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Geistige Grundlagen des Völkerrechts
ОглавлениеGeistige Grundlage des Völkerrechts in seiner frühen neuzeitlichen Phase war ein verbleibendes Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Westchristenheit gewesen. Trotz aller Differenzen und Gegensätze gab es eine gemeinsame kulturelle Prägung durch den römisch-christlichen Glauben, von dem der Protestantismus mehr Variante als Gegensatz war. Über Jahrhunderte hatten Kaiser und Papst die Idee der Einheit der Welt verkörpert. Diese Idee lebte symbolisch über den Dreissigjährigen Krieg hinaus im weiterhin bestehenden, nun aber entsakralisierten Kaiseramt weiter. Eine verbindende Klammer war auch die lateinische Sprache als Lingua franca der Gelehrten gewesen. Noch die Westfälischen Friedensverträge wurden lateinisch abgefasst. Latein war politisch neutral, da es nicht die Sprache einer Grossmacht war. Wer es benutzte, bewegte sich im geistigen Horizont einer gemeinsamen abendländischen Kultur, als deren Wurzeln, verstärkt durch Renaissance und Humanismus, die griechisch-lateinische Antike verstanden wurde. Auch das Nachwirken der europäisch mittelalterlichen Ritterkultur trug zu einer gewissen Restsolidarität bei, die die Grundlage der westlichen Völkerrechtsgemeinschaft bildete. Ritterlichkeit bedeutete Expertentum für das Kriegshandwerk, auch die Idee vorbildlichen Verhaltens klang an. Einflüsse auf das humanitäre Völkerrecht sind offensichtlich.31 Dem Verbot der Heimtücke etwa, wie wir es heute kennen, statuiert unter anderem in der I. Genfer Konvention von 1949, liegt die ritterliche Idee des fairen Kampfs zugrunde.
Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Vorstellung einer westchristlich-römischen Grundlage des Völkerrechts allmählich durch eine neue verdrängt oder überlagert. Die Vorstellung wurde in Europa zusehends stärker, dass das Völkerrecht das Recht einer Zivilisationsgemeinschaft sei. Es sei das Recht einer Gemeinschaft zivilisierter Staaten, wobei man mit «Zivilisation» vor allem die englische und französische Kultur meinte. Stark vereinfachend kann man sagen: Das Völkerrecht wurde der Idee nach vom Recht der Westchristenheit zum Recht einer Zivilisationsgemeinschaft, die mit der Zeit offener wurde für nichtwestchristliche Staaten, denen man Zivilisiertheit zubilligte. Diese Idee spielte bis ins 20. Jahrhundert, im Grunde bis zum Zweiten Weltkrieg, eine zentrale Rolle.32 Im Statut des 1920 geschaffenen Ständigen Internationalen Gerichtshofs heisst es in Artikel 38 Absatz 1 Ziffer 3 nicht zufällig, dass das Gericht die «von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsprinzipien» als Völkerrecht anwenden wird. Diese Bestimmung ist weitgehend unverändert in das Statut des Internationalen Gerichtshofs, des IGH, übernommen worden. Dem Begriff «zivilisiert» kam in diesem Zusammenhang nie praktische Bedeutung zu. Eine gewisse Symbolik der Formel aber, in der sich ein wichtiger Teil der Geschichte des Völkerrechts spiegelt, blieb.