulässig sei.

Der Dreissigjährige Krieg mit seinem Patt zwischen den Konfessionen verstärkte das Bedürfnis nach Vereinfachung der rechtlichen Verhältnisse. An seinem Ende ging man davon aus, dass alle selbstständigen Herrschaftsträger über das «ius belli ac pacis» verfügen, das Recht zur Kriegserklärung, zum Bündnis und Friedensschluss.18 Der Krieg wurde der Idee nach zu einer Angelegenheit lediglich zwischen den betroffenen Parteien. Carl von Clausewitz’ berühmte, allerdings erst später geprägte Formulierung vom Krieg als der «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln» überzeichnete zwar, besass aber fraglos einen wahren Kern. Der Krieg wurde damit begrenzt und eingehegt. Gewalt unter anderen ging einen nicht mehr automatisch etwas an. Das wirkte neuen Flächenbränden entgegen. Im 18. Jahrhundert setzte sich schliesslich die Vorstellung durch, dass das Recht zur Kriegführung Ausfluss der Souveränität sei. Auch wenn es auf den ersten Blick schwer verständlich klingt: Die Entstehung des «ius ad bellum» war Folge des Bedürfnisses nach Eindämmung der Gewalt. Die Bedingungen seiner Entstehung allerdings sollten sich später überleben.

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