Читать книгу Völkerrecht - Oliver Diggelmann - Страница 7
ОглавлениеEntstehung und Entwicklung Teil 1
Das Völkerrecht – verstanden als Recht zwischen relativ unabhängigen politischen Einheiten – hat viele Anfänge. Im Süden Mesopotamiens etwa gab es Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus rechtlich geprägte Beziehungen zwischen verschiedenen Stadtstaaten, die man als früheres Völkerrecht bezeichnen kann. Sumerische Städte kooperierten, um sich gemeinsam gegen das Volk Akkad im Norden Mesopotamiens zu verteidigen, schlossen etwa Schiedsverträge und Nichtangriffspakte.1 Auch im chinesischen Kulturraum gab es weit vor der christlichen Zeitrechnung völkerrechtliche Beziehungen in diesem weit verstandenen Sinn, das heisst als rechtlich bindend empfundene Abmachungen zwischen relativ unabhängigen Reichen.
Wenn man den Begriff des Völkerrechts genügend weit fasst, kennt fast jeder Kulturraum ein frühes Völkerrecht. Der in diesem Buch verwendete Begriff ist enger. Als Völkerrecht wird hier das in der frühen Neuzeit ab dem 15. Jahrhundert in Europa entstandene Recht zwischen, vor allem, modernen Territorialstaaten verstanden, von dem das heutige Völkerrecht direkt abstammt.2 Zwischen dem damals entstandenen und dem heutigen Völkerrecht besteht trotz aller Brüche im Prinzip Kontinuität. Im 16. Jahrhundert – genauer: 1576 – wurde das Konzept der Souveränität erfunden. Es wird in der UNO-Charta, mit allen Relativierungen zwar, im ersten ihrer Grundsätze erwähnt. Sie spricht in Artikel 2 Ziffer 1 vom Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten. Der Staatstheoretiker Jean Bodin erfand das Konzept als Antwort auf die Konfessionskriege seiner Zeit, verheerende Kriege, und es veränderte in der Folge das politische und rechtliche Denken grundlegend. Ein vertieftes Verständnis der Hintergründe, Leistungen und Schwächen des Souveränitätsbegriffs ist für das Verständnis des heutigen Völkerrechts fundamental. Natürlich bedeutet der Begriff heute etwas anderes als damals. Er hat in den Ohren vieler etwas Antiquiertes und Rückständiges, und das nicht ohne Grund. Dennoch verdient Hervorhebung, dass man viele Institutionen des heutigen Völkerrechts nur einordnen, ihre Leistungen und Schwächen erst verstehen kann, wenn man sie vor dem Hintergrund ihrer Verwobenheit mit der frühneuzeitlich-europäischen Politikgeschichte betrachtet.
Wer die Geschichte des heutigen Völkerrechts in Europa beginnen lässt, muss mit Fragen oder gar Vorwürfen rechnen. Wäre es nicht wichtig und richtig, würden die höflichen unter den kritischen Stimmen fragen, die vielen Anfänge in den Blick zu nehmen, eine multikulturelle Perspektive zu wählen, da das heutige Völkerrecht doch ein Recht aller Kulturen und Erdteile ist?3 Ist die hier gewählte Perspektive nicht – einmal mehr – Ausdruck der Selbstbezogen- und Borniertheit europäischer Autoren, die die anderen Erdteile mit Ausnahme des nordamerikanischen als Mitläufer betrachten? Die in solchen Fragen formulierte Kritik wäre gerechtfertigt, wenn ich behaupten würde, es habe nur in Europa so etwas wie ein frühes Völkerrecht gegeben und die anderen Anfänge seien völkerrechtshistorisch unbedeutend oder uninteressant. Das liegt mir fern. Ich beginne in der europäischen frühen Neuzeit, weil sowohl die Leistungsfähigkeit als auch die Defizite vieler Institutionen des heutigen Völkerrechts erst hervortreten, wenn man die ihnen zugrunde liegenden politischen Ideen und ihre Hintergründe kennt.4 Der Grundsatz gegenseitiger Nichteinmischung der Staaten in innere Angelegenheiten, der in Artikel 2 Ziffer 7 der UNO-Charta aufgeführt ist und als «Interventionsverbot» bezeichnet wird, steht genealogisch in direktem Zusammenhang mit den konfessionellen Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts. Ein wesentlicher Treiber dieser Bürgerkriege waren Interventionen zugunsten der eigenen Konfessionsangehörigen. Man stand ihnen bei, etwa wenn sie Minderheiten in anderen Staaten waren. Das aus der Souveränitätsidee abgeleitete Interventionsverbot trug unter solchen Vorzeichen zum Frieden bei, weil es Einmischungen Grenzen setzte. Es wird heute oft kritisiert, durchaus mit vielen guten Gründen. Dies geschieht vor allem, weil es etwa von Diktatoren und Autokraten zur Abwehr von Kritik an Menschenrechtsverletzungen verwendet wird. Das Wissen um die Herkunft des Prinzips lässt uns aber wichtige Fragen stellen, etwa die sehr heikle, wann Einmischungen im Ergebnis mehr Schaden anrichten als helfen. Wie weit sind Erfahrungen, die zur Entstehung des Interventionsverbots geführt haben, für die Gegenwart von Belang? Ist in dem Prinzip mehr historische Erfahrung eingelagert, als sein heute schlechter Klang vermuten lässt? Eine rein menschenrechtlich-zeitgenössische Optik, die zwar wichtig, aber nicht die einzige ist, nähert sich diesem schwierigen Fragenkomplex zu eindimensional an.