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Weg in den Ersten Weltkrieg
ОглавлениеDie Frage, weshalb die internationale Ordnung mit dem Ersten Weltkrieg zusammenbrach, ist ein eigener Wissenschaftszweig. Man muss mit pauschalen Aussagen vorsichtig sein, zumal der Erste Weltkrieg sich bei näherer Betrachtung als Krieg mit drei Teilkriegen im Westen und Osten sowie auf dem Balkan darstellt. Trotz aller Zusammenhänge hatten diese zum grossen Teil eigene Hintergründe und Anlässe. Was man sicher sagen kann, ist, dass beim Zusammenbruch der Wiener Ordnung 1914 politische, militärische und kulturelle Faktoren auf komplexe Weise zusammenspielten. Seit der Jahrhundertwende gab es keine nichtkolonisierten Gebiete mehr. Koloniale Ambitionen – etwa jene des spät in den «Wettlauf» um die Kolonien eingetretenen Deutschen Reiches – mussten unweigerlich zu Spannungen mit anderen europäischen Grossmächten führen. In der Logik des Gleichgewichtsdenkens war das Zusammenrücken der späteren Alliierten gegen Deutschland das Naheliegende: gemeinsamer Selbstschutz gegen einen Staat, der mit der Deutschen Einigung 1871 die Gewichte zu seinen Gunsten verschoben und spät aggressiv koloniale Ambitionen entwickelt hatte. In deutschen Augen war das Zusammenrücken eine Bedrohung, ein Umzingeln, das in der deutschen Öffentlichkeit eine Art Paranoia erzeugte.
Das Völkerrecht war Teil des Ursachenbündels, das zum Ersten Weltkrieg führte.46 Völkerrechtler tun sich schwer damit, dies zu schreiben. Die Existenz eines «ius ad bellum» schien zu implizieren, dass Kriegführung etwas Normales oder gar Natürliches darstellt. Durch eine darwinistische Brille betrachtet – Darwins Denken wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekanntlich in vulgarisierter Form Gemeingut – war es Ausdruck einer Art Naturgesetzlichkeit. Damit trug das Völkerrecht mit zur Gewalt bei, es wurde in gewisser Weise selbst ein Opfer seiner eigenen Ambitionslosigkeit im Bereich zwischenstaatlicher Gewaltanwendung. Das «ius ad bellum» war im 17. Jahrhundert in einem sehr spezifischen Kontext entstanden, von dem es sich vollständig abgelöst hatte. Hinzu kam, dass das Völkerrecht keinerlei persönliche Verantwortlichkeit politischer oder militärischer Entscheidungsträger kannte. Es war ein Recht zwischen Staaten. Die Entscheidungsträger mussten somit nicht damit rechnen, für Kriege persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dieses «alte» Verständnis des Völkerrechts sollte mit dem Ersten Weltkrieg teilweise und mit dem Zweiten endgültig an sein Ende kommen.47 Man darf allerdings nicht vergessen, dass der Erste Weltkrieg in seinen Dimensionen ein Ereignis jenseits jeden Erwartungshorizonts war. Deutschland hatte ihn in der festen Überzeugung begonnen, es handle sich um einen kurzen Feldzug. Am Ende wurde er zu einem vierjährigen Krieg mit 17 Millionen Toten, der das Bild militärischer Gewalt für immer und auch das Völkerrecht fundamental veränderte. Man musste die Prämissen internationaler Politik neu denken.